Ende der 1990er Jahre, die Zeitschriftenkrise befindet sich auf ihrem unrühmlichen Höhepunkt, die Steigerungsraten der jährlichen Abonnementspreise überbieten sich Jahr für Jahr, werden bei den großen kommerziellen Verlagen zweistellig. Sie begründen dies mit der Umstellung ihrer gedruckten Zeitschriften auf E-Journals. Die Bibliotheken müssen ihre Abos abbestellen, die Auflagen sinken, die Preise steigen weiter. Die Stimmung der Bibliotheken gegenüber den Verlagen ist auf dem Null- bzw. Siedepunkt, je nach Sichtweise. Diese Stimmung kann man gut vom Titelblatt des „Laborjournal“ Heft 1999,4 ablesen. Dort stand rot in relativ kleiner Schrift: „Bibliotheken in Not“ und darunter groß „Verlage zocken ab“. Das Titelbild stellte einen sehr zufrieden grinsenden Mann mit Hut und dicker Zigarre dar, der einige Dollarscheine in der Hand hält. Auf Seite 12 gab es zu dem Thema eine Glosse mit dem Titel „Vom mühelosen Reichtum“. In der Titelstory (S. 10-12), überschrieben mit „Das große Würgen. Journalpreise sprengen Bibliotheksetats“ wurde vorgeschlagen, die Bibliotheken sollten sich „zusammentun und medienwirksam sämtliche [Verlagsname]-Journale abbestellen. Dies würde den Kurs der [Verlagsname]aktien ins Bodenlose purzeln lassen.“1
Vor diesem Hintergrund wurde 1999 eine gemeinsame Plattform für sämtliche Akteure der Knowledge Community, das „Forum Zeitschriften – GeSIG e. V.“2 gegründet. Die Autorin war eins der Gründungsmitglieder. Wir waren natürlich „nicht so naiv zu glauben, daß ein Fachgremium in der Lage wäre, diese grundsätzliche Problematik [vulgo Zeitschriftenkrise] zu beseitigen und naturgemäß gegensätzliche Interessen aufzulösen“.3 Aber wir hatten durchaus die Hoffnung, dass miteinander zu reden mehr Erkenntnis bringen müsste als übereinander zu reden. In diesem Sinne war und ist es ein Markenzeichen der GeSIG, dass sie alle Player am Markt (Bibliotheken, Handel, Verlage etc.) zusammenbringt.
Im Laufe der Zeit wurde aus „Forum Zeitschriften e. V.“ das „Netzwerk Fachinformation e. V.“, da sich ihr Augenmerk nicht nur auf Zeitschriften richtete. In den ersten Jahren stemmten wir mit zahlreichen Aktiven aus den genannten Bereichen, bei denen die Bibliothekar*innen in der Mehrheit waren, ein nennenswertes Programm. So erarbeiteten wir z. B. einen Musterlizenzvertrag für elektronische Zeitschriften und kümmerten uns um deren umsatzsteuerliche Behandlung. Und das alles – man kann es sich heute gar nicht mehr vorstellen – alles in Präsenz ohne kollaborative Tools. Da es ja auch keine oder zumindest kaum andere Initiativen gab, die Arbeit war früher viel weniger projektorientiert, war die Mitarbeit in den GeSIG-AGs eine großartige Gelegenheit zur Zusammenarbeit mit Kolleg*innen, wo man zudem noch Akteure aus Handel und Verlagen kennenlernte, was sonst wohl kaum der Fall gewesen wäre.
Diese erste Sturm-und-Drang-Phase mündete später in eine lange Zeit, in der wir vor allem auf Veranstaltungen der Branche (z. B. Podiumsdiskussionen bei Bibliothekartagen und anderen Branchentreffen) aktiv waren. Hier kam uns unsere programmatische Diversität zugute, weil wir aus einem reichen Fundus an Expert*innen schöpfen konnten. Irgendwer kannte immer jemanden, die/der beim anvisierten Thema Spezialist*in war. Die Themen trafen den jeweiligen Nerv der Zeit. Zumindest waren die Veranstaltungen immer sehr gut besucht.
