Nr. 4 (2025)
DOI: 10.5282/o-bib/6169

Nachlasserschließung mit Studierenden an der Staats- und Universitätsbibliothek Bremen

Erschließung historischer Bestände mit Nutzenendenunterstützung

1. Einführung

Dieser Praxisbericht beschreibt Projekte der Nachlasserschließung mit Studierenden in der Staats- und Universitätsbibliothek Bremen (SuUB).1 Seit 2018 werden kontinuierlich Projektseminare zur Einbeziehung von Studierenden in die Nachlasserschließung in den historischen Sammlungen der SuUB Bremen durchgeführt. Ziel ist es, originale Nachlässe aus dem 18. / 19. Jahrhundert formal zu erschließen und in der übergeordneten Nachlassdatenbank Kalliope2 nachzuweisen. Eine Digitalisierung der Nachlässe kann darauf aufbauen, ist jedoch nicht obligatorisch. Die Projekte weisen mit der Einbeziehung bibliotheksfremder Personen Elemente von Citizen Science auf. Während die Einbeziehung von Bürger*innen in die Transkription historischer Dokumente bereits etabliert ist, betritt die SuUB Bremen mit ihren historischen Sammlungen mit diesen Projekten Neuland.

2. Nachlasserschließung mit Studierenden: Das Konzept

Seit 2018 werden in der Staats- und Universitätsbibliothek Bremen Projekte zur Erschließung historischer Nachlässe mit Studierenden durchgeführt. Die Nachlasserschließungsprojekte werden im Rahmen regulärer Lehrveranstaltungen als Proseminare im Bachelor-Studiengang Geschichtswissenschaften angeboten. Sie sind als eigenständige Lehrveranstaltungen konzipiert und werden als solche im Vorlesungsverzeichnis der Universität Bremen ausgewiesen. Sie können von den Studierenden als Teil des Pflichtmoduls „Einführung in die historische Wissenschaft“ gewählt werden. Der Zeitraum ist kurz: Eine Lehrveranstaltung umfasst jeweils ein Semester mit zwei Semesterwochenstunden, die in diesem Fall jedoch als Blockseminare an fünf aufeinanderfolgenden Tagen ganztägig durchgeführt werden.

Die Seminare sind am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Bremen angesiedelt. Den Studierenden sollen grundlegende Kenntnisse sowie methodische Kompetenzen der Geschichtswissenschaften vermittelt werden. Sie erbringen im Seminar Studien- und ggf. Prüfungsleistungen, für die sie Credit Points (6 CP für eine Prüfungsleistung, 3 CP für eine Studienleistung) erhalten.

Die Seminarteilnehmer*innen kommen mit unterschiedlicher Motivation in die Lehrveranstaltungen: Neben den jeweiligen Themen des Nachlasses, die im Veranstaltungsprogramm beschrieben werden, wecken vor allem die Möglichkeit einer Arbeit mit Originalen sowie das Ziel der Vermittlung paläographischer Kenntnisse ihr Interesse.

3. Ziele und Tätigkeiten

Seitens der SuUB Bremen besteht das zentrale bestandsbezogene Ziel der Projekte darin, die Originalnachlässe von ihrem aktuellen Überlieferungszustand in einen ordnungsgemäßen Zustand zu überführen, der ihre Recherchierbarkeit über die Kalliope-Datenbank ermöglicht. Dies umfasst die physische Ordnung und die Signaturenvergabe auf Ebene der Einzelschriftstücke ebenso wie die formale Erschließung in der Kalliope-Datenbank.

Die Nachlässe werden grundsätzlich auf der Ebene von Einzelschriftstücken erschlossen und nachgewiesen. So können die Einzelschriftstücke recherchiert und für die Benutzung im Handschriftenlesesaal der SuUB Bremen bereitgestellt werden. Oftmals werden sie erst durch diese zeitgemäße Erschließung der Forschung als Quelle bekannt.

An diesen Zielen und an den Rahmenbedingungen der Seminare orientiert sich die Auswahl des für die Erschließung bereitzustellenden Nachlasses bzw. Teilnachlasses oder Bestands. In der Regel handelt es sich um Bestände, die entweder neu in die SuUB Bremen gekommen sind oder die aus bibliothekshistorischen Gründen bislang keine adäquate Erschließung erfahren haben. Die Auswahl der Bestände für die Projektseminare erfolgt durch die SuUB Bremen unter Berücksichtigung verschiedener Kriterien. Umfang, Sprache und Komplexität des auszuwählenden Nachlasses müssen den oftmals nur geringen, in jedem Fall aber unbekannten Voraussetzungen seitens der Studierenden im Bachelorstudiengang angepasst sein.

