Nr. 4 (2025)
DOI: 10.5282/o-bib/6216

Inspirierende Bibliotheksbauten im Ostseeraum

Eine Exkursion der Baukommission nach Finnland und ins Baltikum (26.4.‒1.5.2025)

Getreu dem Augustinus zugeschriebenen Aphorismus „Die Welt ist ein Buch, und diejenigen, die nicht reisen, lesen nur eine Seite“ setzte die Baukommission ihre erfolgreiche Reihe von Bibliotheksbesichtigungen im In- und Ausland fort. Im Frühjahr 2025 machten sich insgesamt 34 Bibliothekar*innen und Interessierte aus ganz Deutschland auf den Weg ins Baltikum. Auf dieser bisher ambitioniertesten Reise der Kommission, die in Kooperation mit dem VDB-Regionalverband Sachsen – Sachsen-Anhalt – Thüringen geplant und durchgeführt wurde, ging es zunächst nach Finnland und von dort aus weiter nach Estland und Lettland. In vier Tagen besuchten wir in diesen drei Staaten neun Bibliotheken und legten über 400 Streckenkilometer zurück. Wir besichtigten interessante und inspirierende Bibliotheken im Spektrum von kleiner öffentlicher Bücherei bis zur Nationalbibliothek und setzten uns mit den Räumen und den dahinterliegenden Konzeptionen auseinander. Dabei begegnete uns immer wieder die Frage, wie sich Bibliotheken verändernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen stellen und Community Spaces schaffen.

1. Helsinki: Kaisa House

Das Bild zeigt den Blick aus einem Lesesaal im Kaisa House Helsinki in Richtung des Dachfensters.
Abb. 1: Lesesäle im Kaisa House (Foto: Baukommission)

Mit Rücksicht darauf, dass bis zum entsprechenden Zeitpunkt noch nicht alle Teilnehmer*innen der Exkursion anreisen konnten, begann das Besichtigungsprogramm am Samstag, den 26.04.2025, nachmittags mit einer alten Bekannten, dem „Kaisa House“ der 2012 eröffneten Zentralbibliothek der Universität Helsinki für geistes- und sozialwissenschaftliche Fächer. Die Bibliothek mit der interessanten Fassade wellenförmiger Glasbänder liegt nahe dem Hauptbahnhof an einer verkehrsreichen Straßenbiegung in einem etwas gesichtslosen Quartiersblock. Von Anfang an bestand der Anspruch darin, einen „living room“ für die Studierenden mit Raumangeboten für ganz unterschiedliche Studiertypen zu schaffen. Das war für deutsche Verhältnisse im Jahr 2012 neu: Gruppenarbeitsräume bzw. mehr interaktiv nutzbare Flächen fanden damals zwar alle wichtig, aber wohnzimmerartige Lounge-Zonen waren noch nicht verbreitet. Mit dem Abstand von 13 Jahren war es interessant zu sehen, wie sich das Konzept zwischenzeitlich bewährt und die Ausstattung erhalten hat. Die akustische Zonierung, für die damals ein vorbildlicher Aufwand betrieben wurde, funktioniert immer noch. Die Arbeitsplätze rund um die charakteristischen elliptischen Gebäudeausschnitte mit viel Tageslichteinfall sind weiterhin attraktiv – nur eben aus heutiger Sicht nichts Besonderes mehr.

Ein junger Mann sitzt entspannt vor einem großen runden Fenster im Loungebereich des Lesesaals des Kaisa House Helsinki.
Abb. 2: Einer der Loungebereiche im Kaisa House (Foto: Baukommission)

Im Foyer fiel der Blick auf etwas, das im Zuge der Exkursion auch in anderen wissenschaftlichen Bibliotheken zu besichtigen war: Ein 1.000-Teile-Puzzle als Angebot zur analogen Entspannung. Eigentlich eine einfache Idee für „digital detox“, die sich leicht umsetzen lässt, und die Teilnehmer*innen der Exkursion fingen auch gleich an, selbst an dem halbfertigen Bild weiter zu puzzeln.

2. Helsinki: Oodi

Am ersten offiziellen Exkursionstag, dem 27.04.2025, erwartete uns mit der Stadtbibliothek von Helsinki dann direkt ein besonderes Highlight. Die Erwartungen an eine Bibliothek, die seit ihrer Eröffnung im Jahr 2018 täglich über 200.000 Menschen anzieht, waren entsprechend hoch. Die zentrale Frage war: Was ist das Geheimnis dieser modernen Kulturpilgerstätte?

