Die digitale Transformation schreitet voran. Sie verändert sowohl das Umfeld als auch die Arbeitsweisen von Forschenden und Hochschulbibliotheken. Ein aktuelles Beispiel ist der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI)1 im Bibliotheksalltag. Doch die digitale Transformation prägt Hochschulbibliotheken bereits seit Jahrzehnten. Während Forschende meist auf Möglichkeiten, Tools und neue Chancen oder Gefahren in Bezug auf ihr jeweiliges Fachgebiet oder ihre Forschungsinteressen blicken, sehen sich Hochschulbibliotheken herausgefordert, neue Services anzubieten und das bestehende Portfolio stetig anzupassen und weiterzuentwickeln. Wie kann regelmäßig ein solches Serviceportfolio aufgebaut werden? Wie können digitale Services nachhaltig entwickelt werden? Anhand der Einführung des elektronischen Laborbuchs (ELN) an der Universität Münster wollen wir unseren Lösungsansatz für die strategische Entwicklung von digitalen Services, das Agile Service Engineering,2 vorstellen und diskutieren.3
Service Engineering ist ein Konzept, das einen methodischen Ordnungsrahmen für die Entwicklung von Services gibt. Anhand von definierten Phasen kann jeder Service – von der ersten Idee bis zu einem digitalen Produkt – aktiv weiterentwickelt werden. Die Anordnung von Serviceentwürfen entlang von Phasen führt, zusammen mit agilen Methoden und Rollenbildern, zu einer gemeinsamen Kommunikationsbasis und einem gezielteren Einsatz von Ressourcen. Gleichzeitig bietet der Ordnungsrahmen aber auch Möglichkeiten, neue Ideen zu finden und Innovationen zu gestalten. Durch die neue Ordnung der Abläufe soll für die Universitäts- und Landesbibliothek (ULB) Münster eine Professionalisierung der Vorgehensweise erreicht werden, die mögliche Fehlentwicklungen und Reibungsverluste reduziert. Aber warum geben wir uns neue Regeln für die Entwicklung von forschungsunterstützenden Services?
Mit Blick auf die digitale Transformation beinhalten Services neben der Dienstleistung meist ein digitales Produkt. Die Entwicklung und Konfiguration von Software ist damit ein fester Bestandteil der Forschungsunterstützung4 geworden, der eine eigene Logik, Abhängigkeiten und eigene Ressourcenbedarfe wie beispielsweise die Verfügbarkeit von Frontend-Entwickler*innen mit sich bringt. Hochschulbibliotheken stehen damit vor der Aufgabe, Stellen- und Rollenprofile sowie neue Teamstrukturen mit der bestehenden Organisation der Einrichtung zu verbinden. Das Service Engineering versucht in diesem Kontext, die Entwicklung eines digitalen Produkts wie z. B. einer App oder einer Webanwendung von der ersten Serviceidee an mitzudenken und Prinzipien aus der Produkt- und Softwareentwicklung, beispielsweise zyklische, iterative Arbeitsprozesse und agile Methoden (z. B. Scrum), mit der Struktur des öffentlichen Dienstes zusammenzuführen.
Mit dem für die ULB Münster entwickelten Konzept des Agilen Service Engineering können Anforderungen bei der Einführung neuer Produkte wie z. B. einem ELN besser abgeschätzt und methodisch begleitet werden. Für alle Beteiligten – von den Entwickler*innen bis zu den Ressourcen- und Strategieverantwortlichen – stehen die transparente Gestaltung des Ablaufs5 anhand klarer Entwicklungsphasen und die Kommunikation im Mittelpunkt. Zwischen jeder Phase bilden Entscheidungspunkte die Möglichkeit, den aktuellen Stand zu besprechen, die Reife eines Services zu beurteilen und den Service mit strategischen Überlegungen und Ressourcen abzugleichen.
Die erwünschte Reife erlangt ein Service, indem er fünf Phasen der Entwicklung durchlaufen muss: Über die Ideenphase (1), die Konkretisierungsphase (2) und die Konzeptionsphase (3) wird ein Serviceentwurf geschärft, bis das digitale Produkt des Services schließlich implementiert (4) wird und in den Betrieb (5) übergehen kann. Während die Entscheidungspunkte stark vorstrukturiert sind und einen Grandmesser für den erzielten Fortschritt bilden, kann innerhalb jeder Phase änderungsfreudig und anforderungsorientiert entwickelt werden.
