Der Andrang ist hoch an der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen (SUB Göttingen). Die Besucher*innen sind bunt und vielfältig, und nehmen den Service sichtlich gut an. Allerdings erfasst kein elektronisches Personenzählsystem die Nutzung, weil das Angebot nicht innerhalb der SUB Göttingen, sondern außerhalb liegt und die Zielgruppe sechs Beine und Flügel besitzt: Im Frühjahr 2024 wurden etwa 50 m² der Rasenfläche vor der großen wissenschaftlichen Bibliothek zu einem hitzeverträglichen Staudenbeet umgewandelt, um verschiedenen Wildbienen, Hummeln, Schmetterlingen und weiteren blütensuchenden Insekten Nahrung und Schutz, v. a. in der dunklen Jahreszeit, zu bieten. Beobachtet werden die neuen Besucher*innen von Studierenden, die sich nun häufiger auf der Grünfläche vor der Bibliothek aufhalten, und den Mitgliedern der AG Nachhaltigkeit, die sich zum „Jäten und Jausen“ in ihrer „Grünen Pause” am neu angelegten Staudenbeet treffen.
Die vielen insektenfreundlichen Stauden, die alle gut mit wenig Niederschlag zurechtkommen und damit gewappnet sind für die niederschlagsärmeren Sommer der Zukunft, sind nicht nur eine ökologische, sondern auch eine ästhetische Aufwertung der monotonen Fläche vor dem großen Zentralbau der SUB Göttingen: Verschiedene Skabiosen- und Flockenblumenarten, Katzenminze, Eisenkraut und mehr1 bringen Farbtupfer in das Grün und locken viele unterschiedliche Arten von bestäubenden Insekten an.
Im Folgenden wird anhand der Insektenweide, die das derzeit größte und umfangreichste von mehreren bereits umgesetzten Nachhaltigkeitsprojekten der SUB Göttingen ist, beleuchtet, wie eine große wissenschaftliche Bibliothek sich auf den Weg zu mehr Nachhaltigkeit macht, aber auch, welche Probleme und Widrigkeiten sich hierbei ergeben.
Die Ursprünge der Leitlinie liegen in der Gründung einer Arbeitsgemeinschaft Nachhaltigkeit (AG NH) unter der damaligen Leitung von Michael Czolkoß-Hettwer, die von der Bibliotheksdirektion mit der Ausarbeitung einer Nachhaltigkeitsleitlinie2 sowie der Umsetzung von nachhaltigkeitsbezogenen Projekten beauftragt wurde. Die Leitlinie wurde 2023 von der inzwischen in neuer Besetzung agierenden AG NH ausgearbeitet und im September 2023 von der Direktion verabschiedet. Sie beinhaltet einen allgemeinen Teil und einen Maßnahmenkatalog und wurde auf der Website der SUB Göttingen veröffentlicht. Ziel ist es, die SUB Göttingen in all ihren Facetten – von den Geschäftsprozessen im und rund um den Bibliotheksalltag bis hin zur technischen Infrastruktur – nachhaltiger und damit auch zukunftsfähiger zu gestalten. Dies ist einerseits im Einklang mit dem Ziel der Georg-August-Universität Göttingen, bis zum Jahr 2030 klimaneutral zu werden. Andererseits nimmt die Leitlinie die ökologische Nachhaltigkeit, gemessen am CO₂-Fußabdruck, in den Blick, und strebt an, allgemein Verbesserungen im Sinne der UN-Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals/SDGs)3 vorzunehmen. Zu den aktuellen Themen gehören Energiemanagement, Materialwirtschaft, E-Mails/Datenverkehr/elektronische Geräte, Transport und Wassernutzung. Sie bezieht Mitarbeitende und Nutzende ein, indem sie zu nachhaltigem Verhalten im Bibliotheksalltag ermutigt. Nachhaltigkeit soll so als zentrales Handlungsfeld ins Bewusstsein aller Menschen im Umfeld der SUB Göttingen rücken. Die AG Nachhaltigkeit ist somit nicht allein für dieses Thema verantwortlich, sondern als Informations- und Aktionsgruppe aktiv. Dabei ist sie offen für Impulse und Aktivitäten aller Mitarbeitenden und Nutzenden – und setzt selbst mit ihrer Arbeit kontinuierlich Impulse, um das Nachhaltigkeitsbewusstsein zu stärken.