Auf dem Bild ist der Außenbereich vor dem Eingang der Oodi-Bibliothek mit dem auffälligen, weit auskragenden Dach zu sehen. Vier Menschen laufen auf die Eingangstür zu.
Abb. 3: Eine Bibliothek wie eine Brücke: Oodi (Foto: Baukommission)

Die signifikante Anziehungskraft dieses Gebäudes ist dabei in erster Linie auf einen über Jahre hinweg durchdachten partizipativen Planungsprozess zurückzuführen. Dieser vollzog sich in einem wirksamen Zusammenspiel zwischen Politik, den Planer*innen und den Bürger*innen der finnischen Hauptstadt. Der Name Oodi, der auf Deutsch „Ode“ bedeutet, entstammt ebenfalls diesem Beteiligungsverfahren. Die Wahl des prominenten Standorts auf dem Kansalaistori-Platz, gleich gegenüber dem finnischen Parlament und in unmittelbarer Nähe des von Alvar Aalto geplanten Kongresszentrums Finlandia, unterstreicht das Konzept einer Bibliothek, die für alle und ganz unterschiedliche Bedürfnisse offensteht. Die Zielgruppen reichen von den Mitgliedern des örtlichen Schachclubs über EU-Informationsstellen und Initiativen der Zivilgesellschaft bis hin zur gewöhnlichen Bibliothekskundschaft.

Das ortsansässige Architekturbüro ALA Architects fasste das aufwendige Raumkonzept in drei Bereiche zusammen, die sich über drei Geschossebenen verteilen. Die hundert Meter lange und 10 m breite Eingangsebene fungiert als eine öffentliche, nicht kommerzielle „Indoor Plaza“ und bietet Platz für Veranstaltungen, Jugendtreff, Gastronomie sowie für ein Kino. Der stützenfreie Raum mit einem System aus Schiebewänden ermöglicht eine flexible Umgestaltung der Veranstaltungs- und Begegnungsflächen.

Das Zwischengeschoss ist als urbaner Co-Working-Space konzipiert. Hier kann im Werkstattbereich gearbeitet, gestaltet und ausprobiert werden: In den Kreativlaboren stehen Nähmaschinen, 3D-Drucker, Plotter und Computerspiele zur Verfügung. Podcast- und Musikstudios sowie Meetingräume ergänzen das vielfältige Angebot. Gestalterisch bewirken die fensterlosen Wände eine nach innen gerichtete Kommunikation. Die beiden durch die Mitte verlaufenden Bogensegmente geben Auskunft über das Haupttragwerk des Gebäudes: Es ist eine Brückenkonstruktion, da an der Stelle keine tiefen Fundamente gelegt werden konnten. Wenn man dieses Hintergrundwissen hat, stört die eher gedrungene Raumatmosphäre weniger.

Die eigentliche Bibliothek befindet sich im obersten Geschoss des Neubaus. Hier sind die Freihandbestände mit etwa 100.000 Medieneinheiten untergebracht und es wird Platz für verschiedene Lern- und Aufenthaltsmöglichkeiten geboten. Es ist gewissermaßen das „Schaufenster“ der Zentralbibliothek, da das gesamte Geschoss ein reiner Publikumsbereich ist. Die luftige, lichtdurchflutete Atmosphäre dieses „Bücherhimmels" wird durch eine „Wolkendecke" simuliert, in der die Oberlichter integriert sind. Darüber hinaus trägt sie zur Optimierung der Raumakustik bei, so dass die rege Bespielung durch zahlreiche kleine Besucher*innen im liebevoll und kreativ gestalteten Kinderbereich überhaupt nicht stört. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass jedes Detail dieses Gebäudes mit großer Sorgfalt geplant wurde.

Wie eine Spirale zieht sich die Innentreppe der Oodi-Bibliothek nach oben. Auf den schwarzen Wänden sind Aufschriften in Weiß zu sehen.
Abb. 4: Spiraltreppe: Für wen ist die Bibliothek da? (Foto: Baukommission)
Im Kinderbereich der Oodi-Bibliothek spielen im Vordergrund des Bildes Familien auf einem Teppich. Im Hintergrund erstreckt sich der Bereich des sogenannten "Bücherhimmels".
Abb. 5: Bücherhimmel mit Kinderbereich (Foto: Baukommission)

Das Projekt zeigt eindrucksvoll, wie durch eine gelungene Partizipation und anspruchsvolle Architektur ein Ort für alle entstehen kann.

