Dieser Text nimmt das Verhältnis zwischen (Landes-)Bibliotheken und Archiven in NRW in den Blick, benennt Ähnlichkeiten und Unterschiede sowie überschneidende und trennende Aufgaben bzw. Zuständigkeiten.1 Er soll ferner die Frage beantworten, welche Rolle Archive für (Landes-)Bibliotheken aktuell und in Zukunft haben können und auf welchen Gebieten Kooperationspotenziale bestehen. Es sei betont, dass insofern kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben wird, als die Vorgeschichte aller früheren Kooperationen oder auch Kooperationsverweigerungen zwischen Archiven und Bibliotheken in diesem Rahmen nicht aufgearbeitet werden kann. Hinzu kommt, dass der Beitrag aus einer bibliothekarischen Perspektive verfasst worden ist.2

Wenngleich der Autor für die Universitäts- und Landesbibliothek (ULB) Münster zuständig ist, genauer gesagt der Landesbibliothek für Westfalen, können die Aussagen dieses Textes pars pro toto auch auf die beiden anderen NRW-Landesbibliotheken in Bonn und Düsseldorf ausgeweitet werden, denn: Die Landesbibliotheken in Nordrhein-Westfalen (NRW) treten meistens als „Dreieinigkeit“ mit einem gemeinsamen Webauftritt3 und mittlerweile auch mit einer gemeinsamen Wort- und Bildmarke (s. Abb. 1) auf und kooperieren bereits seit Jahrzehnten eng miteinander. Klassische Themen der Zusammenarbeit waren und sind der Umgang mit Pflicht- und E-Pflichtliteratur,4 die Erstellung der Nordrhein-Westfälischen Bibliographie (NWBib),5 die Teilnahme am DNB-Projekt Regionalfester,6 der Aufbau und die Nutzung des Digitalen Archivs NRW (DA NRW)7, das Zeitungsportal NRW (zeit.punktNRW)8 sowie das zurzeit sich im Aufbau befindende webarchiv.NRW.

Im zurzeit wohl prominentesten Projekt der NRW-Landesbibliotheken, gemeint ist zeit.punktNRW, werden – durch Landesmittel gefördert – seit 2017 historische Zeitungen digitalisiert und frei im Netz verfügbar gemacht. Das Projekt konzentriert sich auf die Digitalisierung lokaler Kreis- und Regionalzeitungen allgemeinen Inhalts im Zeitraum von 1801–1945 und orientiert sich an den heutigen Grenzen von NRW. Die zunächst ausschließlich von Mikroformen (und ab der 3. Förderphase zusätzlich auch vom Original) digitalisierten Images sind im Zeitungsportal NRW über verschiedene Zugriffskriterien verfügbar: Kalendersicht, Georeferenzierung, diverse Downloadoptionen, OCR. Mit Stand vom 11.07.2025 sind über 20 Millionen Seiten im Backend hochgeladen, davon sind knapp 18 Millionen Seiten freigegeben und volltexterkannt. Als entscheidender Faktor für das Projekt sind die multilateralen Kooperationen zu nennen, vor allem mit den Archiven aus NRW. Sie bilden mit über 90 % den größten Teil der Projektpartner und weisen eine breite Überlieferung von historischen Zeitungen als Ergänzung zur sogenannten nichtamtlichen Überlieferung auf. Archiven kommt in diesem Projekt eine dreifache Rolle zu: Sie sind Datengeber, Kooperationspartner und leisten als Multiplikatoren eine immens wichtige Arbeit, da sie das Projekt und das Portal in der Archivwelt bekannter machen. Zudem stellen sie auch immer wieder wertvolle Kontakte zu im Privatbesitz befindlichen Zeitungssammlungen her, an die zeit.punktNRW sonst wohl nie gelangt wäre.
Es besteht hier also eine klassische Win-Win-Situation: Das Projekt profitiert unbestritten von den Archiven, aber auch die Archive, besonders kleinere Gemeinde- oder Kommunalarchive, bekommen durch das Projekt eine wohl einmalige Chance, ihre Zeitungsbestände für sie kostenneutral digitalisieren zu lassen, sie 24/7 im Netz erscheinen zu lassen und dadurch die wertvollen Originale zu schonen, indem sie aus der Benutzung genommen werden können.