Wie im vorigen Abschnitt beschrieben, bildet das Agile Service Engineering den methodischen Rahmen für die strukturierte Entwicklung digitaler Services an der ULB Münster. Ein Beispiel für den Erfolg dieses Ansatzes ist die Einführung eines ELN in der experimentellen Forschung. Während digitale Methoden in vielen wissenschaftlichen Bereichen längst Standard sind, halten viele Forschende ihre Experimente oft noch auf Papier fest. Klassische Laborbücher, meist einfache Notizbücher, sind oft schwer lesbar, unstrukturiert und nicht durchsuchbar. Die Regeln guter wissenschaftlicher Praxis6 lassen sich so nur schwer einhalten: Versuchsanordnungen, Messwerte und Ergebnisse bleiben ohne klare Struktur und Zugriffsmöglichkeiten sind oft unübersichtlich, was die Reproduzierbarkeit limitiert. Gleichzeitig werden viele der im Labor entstehenden Daten, z. B. Messergebnisse aus Analysegeräten, längst digital erzeugt. Das Nebeneinander analoger und digitaler Dokumentation führt zu Medienbrüchen, Redundanzen und unnötigem Aufwand. Der Bedarf nach einer integrierten, digitalen Lösung ist deshalb offensichtlich und wurde von der ULB Münster als Ausgangspunkt für die Entwicklung eines neuen Services aufgegriffen.
In der Ideenphase des Agilen Service Engineerings entstand der Vorschlag, ein ELN als universitätsweite Webanwendung bereitzustellen.7 Ziel war eine digitale Dokumentationslösung, die unabhängig von Fachdisziplinen funktioniert, und allen Universitätsangehörigen offensteht – für Forschungsprojekte ebenso wie für studentische Praktika. In der Konkretisierungsphase erfasste das Team die Anforderungen systematisch: durch Interviews, Umfragen, Gespräche mit Forschenden und technischen Mitarbeitenden sowie durch die Analyse bestehender Tools. Schnell wurde klar, dass es nicht „das eine“ Labor gibt, sondern eine Vielzahl von Arbeitsweisen, Rollen, Dokumentationsbedarfen und Vorerfahrungen mit digitalen Tools.8 Diese Vielfalt floss in die Auswahl und Gestaltung des Services ein. In der Konzeptionsphase bewertete das Team verschiedene Softwarelösungen. Die Wahl fiel auf eLabFTW,9 das durch seine offene Architektur, den Open-Source-Charakter und Funktionen für kollaboratives Arbeiten überzeugte. Besonders wichtig war die Möglichkeit, unterschiedliche Rollen mit abgestuften Rechten abzubilden, z. B. für Gruppenleitungen, technische Mitarbeitende oder Studierende.10 Datenschutz, IT-Sicherheit und Benutzerfreundlichkeit spielten ebenfalls eine zentrale Rolle. Der Dienst sollte ohne zusätzliche Installationen direkt im Browser nutzbar sein. Diese Niedrigschwelligkeit erleichtert den Einstieg, besonders für weniger technikaffine Nutzende, und fördert die Akzeptanz.
Der Dienst wurde unter dem Namen „eLab“ als universitätsinterne Webanwendung umgesetzt. Die technische Realisierung erfolgte in Zusammenarbeit mit dem Center for Information Technology (CIT) der Universität Münster und weiteren Stellen. Parallel entstand eine umfassende Dokumentation11: Servicebeschreibung, Nutzungsrichtlinien, technische Hinweise und Einstiegshilfen. Die Einführung begleitete das Team mit Kommunikations- und Schulungsmaßnahmen. Neben individuellen Beratungsgesprächen mit Forschungsgruppen gab es Informationsveranstaltungen, Hands-on-Workshops und Schulungen für Multiplikator*innen. Das Feedback aus diesen Formaten floss direkt in die Weiterentwicklung des Dienstes ein – ein zentraler Aspekt des agilen Vorgehens. Ein Schlüssel zum Erfolg war die frühzeitige Einbindung relevanter Stakeholder. Dazu zählten das IT-Sicherheitsteam, die Stabsstelle Datenschutz, das Justiziariat, der Bereich Arbeitssicherheit und Umweltschutz, die Personalräte und das Rektorat. Auch die Universitätsbibliothek12 war in doppelter Rolle beteiligt – als koordinierende Stelle und als Akteurin mit Erfahrung in der Serviceerbringung für die Forschung. Die Zusammenarbeit der verschiedenen Stellen ermöglichte es, rechtliche, organisatorische und technische Rahmenbedingungen von Anfang an zu berücksichtigen, statt sie später mühsam anzupassen. Gerade bei Services, die forschungsnahe Daten verarbeiten, ist dies entscheidend für Nachhaltigkeit und Rechtskonformität.