Das Bild zeigt im Vordergrund den Lesebereich im Obergeschoss der Oodi-Bibliothek. Durch die große Glasfassade geht der Blick nach außen auf den Bürgerplatz von Helsinki.
Abb. 6: Blick auf den Kansalaistori / Bürgerplatz von Helsinki aus der Oodi-Bibliothek (Foto: Baukommission)

Am Nachmittag verließ unsere Exkursionsgruppe Helsinki und reiste per Schiff über den Finnischen Meerbusen in die estnische Hauptstadt Tallinn, wo wir am Abend eintrafen.

3. Tallinn: Estnische Nationalbibliothek

In Tallinn hatten wir zunächst die Gelegenheit, das derzeit für die Öffentlichkeit geschlossene, in Umbau befindliche Hauptgebäude der Nationalbibliothek auf dem Tõnismägi am Rande der Altstadt zu besuchen. Zum Zeitpunkt unserer Besichtigung waren die Bestände noch überwiegend an einen Ausweichstandort ausgelagert, hier und da wurde noch gestrichen und die Reinigungsarbeiten waren in vollem Gange. Geplant war die Neueröffnung ursprünglich für Frühjahr 2025, doch die Bauarbeiten hatten sich verzögert, nicht zuletzt, weil Mittel für die neue Inneneinrichtung noch nicht freigegeben waren. Die für die Renovierung bereitgestellten 28 Millionen Euro bedeuten für den knapp bemessenen estnischen Staatshaushalt eine erhebliche Investition im Bildungs- und Kulturbereich.

Auf der Abbildung ist der Eingangsbereich der Nationalbibliothek Tallinn mit einem geschwungenen Türbereich zu sehen. Links führt eine große Treppe nach oben.
Abb. 7: Nationalbibliothek Tallinn (Foto: Baukommission)

Ziel der grundlegenden Sanierung des gegen Ende der Sowjet-Ära erbauten, 1993 eröffneten Gebäudes ist die Anpassung der Baustruktur an Nutzungsbedürfnisse des 21. Jahrhunderts. Entstehen soll in dem unter Denkmalschutz stehenden Gebäude der Nationalbibliothek, wie uns Kommunikationsdirektor Margus erläuterte, ein neuer Raum für die zentralen Gedächtnisinstitutionen des Landes, Bibliothek und Archiv – ein integriertes Bildungs- und Kulturzentrum, das niedrigschwellig für alle Interessierten zugänglich ist und dessen Raumstruktur möglichst passgenau auf neue Dienstleistungen zugeschnitten sein soll. Ein Raum, in dem man sich gerne aufhalte, der aber im Unterschied zu früher deutlich mehr Fläche für Kommunikation und Interaktion bereitstellt, mit großzügigen Öffnungszeiten, Veranstaltungsflächen und Gastronomie in einem weitläufigen Atrium. Der Ort, an dem wir inmitten der Baustelle die Führung begannen, hätte symbolträchtiger nicht sein können: Dort stand einst eine Drehschranke, die nur berechtigten Nutzer*innen Zugang gewährte.

In Zusammenarbeit mit dem Nationalarchiv und auf Grundlage von Nutzenden- und Beschäftigtenbefragungen wurden Räume geschaffen, die den sich wandelnden Kommunikations-, Arbeits- und Lernformen im digitalen wie analogen Bereich Rechnung tragen sollen. Vor dem Hintergrund der klassischen Fokussierung vieler Nationalbibliotheken auf Bestandsaufbau und Bewahrung des kulturellen Erbes, die sich nicht selten mit relativ hohen Zugangshürden verbindet, überraschte uns vor allem die mit der neuen Strategie verbundene Fortentwicklung der Bibliothek hin zu einem offenen Raum mit Angeboten für eine breite Zielgruppe. Zwar bildet die Bewahrung des kulturellen, insbesondere estnischen Erbes weiterhin eine Säule des institutionellen Profils; zugleich sollen unter Einbeziehung von Kooperationspartnern aus dem außerbibliothekarischen Bereich Community Spaces entstehen, in denen lebendiger gesellschaftlicher Austausch, kulturelle Veranstaltungen, lebenslanges Lernen und die Vermittlung von Informations- und Medienkompetenz im digitalen Umfeld möglich sind. Die ehemals thematisch zugeordneten Lesesäle werden in diesem Zusammenhang in ein Raumkonzept transferiert, das konsequent mit Zonierungen arbeitet und auf diese Weise Räume für unterschiedliche Bedürfnisse schafft. Neben klassischen Lesesälen entstehen Räume für Einzelarbeit und Gruppenarbeit, Kreativbereiche und Datenlabore sowie Veranstaltungs- und Arbeitsräume, die mit moderner Audio- und Videotechnologie ausgestattet sein sollen.