Als weiteres laufendes und für die Archivwelt relevantes Projekt ist das „webarchiv.NRW“ zu nennen. 9 Partner sind neben den drei Landesbibliotheken das Hochschulbibliothekszentrum NRW (hbz) in Köln sowie potenziell auch das Landesarchiv (LAV) NRW. Neben dem Landesarchiv NRW sind auch Kreis-, Stadt-, Kommunal- und Gemeindearchive sowie das Digitale Langzeitarchivprojekt an den Hochschulen in NRW (LZA.NRW)10 an diesem Projekt interessiert.
In diesem vergleichsweise jungen Projekt werden im Rahmen der gesetzlichen E-Pflicht und eines abgestimmten Sammelprofils Websites aus NRW identifiziert, in der Regel halbjährlich in Form von Zeitschnitten (= Webschnitte) gespeichert, formal und inhaltlich erschlossen sowie in einem closed access in den Räumen der NRW-Landesbibliotheken bzw. des LAVs zugänglich gemacht. Konkret bedeutet dies, dass Nutzerinnen und Nutzer der genannten Einrichtungen vor Ort an ausgewählten Rechnern das webarchiv.NRW einsehen können. Die Zugriffsbeschränkung begründet sich aus einer urheberrechtlich komplizierten Rechtslage, weshalb eine öffentliche Freigabe im Netz zu kaum kalkulierbaren Risiken für die Landesbibliotheken führen würde.11 Es ist davon auszugehen, dass mit fortschreitender Zeit das Interesse von Nutzenden zunimmt, so wie das heute beim Durchsuchen von Websites aus vergangenen Dekaden im Internet Archive der Fall ist. Damit dies gelingt, ist es wichtig, heute die bisweilen dynamisch-flüchtigen Webinhalte systematisch zu archivieren und für die Nachwelt zu sichern.
Im Hinblick auf die Rolle der Archive in diesem Projekt muss man zwischen dem Landesarchiv und der restlichen Archivwelt in NRW unterscheiden: Das Landesarchiv crawlt selbständig behördliche und amtliche Seiten aus NRW,12 welche – im Falle einer Kooperation – dann mittels Schnittstelle ins webarchiv.NRW migriert werden sollen. Diese Websites entfallen entsprechend im Portfolio der Landesbibliotheken, wodurch die vorhandenen Ressourcen für andere NRW-Websites genutzt werden können. Die Rolle der übrigen (kommunalen) Archive sowie des Projektes LZA.NRW ist eine eher untergeordnete, aber dennoch nicht unwichtig. Sie wirken – ähnlich wie bei zeit.punktNRW – als Multiplikatoren, indem sie Archivnutzende auf das Projekt und auf die Nutzungsbedingungen des Webarchivs aufmerksam machen. Zudem können sie Websites aus ihrem Gebiet zur Archivierung vorschlagen, wodurch das NRW-Web durch einen gemeinschaftlichen Blick aus verschiedenen Perspektiven möglichst blickdicht archiviert werden kann.13 Nicht zuletzt werden Archive und solche Projekte wie LZA.NRW ressourcentechnisch entlastet, indem sie keine unnötigen Doppelstrukturen zum Archivieren von Websites aufbauen (müssen).14
Neben diesen beiden laufenden und auch für die Archivwelt interessanten Projekten sollen im zweiten Teil des Beitrags potenzielle Projekte und Kooperationsideen beschrieben werden, die teils visionärer Natur sind und als reine Denkanstöße zu betrachten sind – freilich ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
Ein potenzielles Kooperationsprojekt betrifft die oftmals im Rahmen der Archivierung wenig berücksichtigte graue Literatur. Ein erster und exemplarischer Blick auf den jeweiligen Umgang mit grauer Literatur bringt Ähnlichkeiten, aber auch deutliche Unterschiede zutage, hier bezogen auf die rechtlichen Grundlagen, die Sammelprofile, die Sammelstrategien, die Archivierung sowie auf die Zugänglichkeit der gesammelten bzw. archivierten grauen Literatur.15 Auch wenn in diesem Rahmen nicht detailliert auf die einzelnen Punkte eingegangen werden kann,16 ergibt sich besonders beim Abgleich der Sammelprofile eine günstige Gemengelage: So werden durch kommunale Archive die i.d.R. bibliothekarischen Sammelausnahmen wie Telefonbücher, Kataloge, Schüler- und Abiturzeitungen etc. systematisch gesammelt. Im Sinne einer möglichst vollständigen Überlieferungsbildung findet hier also eine bewusste oder auch zufällig entstandene arbeitsteilig funktionale Differenzierung zwischen den beiden Institutionen statt. Hinsichtlich der Zugänglichkeit und Benutzung können ferner große Unterschiede festgestellt werden. Bibliotheken wie die ULB Münster bieten hier insbesondere durch die freie Bereitstellung zahlreicher Dokumente über ein E-Pflichtportal17 sowie durch Anbindung an das Fernleihsystem deutlich komfortablere Nutzungsmöglichkeiten als das in den meisten kommunalen Archiven der Fall ist. Die wichtigste Erkenntnis aus einer solchen Zusammenarbeit dürfte aber sein: Das Kennenlernen und das Wissen um die Praxis der anderen Welt ist bedeutend, um Schnittmengen beim Sammeln, Archivieren und Bereitstellen zunächst zu identifizieren und in einem nächsten Schritt womöglich arbeitsteilige Absprachen zu treffen.