In der Regel nehmen zwischen 12 und 20 Studierende an den Seminaren teil, bedingt durch die räumlichen Kapazitäten des Handschriftenlesesaals der SuUB Bremen als Veranstaltungsort. Mit diesen können, je nach Aufwand und Vielfalt der durchzuführenden Tätigkeiten, zwischen 250 und 500 Einzelschriftstücke erschlossen werden, wobei darauf zu achten ist, die Erschließung innerhalb des Seminarkontexts abzuschließen. Der thematische Fokus der Projekte liegt auf Nachlässen, die sich zeitlich der neueren und neusten Geschichte zuordnen lassen. So wurde z. B. ein Teilnachlass des Bremer Reiseschriftstellers, Essayisten, Geographen und Stadtbibliothekar Johann Georg Kohl (1808–1878) erschlossen. Das aktuelle Projekt (2025) sieht den Nachweis des Nachlasses von Hanna Hübner-Kunath vor (1909–1994), die Bremens erste weibliche Motorflugpilotin war. Die bearbeiteten Nachlässe haben meist (getreu dem Sammlungsprofil) regionalhistorischen Bezug.

4. Herausforderungen und didaktische Aspekte

Herausforderungen der Projektseminare für die SuUB Bremen bestehen insbesondere in der heterogenen Zusammensetzung der Seminargruppe. Die Studierenden kommen mit unterschiedlichen Voraussetzungen in die Seminare. Primär drei Kompetenzen gilt es im Verlauf der Seminare zu vermitteln, bevor mit der eigentlichen Nachlasserschließung begonnen werden kann:

1. Das Lesen von Kurrentschriften. Eine zentrale Herausforderung der Nachlasserschließungsprojekte besteht in der Arbeit mit historischen Schriften, insbesondere mit der Kurrentschrift. Die Studierenden verfügen über geringe oder keine Vorkenntnisse im Lesen von Kurrentschriften. Daher ist es ein wesentliches Ziel der Seminare, sie mit der Schrift vertraut zu machen und somit Fähigkeiten für die weitere Arbeit mit historischen Quellen in der Bibliothek zu vermitteln. Die Seminare beinhalten ebenso theoretische Auseinandersetzungen mit der Geschichte von Schrift, wie praktische Übungen zum Lesen und zum Schreiben von Kurrentschriften. Die neu erworbenen Fähigkeiten werden von den Studierenden positiv hervorgehoben.

2. Es muss ein grundlegendes Verständnis für das zugrundeliegende Regelwerk, die „Ressourcenerschließung mit Normdaten in Archiven und Bibliotheken (RNAB)“, vermittelt werden. Auch ein sensibler Umgang mit und ein Problembewusstsein für kontrolliertes Vokabular und für die Gemeinsame Normdatei sind vonnöten, denn beides wird für die Nachlasserschließung benötigt. Von Bedeutung für die physische Ordnung sind insbesondere die verschiedenen Dokumenttypen gemäß RNAB. Auch die gemäß RNAB zu erfassenden Kategorien werden den Studierenden im Verlauf der Seminare mit einem differenzierten Laufzettel vermittelt. Bei der Erschließung neuer Personendatensätze in der Kalliope-Datenbank erfolgt eine enge Zusammenarbeit mit den bibliothekarischen Mitarbeitenden der historischen Sammlungen.

3. Schließlich ist zur Nachlasserschließung ein inhaltliches Verständnis des zu bearbeitenden Themas vonnöten. Die Studierenden arbeiten sich mit vorhandener Literatur in die Themenkomplexe ein, wobei sowohl Literatur zu den Persönlichkeiten, als auch zum historischen Kontext der Geschichte Bremens im betreffenden Zeitraum benötigt wird. Teils werden Zeitleisten oder Listen mit Korrespondenzpartnern erstellt, auf deren Grundlage eine Einordnung der Nachlassstücke erfolgen kann.

5. Workflow: Praxisorientierte Seminargestaltung und Nachlasserschließung

Die Seminare zeichnen sich durch einen hohen Praxisbezug aus, was von den Studierenden positiv hervorgehoben wird. Die Studierenden arbeiten durchgehend an Originaldokumenten. Die bisherigen Erfahrungen zeigen einen angemessenen, überaus vorsichtigen Umgang der Studierenden mit den Dokumenten.

Der erste Schritt der Nachlasserschließung besteht oftmals darin, einen bislang ungeordneten Nachlass zu strukturieren. Dabei orientieren sich die Studierenden an den Vorgaben der RNAB und ordnen die Nachlässe nach vier Sachgruppen: Manuskripte, Dokumente, Korrespondenzen und Sammlungen. Innerhalb dieser Gruppen erfolgt eine chronologische Ordnung, bei Briefen zusätzlich eine Sortierung nach Verfasser. Diese Arbeit stellt eine Herausforderung dar, da die Studierenden meist erstmals mit originalen historischen Dokumenten in Berührung kommen und sich zunächst an den Umgang mit den Quellen gewöhnen müssen.

Nach erfolgreicher physischer Ordnung kann die Signaturenvergabe erfolgen. Ein Teil der Nachlässe ist bereits mit Signaturen versehen; bei anderen ist es notwendig, die Signaturen neu zu vergeben. Die Vergabe von Signaturen folgt einem vorgegebenen, klaren Signaturenschema. Die Signaturen der Einzelschriftstücke dienen mehreren Zwecken: Sie ermöglichen eine eindeutige Identifikation des Nachlasses in der SuUB Bremen, geben Auskunft über den Standort innerhalb der Sammlung sowie Hinweise auf die Art der Dokumente und die Korrespondenzpartner.