Die Abbildung zeigt den Eingangsbereich der estnischen Nationalbibliothek aus dem Obergeschoss. Es sind mehrere Treppen sowie ein rundes, buntes Glasfenster zu sehen.
Abb. 8: Treppenhaus in der Estnischen Nationalbibliothek (Foto: Baukommission)

Da die Etagen noch nicht neu möbliert waren, erforderte es einiges an Fantasie, sich auszumalen, wie die Nationalbibliothek nach ihrer Wiedereröffnung wohl aussehen wird. Wir wurden jedoch vor unserem Abschied herzlich eingeladen, zurückzukehren und über den Erfolg des Projekts einer „Open Library“ in einer Nationalbibliothek erneut ins Gespräch zu kommen.

4. Tallinn: TalTech

Als nächstes stand die Zentralbibliothek der technischen Hochschule TalTech auf dem Besichtigungsprogramm. Estland präsentiert sich gern innovativ und digital, als europäisches Silicon Valley, das seine renommierte Technische Hochschule in Tallinn fördert und ausbaut. So erhielt das TalTech in den vergangenen Jahren etliche Neubauten auf dem Campus, darunter 2009 ein neues Bibliotheksgebäude, entworfen vom estnischen Architekturbüro Agabus, Endjärv & Truverk Arhitektid. Das mehrfach ausgezeichnete Gebäude wirkt von außen zunächst wie ein abweisender grauer Schuhkarton. Erst bei näherem Hinsehen erschließt sich die Fassadengestaltung: Es handelt sich um eine mit Holzmaserungen bedruckte Textilbespannung, die von innen sehr durchsichtig, von außen eher abschirmend wirkt. Das organisch inspirierte Design setzt sich im Innenraum fort. Hier überrascht das Gebäude mit viel Licht und frischem Grün. Blattadern und -strukturen zeigen sich in der Musterung von Wänden, Teppichen, Glastüren und Theken. Die Bibliothek gruppiert sich in vier Geschossen um ein luftiges Atrium, auf das offene Galerien immer wieder spektakuläre Ansichten bieten.

Die Abbildung zeigt den Eingangsbereich der estnischen Nationalbibliothek aus dem Obergeschoss. Es sind mehrere Treppen sowie ein rundes, buntes Glasfenster zu sehen.
Abb. 9: Das Atrium der TalTech-Bibliothek (Foto: Baukommission)

Der Benutzungsbereich für 500 Personen zeigt sich eher klassisch, aber stilvoll möbliert mit Stillarbeitszonen zwischen großen Regalbereichen, einzelnen Sessel- und Sofagruppen, gut genutzten Telefonboxen als Rückzugsorten sowie Einzelkabinen und Gruppenräumen. Uns als Besucher*innen aus Deutschland beeindruckte zusätzlich der moderne Beschäftigtenbereich mit eigener Sauna.

Fünfzehn Jahre nach Einzug steht aber auch die Zentralbibliothek des TalTech vor der Herausforderung, den Bibliotheksraum im digitalen Zeitalter neu zu erfinden. Das eher bestandsorientierte Nutzungskonzept ist in die Jahre gekommen, die Besuchszahlen gehen schleichend zurück. Im Anschluss an die Führung präsentierte Bibliotheksdirektor Tõnis Liibek daher umfangreiche Umbaupläne, um nicht mehr benötigte Regalfläche einer neuen Nutzung zuzuführen. So soll ein Galeriebereich über eine neue Treppe erschlossen und zugänglich sein. Hier sollen neue Co-Working-Flächen mit flexibler und alternativer Möblierung entstehen. Auch ein großer neuer Seminarraum sowie Räume zur Nutzung von Virtual Reality sind geplant, um den Lernort zu stärken und wieder vermehrt Studierende in die Räume zu bringen. Die Bibliothek soll zu einem „intellektuellen Wohnzimmer“ werden, in dem Online-Nutzung im Mittelpunkt des Lernens und Arbeitens steht und die gedruckten Medien dagegen hauptsächlich für das Ambiente vorhanden sind.

Die Abbildung zeigt zwei Etagen der Lesesäle in der TalTech-Bbliothek.  Es sind Bücherregale und Arbeitsplätze zu sehen. Die vorherrschende Farbe ist grün.
Abb. 10: Lesesäle in der TalTech-Bibliothek (Foto: Baukommission)

5. Tallinn: Stadtbibliothek Viimsi

Nach dem Besuch der Hochschule widmeten wir uns am Nachmittag einer öffentlichen Bücherei und fuhren dafür per Stadtbus in den Vorort Viimsi.