Zum Themenfeld Digitalisierung wurde zeit.punktNRW bereits als Projekt genannt, in welchem Archive eine maßgebliche Rolle spielen. Überregional relevant ist das seit 2014 erfolgreich laufende Projekt „Archivportal D“, in welchem zahlreiches digitales Archivgut und Informationen aus zurzeit 300 Archiven Deutschlands in einem Subportal der Deutschen Digitalen Bibliothek frei zugänglich gemacht worden ist.18
Aber auch im Kleinen können Kooperationen enorm viel bewirken, so wie jüngst in Form einer bilateralen Kooperation zwischen der ULB Münster und dem Stadtarchiv Münster. Hier wurden Nachkriegsausgaben der Münsterschen Zeitung (ressourcensparend) jeweils zur Hälfte von den beiden Einrichtungen digitalisiert und mittels Datenaustausch vollständig in den jeweiligen Digitalen Lesesälen (hier aus urheberrechtlichen Gründen) verfügbar gemacht. Interessant dabei ist, dass besagtes Projekt aus einer vorhergegangenen Kooperation im Rahmen von zeit.punktNRW entstanden ist.
Selbst wenn solche konkreten Projekte nicht in allen Fällen realisiert werden können, sind Einrichtungen gut beraten, sich untereinander abzustimmen, um digitale Dubletten zu vermeiden. In der Zeitschriftendatenbank (ZDB) gibt es hierfür mit Feld 4233 bereits eine Möglichkeit, um eine Digitalisierungsabsicht zu hinterlegen. Abgesehen davon, dass bei Weitem nicht alle digitalisierenden Bibliotheken dieses Feld dafür nutzen, wäre es – um ein vollständiges Bild der Zeitschriften- und Zeitungslandschaft in Deutschland nebst Digitalisierungsvorhaben abzubilden – nötig und wünschenswert, wenn auch Archive (und andere Gedächtniseinrichtungen) ihre periodischen Bestände in der ZDB verzeichnen würden.
Beim Themenfeld Austausch im Sinne einer stärkeren funktionalen Differenzierung könnte man noch weitere Wege beschreiten: Es gelangen bekanntlich immer wieder wertvolle historische Bestände in Archive bzw. wertvolle Nachlässe in Bibliotheken. Auch wenn eine Realisierung im Einzelfall geprüft werden müsste, wären folgende Maßnahmen empfehlenswert: Mit Blick auf die Lagerbedingungen und die Verfügbarkeit von spezialisiertem Personal wäre es deutlich sinnvoller, gäben Archive solche historischen Bestände an dafür hoch spezialisierte Bibliotheken ab. Mit Blick auf die in Archiven vorhandene höhere Erschließungsexpertise – besonders bezogen auf akten- und unterlagenähnliches Material – könnten andererseits Bibliotheken (zumindest Teile ihrer) Nachlässe an Archive abgeben. Ein Anfang wäre, derartige Bestände als Deposita für einen bestimmten Zweck (Erschließung, Bestandserhaltung, Digitalisierung) temporär in eine dafür besser spezialisierte Institution abzugeben.
Die ULB Düsseldorf hat in diesem Zusammenhang passende Rahmenbedingungen geschaffen, indem sie das Universitätsarchiv in die Organisationsstruktur der ULB eingebunden hat.19 Hierbei ergeben sich vor allem Vorteile im Hinblick auf den Einsatz von technischen Ressourcen und Personal.
Beim Vergleich der Bibliotheks- und Archivwelt (in NRW) fällt auf den ersten Blick vor allem Trennendes auf: Mit dem Archivgesetz NRW und dem Kulturgesetzbuch NRW haben Archive und Bibliotheken zwei verschiedene gesetzliche Grundlagen.20 Zudem operieren insbesondere Landesbibliotheken politisch auf der Landesebene, während hingegen insbesondere die vielen kommunalen Archive auf kommunaler Ebene verwaltet und finanziert werden. Dies erschwert bisweilen Kooperationsbemühungen zwischen diesen politischen Ebenen, gerade wenn es um Förder- oder Landesmittel geht.