Die Leitlinie ist ein living document und wird bei Bedarf an neue Gegebenheiten oder Informationslagen angepasst. Sie versteht sich auch nicht als vollständige Liste, sondern ist insofern immer nur vorläufig, als dass neue Themen hinzukommen können und bereits aufgenommene Themen niemals vollständig bearbeitet sein können, da Nachhaltigkeit ein moving target ist: Auch wenn ausgewählte Aspekte, z. B. im Hinblick auf Müllvermeidung und Recycling, verbessert wurden, gibt es immer noch viele weitere mögliche Maßnahmen, um die Nachhaltigkeit der Bibliothek noch weiter voranzutreiben. Mitunter müssen auch bereits umgesetzte Maßnahmen neu durchdacht und bearbeitet werden, wenn es neue Erkenntnisse oder Technologien gibt, um eine weitere Verbesserung zu erreichen.
Die jährliche Evaluation der Nachhaltigkeitsleitlinie nimmt die AG Nachhaltigkeit der SUB vor, die auch die aus ihr resultierenden Maßnahmen koordiniert und realisiert. Die AG besteht aus einer*m Sprecher*in, der*die den Kontakt zur Direktion hält und den Informationsfluss gewährleistet, und aktuell sechs weiteren Personen aus ganz unterschiedlichen Abteilungen der Bibliothek. Um neue Projekte zu planen und durchzuführen, trifft sich die AG im wöchentlichen Turnus, für die AG-Arbeit kann ein geringer Teil der Arbeitszeit verwendet werden. Die AG-Arbeit ist jedoch stark durch den Arbeitsaufwand in den eigentlichen Arbeitsbereichen beeinflusst, sodass es neben zeitlichen Verzögerungen immer wieder auch zur Pausierung der AG-Arbeit kommt. Wenn in der gemeinschaftlichen Diskussion oder durch einen Impuls von außen eine neue Maßnahme identifiziert wurde, nimmt sich ein Gruppenmitglied ihrer an und kümmert sich, unterstützt von den anderen, um die Umsetzung. Hierbei sind, wie das folgende Beispielprojekt „Insektenweide“ zeigen wird, zahlreiche Absprachen mit Personen inner- und außerhalb der Universität notwendig.
Die Biene, oft synonym gebraucht für die Honigbiene, ist ein Tier, das in der öffentlichen Wahrnehmung oftmals mit Nachhaltigkeitsbemühungen in Verbindung steht. Die Bedeutung der Bestäubungsleistung, die von Bienen (und vielen anderen Insektenarten) erbracht wird, zählt mittlerweile zum Allgemeinwissen, aber auch, dass ihre Lebensräume immer mehr durch Flächenversiegelung und ihr Überleben durch Insektizide und Monokulturen, die nicht genügend Nahrung bieten, bedroht wird. Hier wollte die AG Nachhaltigkeit im Sinne des SDG 15, „Life on Land“,4 tätig werden. Bis es am Ende zu einem blühenden und gedeihenden Staudenbeet kam, war es jedoch ein langer Weg, auf dem Ziel und Vorgehen mehrfach angepasst wurden.
Der erste Maßnahmenvorschlag fokussierte Honigbienen als populäre Bestäuber und bestand in der Idee, in Kooperation mit einem lokalen Imker Jungvölker auf dem Dach der SUB aufzuziehen. Bienenvölker brauchen nur wenig Betreuung, der Imker würde nur wenige Male im Jahr Zutritt zum Dach benötigen, um das Volk zu versorgen. Zudem würde sich ein Jungvolk gut für das Dach einer Institution eignen, da Jungvölker nicht zum Schwärmen neigen und sich damit nicht überraschend auf dem Campus ausbreiten würden. Durch die Ausrichtung der Bienenkästen auf dem Dach wäre zudem die Einflugschneise der Insekten gut zu steuern, sodass es innerhalb des Bibliotheksgebäudes und des dazugehörigen Cafés des Studierendenwerks, in dem dann der Honig des Imkers angeboten würde,5 nicht zu gehäuften Insektenbesuchen käme.
Diese erste Idee musste die AG jedoch in Rücksprache mit dem Gebäudemanagement wieder verwerfen. Nach einer Dachbegehung stand fest, dass das Dach einerseits ein Fluchtweg ist, andererseits sich in der Nähe des potenziellen Aufstellortes zudem auch kein Geländer befand. Da bisweilen Arbeiter*innen, auch von Drittfirmen, für Reparatur- und Wartungsaufträge das Dach betreten müssen, wurde die Gefahr nach einem möglichen Insektenstich als zu hoch eingestuft, als dass eine Genehmigung erfolgen könnte.