„Eine Bibliothek muss dort sein, wo Menschen hingehen“, so könnte das Motto dieser Bibliothek sein. Sie hat in den über einhundert Jahren seit ihrer Gründung im Jahr 1920 schon eine ganze Reihe von Veränderungen erlebt. Mit den 2019 in einem Einkaufszentrum bezogenen Räumlichkeiten werden dabei völlig neue Wege beschritten. Der Gedanke hinter einem Standort in einem Geschäftsgebäude war, die Bibliothek zu einem bürger*innennahen und attraktiven Ort für lebenslanges Lernen zu machen und sie zu einem vielseitigen kulturellen Zentrum zu entwickeln. Dieses Konzept wurde von den estnischen Architekturbüros DokoInterior, Bob und Agabus Arhitektid umgesetzt und 2020 für den Estonian Architecture Award der Estonian Association of Interior Architects nominiert. In ihrer guten Lage in der relativ wohlhabenden Gemeinde stellt die Bibliothek inzwischen einen beliebten öffentlichen Stadtraum dar.

Das Bild zeigt die Inneneinrichtung der Stadtbibliothek Viimsi. Man sieht eine Reihe von weißen Regalen mit Büchern und die Decken- und Wändekonstruktion aus Metallstreben.
Abb. 11: Wohnzimmeratmosphäre in einem Zweckbau: Stadtbibliothek Viimsi (Foto: Baukommission)

Die Gesamtfläche der Bibliothek beträgt fast 2.400 m². Alle Medien sind in Freihand aufgestellt. Eine Vielzahl unterschiedlicher Lese- und Arbeitsplätze, von Sesseln bis zu akustikgedämmten Kabinen, lädt zum Verweilen ein. Das Buch-Thema wird in der Wandgestaltung konsequent verfolgt, für Wohnlichkeit sorgen neben Teppichen und Sichtverbindungen die Verwendung von Holz und vor allem viel Grün. Die fast 200 Pflanzen werden von einer professionellen Gärtnerin gepflegt und tragen zu einer entspannten, einladenden Atmosphäre bei, die die Besucher*innen vergessen lässt, dass sie sich in einem Einkaufszentrum befinden.

Im Foyer stehen der Bibliothek 1.770 m² zur Verfügung, darunter ein Saal mit 100 Plätzen für Veranstaltungen. Ein umfangreiches kulturelles Programm an Ausstellungen, Vorträgen und Lesungen etabliert die Bibliothek als kulturelles Zentrum von Viimsi. Ein Video- und ein Tonstudio ergänzen das räumliche Angebot der Bibliothek. Im 1. Stock gibt es weitere knapp 600 m² für einen kreativ gestalteten Kinder- und Jugendbereich, zudem einen Durchgang zu einem städtischen Jugendclub. Zukünftig soll die Zusammenarbeit zwischen Bibliothek und Club noch weiter ausgebaut werden. Überhaupt legt die neue Leiterin Katre Riisalu einen verstärkten Fokus auf die Arbeit mit Kindern, u. a. durch Kooperationen mit benachbarten Schulen. Professionalität ist ihren Mitarbeiter*innen und ihr wichtig. So werden an der Theke und in der Informationsvermittlung nur ausgebildete Bibliothekar*innen eingesetzt.

Ein bunter Kinderbereich mit Sitzkissen und einem geschwungenen, halbhohen Regal in  der Stadtbibliothek Viimsi.
Abb. 12: Kinderbereich der Stadtbibliotheki Viimsi (Foto: Baukommission)

6. Pärnu: Stadtbibliothek

Nach einer Besichtigung der Tallinner Altstadt brachen wir nachmittags in einem Reisebus nach Lettland auf. Auf dem Weg pausierten wir in der Hafenstadt Pärnu im Westen von Estland. Die Stadtbibliothek befindet sich dort an einem zentralen Platz neben einem Theatergebäude aus den 1960er Jahren und der Stadtbefestigung aus dem 17. Jahrhundert. Pärnu wurde im Zweiten Weltkrieg stark zerstört und ist bis heute durch eine große Zahl von Bauten aus der Sowjetzeit gekennzeichnet. Das Gebäude der Zentralbibliothek steht auf der Stelle einer mittelalterlichen Burg, deren Mauerverläufe teilweise auf dem Boden vor dem Eingang der Bibliothek erkennbar sind. Die Bibliothek wurde von 3+1 Arhitektid konzipiert und 2008 weitgehend fertiggestellt. Der Entwurf gewann im Jahr 2008 den Architekturpreis der Estnischen Kulturstiftung.