Bei Fragen der Qualifizierung gibt es traditionell getrennte Wege: den diversen Bibliotheksstudiengängen im Bachelor (u. a. Berlin, Köln, Leipzig, Potsdam) und den beiden MALIS-Weiterbildungsstudiengängen in Köln und Berlin stehen z.B. das Archivstudium und ein Archivmaster an der FH Potsdam sowie die Archivschulen in Marburg und Bayern gegenüber.
Archive archivieren und bewerten Archivgut, Bibliotheken sammeln und erwerben Bibliotheks- und Sammelgut. Interessant ist dabei die unterschiedliche Herangehensweise: Während Archive ihren Bestand im Nachgang mittels Bewertung steuern (max. 5 % der Akten und Unterlagen bleiben im Schnitt erhalten), geschieht dies in (Landes-)Bibliotheken bereits im Vorfeld durch gezielten Kauf, Tausch oder dem Ablehnen bestimmter Werke. Gerade aber Landesbibliotheken stehen den Archiven am nächsten durch ihren eher behördlichen Charakter mit starker Gesetzesbindung, was sich vor allem anhand der Pflichtexemplarregelungen manifestiert. So verwundert es kaum, dass die größte Gemeinsamkeit von Archiven und Landesbibliotheken das Sammeln bzw. Archivieren von amtlichen Veröffentlichungen sowie von grauer Literatur ist.
Wie ließen sich beide Welten stärker verbinden? Organisatorisch könnte man etwa die jeweiligen Stakeholder in den verschiedenen Archiv- und Bibliotheksgremien zusammenführen, ggf. über Schaffung von Landschaftsverbänden. In NRW bilden solche Institutionen (LWL-Archivamt für Westfalen,21 LVR-Archivberatungs- und Fortbildungszentrum Rheinland22) eine enorm wichtige Scharnierfunktion als Beratungsstellen in erster Linie für Archive, aber auch für Bibliotheken, wenn es etwa um Kooperationen in archivrelevanten Projekten geht. Als weiteres gutes Beispiel aus NRW sei der regelmäßig stattfindende Austausch zwischen den Landesbibliotheken.NRW und dem Landesarchiv NRW genannt, hier gemeinsam mit dem Ministerium für Kultur und Wissenschaft (MKW).
Es mag wie eine Binsenweisheit klingen: Das Wissen um „Das Leben der Anderen“, und dazu gehört auch, die Sprache der Anderen kennenzulernen, stellt eine notwendige Bedingung dar, um Kooperationsbemühungen überhaupt möglich zu machen: von kleineren bilateralen Projekten bis hin zu Landesprogrammen. Hierzu müssten neue Kommunikationsebenen und -instrumente geschaffen oder vorhandene genutzt werden, z. B. auf den diversen Archivtagen oder auch im Rahmen der jährlich stattfindenden BiblioCon.23 Erst dann können sich mittel- bis langfristige funktionale Differenzierungen von Tätigkeitsfeldern zwischen Archiven und Bibliotheken ergeben und entwickeln. Wichtig wäre außerdem, an den passenden Stellen mit einer Stimme zu sprechen in Form gemeinsamer Vorträge, Publikationen und Veranstaltungen. Als visionärer Vorschlag könnte man gemeinsam eine jährlich stattfindende Woche der Bibliotheken und Archive organisieren (äquivalent zur jährlichen Open-Access-Woche).
Es kann festgehalten werden, dass Bibliotheken und Archive noch viel übereinander erfahren und voneinander lernen können, und zwar auf zahlreichen Gebieten: Erschließung, Metadatenmanagement, Standardisierung von Daten, Bestandserhaltung, Digitalisierung, Open Science, rechtliche Fragen.24 Den Befund von Michael Knoche aufgreifend, der Bibliotheken in anderem Kontext „ihrem Wesen nach [als] Agenturen der Vernetzung“25 bezeichnete, müsste – auf das hier fokussierte Thema gewendet – dieses Potenzial genutzt werden, um organisatorische, technische und vor allem kommunikative Hürden und Hindernisse zu überwinden. Dies gelingt aber sicher nur, wenn die Akteure überhaupt erst eingehende Kenntnis voneinander bekommen und den Willen für einen Austausch und für weitergehende Kooperationen zeigen. Vielleicht kann dieser Praxisbericht einen kleinen Beitrag dazu leisten.