Im nächsten Schritt erfolgt die formale Erschließung, die sich auf die für die Kalliope-Datenbank erforderlichen Kategorien konzentriert. Die Studierenden verwenden hierfür ein Formblatt, in das sie die relevanten Angaben zu den Dokumenten eintragen. Da alle Anweisungen in Kurrentschrift dokumentiert sind, lernen sie diese im Verlauf des Seminars und verfestigen so ihre paläographischen Fähigkeiten ganz nebenbei.

Die darauf aufsetzende Erfassung der Daten erfolgt in der Kalliope-Datenbank. Für die Durchführung wurde eine Kurzanleitung erstellt. Die Dauer der Datenerfassung variiert je nach Gruppenzusammensetzung und Arbeitsweise, wobei die Studierenden sich gegenseitig unterstützen.

Nach der Erschließung werden die Nachlässe durch die Restaurierungswerkstatt physisch bearbeitet (z.B. erfolgt eine Trockenreinigung, Risse werden geschlossen etc.) sowie zwischen Blättern aus Pergaminpapier und in säurefreien Mappen aufbewahrt. Diese Aufbewahrung folgt gängigen konservatorischen Standards und ermöglicht eine gezielte Bereitstellung der Einzelschriftstücke für die Nutzung im Handschriftenlesesaal der SuUB Bremen.

6. Risiken und Nebenwirkungen

Welche also sind die Risiken und Nebenwirkungen der Projekte? Lohnt es sich?

Wesentliche Herausforderungen der Projektseminare bestehen im hohen Arbeitsaufwand und in der Notwendigkeit der Qualitätskontrolle. Die Seminare werden engmaschig begleitet. Es müssen umfangreiche Kompetenzen vermittelt werden, sodass die Güte des Ergebnisses nicht vorausgesagt werden kann.

Dennoch überwiegt insgesamt der Nutzen – für die Bibliothek ebenso wie für die Studierenden und die Universität Bremen. Der zentrale Nutzen der Projekte aus Sicht der SuUB Bremen liegt im Nachweis der Nachlässe in der Kalliope-Datenbank, was angesichts der begrenzten Ressourcen besondere Bedeutung hat. Für die SuUB Bremen bringen die Seminare weitere Vorteile mit sich: Die enge Zusammenarbeit mit dem Studiengang Geschichtswissenschaften fördert die Vernetzung innerhalb der Universität und verankert die historischen Sammlungen der SuUB Bremen nachhaltig in Forschung und Lehre. Auch ermöglicht das Projekt die Rekrutierung studentischer Hilfskräfte, die Interesse an der Arbeit mit historischen Beständen zeigen. Diese Zusammenarbeit führt häufig zu einer längerfristigen Kooperation, da schon im Vorfeld eine vertrauensvolle Basis für eine kontinuierliche Mitarbeit besteht. Schließlich ermöglicht die Einbeziehung von Studierenden in die Erschließung historischer Nachlässe Einblicke in das Berufsbild eines praktischen Handschriftenbibliothekars und trägt somit hoffentlich zu seiner Vermittlung bei – eine in Zeiten des Fachkräftemangels auch in Bibliotheken nicht zu unterschätzende „Nebenwirkung“.

Was hingegen bedeutet die Teilnahme für die speziellen Citizen Scientists, die Studierenden? Für die Studierenden stellt die Arbeit mit den originalen Quellen einen besonderen (und seltenen) Mehrwert dar. Der im Curriculum frühe Kontakt mit originalen historischen Quellen und das Vertrauen, das in sie bei der Erschließung gesetzt wird, sind zentrale Quellen der Motivation. Darüber hinaus erwerben die Studierenden paläographische Fähigkeiten im Lesen von Kurrentschriften und sind gut vorbereitet für die Quellenarbeit im weiteren Studienverlauf. Hier werden Themen und Quellen vermittelt, die für die tiefere Bearbeitung im Kontext von Abschlussarbeiten oder vertiefenden Lehrveranstaltungen Relevanz haben können.

Obwohl die Projekte mit einem gewissen Arbeitsaufwand verbunden sind, bieten sie sowohl für die Studierenden als auch für die SuUB Bremen mittel- bis langfristige Vorteile. Sie fördern die praktische Ausbildung, stärken die Vernetzung innerhalb der Universität und sichern die nachhaltige Nutzung der historischen Bestände.

Anmerkungen

1 Dieser Beitrag bezieht sich auf den Vortrag der Autorin am 26.06.2025 in der Sitzung „Citizen Science + Daten“ auf dem 9. Bibliothekskongress 2025 (zugleich 113. BiblioCon) in Bremen.
2 Vgl. https://kalliope-verbund.info/, Stand: 26.09.2025.

Maria Hermes-Wladarsch, Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, https://orcid.org/0000-0002-9709-3471

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