Das Bibliotheksgebäude zeichnet sich durch die Verwendung großer Fenster- und Glasflächen aus. Die Idee dahinter war, durch die Transparenz die Verbundenheit mit der umgebenden Stadt spürbar zu machen und der Umgebung eine visuelle Kontinuität im Inneren zu geben. Im Winter bietet die hell erleuchtete Bibliothek damit einen Anziehungspunkt in der Dunkelheit. Das Gebäude ist vollklimatisiert, was bei der Anzahl der Glasflächen eine unabdingbare Notwendigkeit ist. Neben Lesebereichen verfügt die Bibliothek über Konferenzräume, Ausstellungsflächen und einen Veranstaltungssaal. Auch dieser ist rundherum verglast, kann aber mithilfe von Vorhängen und Jalousien in einen abgeschlossenen und abgedunkelten Raum verändert werden. Hier finden Konzerte, Filmvorführungen, Vorträge und Kinderveranstaltungen statt. Ein Webteppich an der Wand entstand in einem spannenden Projekt: Während der Bauphase der Bibliothek wanderte ein Webstuhl über verschiedene Stationen durch die Stadt und Bürger*innen konnten mit-webend das zukünftige Kunstwerk für die neue Bibliothek mitgestalten. Mit überschaubarem Aufwand und Kosten verbunden entstand so ein kollektives Objekt, das durch die Verwendung von Naturmaterialien wie Wolle und Holz die estnische Volkskunst referenziert.

Die Abbildung zeigt die Stadtbibliothek Pärnu mit einem kleinen Denkmal vor dem Eingang und der Spiegelung des Stadtraums in der Glasfassade.
Abb. 13: Verbunden mit der Stadtumgebung: Stadtbibliothek Pärnu (Foto: Baukommission)

Die Etagen der Bibliothek mit Lese- und Medienbereichen folgen einem Farbkonzept: Die erste Etage ist in Rot, die zweite in Grün und der dritte Stock mit dem Kinder- und Jugendbereich in Blau gestaltet. Letzteren hat die Bibliothek kürzlich etwas verändert und durch eine neue Regalaufstellung mehr Rückzugsmöglichkeiten geschaffen, wodurch sich die Beliebtheit des Angebotes noch erhöht hat. Hier finden sich auch Gruppentische z. B. für Sprachunterricht. Viele Pflanzen sorgen für Frische und Behaglichkeit, sie werden von den Bibliotheksbeschäftigten gepflegt.

7. Riga: House of Science und House of Nature

Am letzten Besichtigungstag der Reise stand zunächst der neue Universitätscampus in Riga auf dem Programm, der sich noch in Planung befindet und über zwei bereits fertiggestellte Bauwerke verfügt: Das House of Science und das House of Nature. Bei der Planung beider Gebäude wurde das Konzept verfolgt, moderne und offene Lern- und Lehrorte zu schaffen, die beste Bedingungen für Studierende der Natur- und Lebenswissenschaften bieten.

Die Abbildung zeigt die Stadtbibliothek Pärnu mit einem kleinen Denkmal vor dem Eingang und der Spiegelung des Stadtraums in der Glasfassade.
Abb. 14: Bibliotheken auf dem Campus der Universität Riga. Links House of Science, rechts House of Nature (Foto: Baukommission)

Das Raumprogramm vereint Hörsäle, Labore, Seminarräume und Büros für mehrere hundert Studierende und Hochschulangehörige unter einem Dach. Es bietet damit einen eigenen Kosmos, der auf die Bedürfnisse der jeweiligen Fächer abgestimmt ist.

In beiden Gebäuden ist je eine Bibliothek integriert, die als Außenstellen der Universitätsbibliothek Riga rund um die Uhr moderne Lern- und Begegnungsräume zur Verfügung stellen. Die Bibliotheksflächen sind dabei ohne Türen oder sonstige Abgrenzungen in die Gebäude eingelassen, so dass Studierende ohne Hürde aus Fluren und sonstigen Aufenthaltsbereichen wie z. B. der Cafeteria in die Bibliothek hinüberwechseln können. Im House of Science betreibt beispielsweise die Bibliothek eine Selbstbedienungscomputerwand, an der Studierende mit ihrem Studierendenausweis zu jeder Tageszeit Laptops für Studienzwecke nutzen können. Während an vielen Universitäten eine Zentralisierung von Bibliotheken angestrebt wird, sind diese hier bewusst in die Institutsgebäude integriert.