Der Service befindet sich inzwischen in der Betriebsphase.13 Neben dem technischen Betrieb umfasst diese auch Support, Monitoring und Qualitätssicherung. Rückmeldungen der Nutzenden werden regelmäßig gesammelt, priorisiert und in die Weiterentwicklung eingebracht. Das agile Vorgehen zeigt hier seinen Wert: Anpassungen erfolgen iterativ und neue Bedarfe lassen sich schnell umsetzen. Interoperabilität war bereits in der frühen Projektphase ein wichtiges Anliegen. Entsprechend plant das Team strategisch für die Zukunft – etwa durch mögliche Integrationen mit anderen Forschungstools, Exportfunktionen für Repositorien oder Schnittstellen zu Datenmanagementlösungen.
Agiles Service Engineering fördert Nachhaltigkeit auf mehreren Ebenen. Organisatorisch sorgt es für eine strukturierte, dokumentierte Entwicklung und vermeidet Doppelarbeit durch die Nutzung bereits vorhandener, dokumentierter Bausteine (z. B. Standardprozesse, Textbausteine oder Code-Module). Personell stärkt es die Kompetenzentwicklung und den Wissenstransfer, da Teams in iterativen Zyklen Erfahrungen sammeln und sich weiterqualifizieren. Im Projekt setzten wir bewusst auf bewährte Open-Source-Software und etablierte Standards, die sich als langlebig und flexibel bewährt haben. Zwar gehört dies nicht ausdrücklich zum Agilen Service Engineering, doch unterstützt es dessen Prinzipien wie Flexibilität und Wiederverwendbarkeit. Ein ressourcenschonendes Vorgehen wird spätestens dann Pflicht, wenn bestimmte Ressourcen sehr knapp sind. Dies betrifft insbesondere bestimmte hochqualifizierte Rollen im Software Engineering (z. B. UX Design oder Datenbankexpertise). Im Projekt haben sich die Entscheidungspunkte zwischen den Phasen des Agilen Service Engineerings als besonders nützlich erwiesen, um Prioritäten zu setzen, Ressourcen zu lenken und Veränderungen gezielt anzugehen. Auch ökologische Aspekte spielen eine Rolle: Die Entscheidung für eine webbasierte, zentral gehostete Lösung reduziert den Ressourcenverbrauch auf Nutzendenseite, vermeidet redundante Installationen und ist damit ökonomisch wie ökologisch sinnvoll. Die AG Greening Digital Humanities empfiehlt in diesem Sinne die Nutzung gemeinsamer, möglichst zentral bereitgestellter Dienste und Infrastrukturen, um unnötige Doppelstrukturen und redundante Installationen zu vermeiden.14
Die Einführung von eLab zeigt, wie aus einer Idee ein tragfähiger Service wird: mit einem klaren Ordnungsrahmen, interdisziplinärer Zusammenarbeit und agilem Mindset. Der Ansatz lässt sich auf andere Kontexte übertragen, z. B. in der Forschungsdatenverwaltung, bei Schulungstools oder kollaborativen Schreibumgebungen. Bibliotheken können so nicht nur forschungsnahe digitale Services entwickeln und betreuen, sondern mit einem forschungsunterstützenden Serviceportfolio aktiv zur guten wissenschaftlichen Praxis beitragen. Agiles Service Engineering bietet dafür die nötigen Werkzeuge: strukturiert, nachhaltig und nutzerzentriert.