Um die generelle Richtung der Projektidee trotzdem weiterzuführen, weitete die AG ihren Bezug von „Honigbiene“ zu „Wildbienen und bestäubenden Insekten allgemein“ aus und entwickelte die Idee eines Staudenbeets als Insektenweide, um Nahrungsquellen für Bestäuber zu schaffen. Sie kontaktierte diesbezüglich den Alten Botanischen Garten der Universität Göttingen, der weniger als hundert Meter entfernt vom Zentralgebäude der SUB liegt, um Expertise zu erbitten. Aus dieser anfänglichen Anfrage entwickelte sich eine wertvolle Kooperation, die das ganze Projekt maßgeblich voranbrachte. Der Kustos des Alten Botanischen Gartens, Michael Schwerdtfeger, begrüßte die Idee der SUB nicht nur, sondern verwies auf einen Preisträger des Ideenwettbewerbs 2022 für Studierende der Georgia Augusta zum Thema „Nachhaltig.Zukunft.Studieren“, Jasper Rasokat, der einen Entwurf für eine standortangepasste Staudenbepflanzung des Zentralcampus zu dessen ökologischer Aufwertung vorgelegt hatte. Schnell ergab sich eine Zusammenarbeit mit dem zentralen Nachhaltigkeitsbüro der Universität Göttingen „Green Office“,6 dem Alten Botanischen Garten, Jasper Rasokat, dem Gebäudemanagement (hier auch der Abteilung Landschaftspflege) und der SUB-Hauslogistik, die alle dazu beitrugen, den Entwurf, der bisher nur auf dem Papier existiert hatte, in die Tat umzusetzen. Zu diesem Zweck erklärte sich der Alte Botanische Garten zudem bereit, die passenden Jungpflanzen (etwa 300 Stück) zu ziehen und diese an die SUB zu spenden sowie die Mitglieder der AG bei der Pflege der Pflanzen zu beraten. Diese Unterstützung hat die AG in der Projektumsetzung sehr motiviert.
Diese Zusammenarbeit war zudem für alle Beteiligten ein großer Gewinn: Der studentische Preisträger begleitete das Projekt bis zu dessen Finalisierung und konnte mit der Realisierung seines Entwurfs ein Portfolioprojekt für die weitere nachhaltige Entwicklung seiner beruflichen Karriere schaffen. Der Kustos des Alten Botanischen Gartens konnte für die rund 140 Wildbienenarten, die im Alten Botanischen Garten nachgewiesen sind, eine neue gesicherte Nahrungsquelle erschließen und seine Führungen nun auch zur SUB Göttingen ausweiten; und die AG hatte schließlich fachlich qualifizierte Beratung, ein fertiges Konzept sowie eine ungemeine Kostenerleichterung, da sie für die Anschaffung der passenden Pflanzen keine Finanzierungshilfe finden musste.
Der Weg war dennoch recht steinig. Gelder mussten vorab kalkuliert und eingeworben werden,7 die Beauftragung von Leistungen, der Einkauf und die Abrechnung mussten outgesourct werden (die Bibliothek darf z. B. kein Pflanzensubstrat erwerben, das liegt außerhalb ihres Aufgabenspektrums, und die AG wiederum verfügt über kein eigenes Budget). Unzählige Gespräche und zahlreiche Treffen mit verschiedenen Personen des Gebäudemanagements waren nötig, um das Loch für das Staudenbeet graben zu lassen, um 21 Tonnen Pflanzensubstrat anliefern und einfüllen zu lassen, um einen Wasseranschluss für die anfängliche Bewässerung anlegen zu lassen und um die Abrechnung durchzuführen. Weitere Gespräche mit dem Green Office und den Göttinger Alumni halfen bei der Vernetzung und Durchführung des Projekts. Schließlich konnten dann die Pflanzen im Mai 2024 ins Beet eingesetzt werden. Schon nach vier Wochen waren die Pflanzen von einem niedrigen Bewuchs zu blühenden, Insekten anziehenden Stauden herangewachsen. Die offizielle „Eröffnung“ des Beetes erfolgte im Juni 2024.
Ab August stand das Beet in voller Blüte und zahlreiche blütensuchende Insekten machten es zu einem summenden Schauplatz.

Wenn im Verlauf des Sommers und Herbstes die Pflanzen ausblühen und Samen reifen, werden diese gesammelt und stehen dann im Eingangsbereich der SUB in den Kästen der Göttinger Saatgut-Bibliothek8 bereit. Die Göttinger Saatgut-Bibliothek ist eine private Initiative, die von der SUB Göttingen unterstützt wird. Das Saatgut kann hier kostenfrei ausgeliehen und selbst angebaut werden. Ein Teil des so neu entstehenden Saatguts soll dann wieder an die Göttinger Saatgut-Bibliothek zurückgegeben werden. So verteilen sich die Samen der Insektenweide in Göttingen und Umland und unterschiedliche Nachhaltigkeitsaktivitäten werden sinnvoll miteinander verbunden.