Architektonisch ist überraschend spürbar, dass das House of Nature bereits 2015 eröffnet wurde, während das House of Science vier Jahre jünger ist (Eröffnung 2019). Bei Letzterem wurde die Idee eines integrierten, auf die Kommunikation ausgelegten Gebäudes insbesondere in räumlicher Hinsicht weiterentwickelt. Während die räumliche Organisation beim Betreten des House of Nature nicht auf einen Blick zu erfassen ist, öffnet sich der Raum im House of Science ab der ersten Etage vollkommen. Hier befindet sich der zentrale Lichthof mit einer großen Sitztreppe und offenen Balustraden ringsum als zentraler Veranstaltungs- und Begegnungsort. Mit seiner lichten, kreativitätsfördernden Architektur stellt das House of Science ein Beispiel für hervorragende universitäre Architektur dar.

Die Abbildung zeigt das Atrium im House of Science der Universität Riga. Durch den Raum und über die weißen Treppen ziehen sich orangefarbene Wimpelketten.
Abb. 15: Geschmückt zu Semesterende: Studierende haben sich den Raum des House of Science zu eigen gemacht (Foto: Baukommission)

Im House of Nature überraschen dagegen die verwendeten Materialien, die mit viel Holz und Wollstoffen möglichst naturnah ausgewählt wurden. Besonders auffallend sind Hängesessel aus Lava-Gestein und Sitzbänke aus grünem Glas. Überhaupt ist das naturfreundliche und energieeffiziente Bauen ein weiteres Bindeglied zwischen beiden Gebäuden. Sichtbar wird das vor allem an der Doppelfassade des House of Nature, auf der Doppelhelices zu erkennen sind, die als Rankhilfen für Kletterpflanzen dienen. Auch im Inneren der beiden Häuser finden sich viele weitere Pflanzen. Das House of Science verfügt zudem über ein vollautomatisiertes Haustechniksystem. Weitere „Wissenschaftshäuser“ sind in Planung, das House of Letters für Geisteswissenschaften ist bereits im Bau. Man darf also gespannt sein!

Das Bild zeigt zwei Hängesessel aus einem dunklen Material vor einer Fensterfront mit Blick auf eine Straße.
Abb. 16: House of Nature Riga: Hängesessel aus Lava-Gestein (Foto: Baukommission)
Es sind zwei grüne Sitzbänke zu sehen. Sie stehen vor acht Säulen aus grünlichem Glas und einer Wand, auf der sich Zeichnungen von Helixstrukturen befinden.
Abb. 17: House of Nature Riga: Sitzbänke aus Glas (Foto: Baukommission)

8. Riga: Lettische Nationalbibliothek

Ein weiterer Höhepunkt unserer Reise durch das Baltikum war zweifelsohne der anschließende Besuch der Lettischen Nationalbibliothek in Riga, ein monumentales Gebäude, das weit über seine Funktion als Wissensspeicher hinausweist. Seit ihrer Eröffnung im Jahr 2014 zieht sie nicht nur Bibliotheksnutzer*innen, sondern auch Architekturliebhaber*innen und politisch interessierte Gäste an. Die Frage, die uns hier begleitete: Wie gelingt es einem Nationalbauwerk, nationale Identität, Erinnerungskultur und zeitgemäße Bibliotheksnutzung in einem stimmigen Raumkonzept zu vereinen?

Die Antwort beginnt mit dem Architekten. Gunnar Birkerts, ein in den USA tätiger lettischer Emigrant, konzipierte das Gebäude als „Lichtschloss“, eine bildhafte Metapher, die auf das gleichnamige Gedicht des lettischen Schriftstellers Rainis verweist. In der kristallin wirkenden Silhouette spiegelt sich die Idee eines Leuchtturms des Wissens, stellt zugleich aber auch ein Mahnmal für die gebrochene Geschichte Lettlands dar. Schon aus der Ferne sichtbar, erhebt sich die Bibliothek am Südufer der Düna gegenüber der Altstadt – eine bewusste Positionierung im Stadtraum, die Vergangenheit und Zukunft visuell verbindet.

Die Abbildung zeigt das imposante Gebäude der lettischen Nationalbibliothek. Im Vordergrund befindet sich der Fluß Düna.
Abb. 18: Die Lettische Nationalbibliothek am Fluss Düna (Foto: Baukommission)

Beim Betreten des Gebäudes öffnet sich ein imposanter Innenraum, dominiert von klaren Linien, Glas, Licht und Sichtbeton. Besonders eindrucksvoll ist die großzügige Hauptlobby, deren vertikale Weite und Transparenz nahezu sakrale Raumwirkung entfaltet. Die Blickachsen führen automatisch auf das Herzstück der Bibliothek, auf das sogenannte „Bücherregal des Volkes“. Dieses über vier Geschosse reichende Regal beherbergt tausende Bücher, die Bürger*innen im Rahmen einer symbolischen Rückgabeaktion in die neue Nationalbibliothek getragen haben. Auch Gäste aus dem Ausland sind eingeladen, ein Buch für das Bücherregal zu spenden. Es steht damit nicht nur für kollektives Wissen, sondern auch für eine Rückeroberung kultureller Identität nach Jahrzehnten der Okkupation.