Insgesamt nahm das Projekt „Insektenweide“ von der ersten Planung mit all seinen Wendungen und Komplikationen bis zum finalen Informationsschild gut eineinhalb Jahre in Anspruch. In seiner Pflege bleibt es eine, wenn auch geschätzte, Daueraufgabe, die von den Teilnehmenden der AG je nach Bedarf in ihrer Mittagspause, der „Grünen Pause“, übernommen wird. Da im Beet mit Pflanzensubstrat gearbeitet wurde, ist hier aber der Gesamtaufwand vergleichsweise gering. Die AG Nachhaltigkeit machte bei der Umsetzung des Projekts viele Erfahrungen, die auch für andere mit ähnlichen Vorhaben wertvoll sein können:
Entscheidend ist eine gute Unterstützung der Nachhaltigkeitsarbeit durch das Bibliotheksdirektorium. Mit dessen Unterstützung ist es deutlich einfacher, Nachhaltigkeitsprojekte zu planen und durchzuführen.
Man braucht einen langen Atem für die Umsetzung eines solchen großen Projekts, da durch viele Regularien und Vorgaben ein hohes Kommunikationsaufkommen entsteht. Es ist zentral für das Gelingen, sich hiervon nicht frustrieren zulassen und weiterzumachen, auch wenn vielleicht die ursprüngliche Idee nicht umsetzbar ist. Zwar gibt es Ideen, die einfach nicht weitergeführt werden können, oftmals ergeben sich aber Alternativen, die mitunter sogar mehr zur Nachhaltigkeit beitragen als die initiale Projektskizze.
Da sich alle Mitarbeitenden der AG Nachhaltigkeit neben ihren eigentlichen Tätigkeiten engagieren, ist eine effektive und effiziente Organisationsform der AG zentral, um auch große Projekte möglichst zeitnah umzusetzen.
Ebenso ist die Finanzierung oftmals problematisch. Hier lohnt es sich, nicht nur die Möglichkeiten am Campus, sondern auch kommunale Fördermöglichkeiten einzubeziehen. Oftmals bieten Städte und Gemeinden schon Programme an oder haben Stiftungen, über die sich zumindest Teilbeträge für ein Nachhaltigkeitsprojekt refinanzieren lassen. Bei einem Projekt dieser Größenordnung sollte immer ein finanzieller Puffer mit einkalkuliert werden, da ansonsten unvorhergesehene neue Kosten das Projekt sehr ausbremsen können.
Es lohnt sich, früh verschiedene Akteure aus dem unmittelbaren Kontext anzusprechen. Häufig entstehen unerwartete Kooperationen, da doch mehr Personen als erwartet an ähnlichen Themenfeldern arbeiten, wertvolle Informationen haben oder einfach unterstützen wollen. Offenheit und Aufgeschlossenheit sind wichtig.
Die Vernetzung mit anderen Personen aus dem unmittelbaren Kontext erleichtert auch andere Projekte im Bereich Nachhaltigkeit, da man viel effizienter an die benötigten Informationen kommt. Der initiale Aufwand ist also hoch, rentiert sich aber auf lange Sicht. Gleichzeitig ergeben sich so viele gute Arbeitsbeziehungen unmittelbar in der Bibliothek, aber auch im weiteren Feld. Die Bereitschaft, sich an Nachhaltigkeitsvorhaben zu beteiligen, ist auf allen Seiten häufig groß und ggf. werden über alternative Wege Dinge ermöglicht.
Manchmal ist einfach eine gute Portion Glück im Spiel, wie z. B. beim hier vorgestellten Projekt, bei dem bereits ein fertig ausformuliertes Konzept über einen studentischen Wettbewerb vorlag, das als Grundlage genutzt werden konnte.
Die Insektenweide ist wohl das bisher sichtbarste und – sowohl am Ressourcenaufwand als auch an seinem Umfang gemessen – größte Nachhaltigkeitsprojekt an der SUB Göttingen. Es ist auch ein Zeichen dafür, was durch gemeinsame Anstrengung und Ausdauer erreicht werden kann. Die AG Nachhaltigkeit der SUB Göttingen hofft, dass es anderen Bibliotheken als Inspiration dient, sich ebenfalls für Nachhaltigkeit zu engagieren oder, wenn es bei ihnen bereits entsprechende Bestrebungen gibt, ein eigenes Staudenbeet als ein neues Projekt anzugehen.9