Auf dem Bild ist ein großes Bücherregal zu sehen, welches sich über drei Stockwerke in der Nationalbibliothek Riga erstreckt.
Abb. 19: Das Bücherregal des Volkes in der lettischen Nationalbibliothek (Foto: Baukommission)

Die Nationalbibliothek fungiert nicht ausschließlich als klassischer Bücherspeicher, sondern als Ort des kulturellen Gedächtnisses. In ihrer inneren Struktur sind die Spuren der lettischen Geschichte ebenso präsent wie ihre Ambitionen für die Zukunft. Neben Lese- und Forschungsbereichen, Veranstaltungsräumen und digitalen Medienzentren beherbergt das Gebäude auch das Zentrum für das Nationale Digitale Erbe sowie temporäre Ausstellungen, die sich kritisch mit der sowjetischen Besatzung und der Unabhängigkeitsbewegung auseinandersetzen.

Die Raumaufteilung folgt einem durchdachten dramaturgischen Konzept. Von der offenen Erdgeschosszone mit öffentlicher Zugänglichkeit entwickelt sich die Bibliothek auf etwa 40.000 Quadratmetern geschossweise hin zu ruhigeren, konzentrierten Arbeits- und Archivbereichen mit zahlreichen Sondernutzungsräumen, Speziallesesälen und Sammlungen und bietet damit unterschiedlichste Plätze für etwa 1.000 Besucher*innen. Großzügige Treppenläufe und Sitzlandschaften fördern sowohl Begegnung als auch Rückzug. So wurden bewusst Erholungszonen mit einem offenen Blick auf das gegenüberliegende Stadtzentrum eingerichtet. Die visuelle Verbindung zwischen Innen und Außen durch große Glasflächen und bewusst gesetzte Sichtachsen auf die Altstadt unterstützt das Leitmotiv der Transparenz und Offenheit, das uns durch die ganze Reise hindurch begleitete.

In ihrer architektonischen Sprache erzählt die Lettische Nationalbibliothek nicht nur von der Liebe zur Literatur, sondern auch vom Ringen um Selbstbestimmung und kulturelle Resilienz. Sie ist ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie nationale Bibliotheksbauten als gesellschaftlich relevante Räume fungieren können, als Orte des Erinnerns, des Lernens und der offenen Zukunftsgestaltung.

Die lettische Nationalbibliothek bildete den würdigen Schlusspunkt einer insgesamt sehr gelungenen und an Eindrücken reichen Reise. Das Fazit der Teilnehmer*innen war uneingeschränkt positiv: „Was für eine schöne und bereichernde Exkursion!“, „Ich nehme viele tolle Ideen mit und bin dankbar für die freundlichen neuen Begegnungen und Horizont erweiternden Gespräche, Führungen und Vorträge“.

Das Bild zeigt die Reisegruppe der Exkursion vor blauem Himmel und dem Schriftzug "Helsinki".
Abb. 20: Die Reisegruppe (Foto: Baukommission)

In einer anschließenden Auswertung, die die Baukommission durchführte, äußerten 20 von 20 Befragten, dass die Eindrücke der Exkursion für ihre fachliche Arbeit gewinnbringend für sie gewesen seien und sie daher auf jeden Fall bei einer ähnlichen Exkursion wieder teilnehmen würden. Dies legt natürlich den Maßstab für weitere Reisen hoch, aber die nächsten Ziele sind schon ins Auge gefasst.

Lena Berg, Universitätsbibliothek der Ludwig-Maximilians-Universität München, https://orcid.org/0000-0003-0012-4591
Silke Berndsen, Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt , https://orcid.org/0009-0002-1113-0962
Vanja Juric, Universitätsbibliothek Kassel – Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel
Tatjana Mrowka, Universitäts- und Stadtbibliothek Köln , https://orcid.org/0000-0002-9976-9383
Alice Rabeler, Universitäts- und Landesbibliothek Bonn , https://orcid.org/0000-0001-7896-6225
Ilona Rohde, Universitätsbibliothek der Philipps-Universität Marburg, https://orcid.org/0000-0002-8978-482X

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