So gingen die Jahre wohl auf und ab – bis zur Pandemie, die dazu beitrug, unsere Arbeitswelt entschieden zu verändern. Präsenztreffen sind zur Ausnahme geworden, dafür gibt es nun mannigfaltige Tools für Videokonferenzen und zum kollaborativen Arbeiten.
Wir reagierten darauf, indem wir zum Beispiel das Online-Format „GeSIG Talk“4 ins Leben riefen. Gemessen an der Zahl derer, die sich hierfür einwählen, ist auch der GeSIG Talk sehr erfolgreich. Wir registrieren jedes Mal um die 200 Personen.
Aber außer der Pandemie ist ja ab 2019 noch etwas geschehen. Die DEAL-Verträge und weitere so genannte Transformative Agreements machten Open Access endgültig zum Thema Nummer Eins der Branche. In den Bibliotheken hielten ganz neue Tätigkeitsfelder Einzug: Autor*innen als Angehörige ihrer Einrichtung verifizieren, APC-Verwaltung und so einiges mehr. Oft übernahmen die Mitarbeiter*innen dies zusätzlich zu ihren bisherigen Aufgaben oder wechselten in neu geschaffene Abteilungen für wissenschaftliches Publizieren. Dabei ist gleichzeitig zu beobachten, dass sich viele Bibliotheken um von der DFG und Ministerien ausgeschriebene Förderprojekte bewerben, die sich mit Open Access befassen. Projekte beschäftigen ihrer Natur entsprechend zeitlich befristet eingestelltes Personal.
2019 gründete sich auch ENABLE! mit dem Ziel, eine „gemeinschaftlich und partnerschaftlich eine auf Open Science ausgerichtete Open-Access-Publikationskultur in den Social Sciences und Humanities […] zu entwickeln, die von allen getragen wird. An dieser Entwicklung sollen alle Akteure des wissenschaftlichen Publizierens beteiligt sein: Wissenschaftler*innen, ihre Hochschulen, Bibliotheken, Fachverbände, Fachrepositorien, Verlage sowie Buchhandel und Dienstleister.“5 Eine GeSIG für Open Access in den Geistes- und Sozialwissenschaften? Es ist jedenfalls neidlos anzuerkennen, dass Enable! immer auf der Höhe der Zeit punktgenau virale Themen bearbeitet.
2022 veröffentlichte der Wissenschaftsrat seine vielbeachteten Empfehlungen zur Transformation des wissenschaftlichen Publizierens zu Open Access. Er „empfiehlt, einen Vergleich der Leistungen von Publikationsdienstleistern zu ermöglichen und zu einer größeren Kosteneffizienz beizutragen, indem transparente Qualitätsstandards und Leistungsstufen definiert werden.“6 Zu diesem Zweck solle „ein System von Mindeststandards und Leistungsstufen“ im Rahmen einer „freiwilligen Selbstorganisation“ geschaffen werden. „Eine mögliche Anknüpfstelle bietet hier das GeSIG Netzwerk Fachinformation e. V. als Plattform für den Dialog und Informationsaustausch zwischen Bibliotheken, Verlagen und Intermediären.“7 Auf den ersten Blick ist es natürlich erfreulich, dass der Wissenschaftsrat bei diesem Thema an die GeSIG gedacht hat. Aus interner Sicht ließe sich darüber diskutieren, ob es realistisch ist, dass einzelne Vereinsmitglieder ihre Geschäftsmodelle inklusive ihrer Gewinnmargen zur Diskussion stellen und auch ihre Wettbewerber dazu motivieren, es ihnen gleichzutun.
Die Frage, die sich nun angesichts diverser Initiativen, die sich rund um das Open-Access-Publizieren gebildet haben und in denen alle, die sich engagieren und ihre Kompetenzen einbringen möchten, stellt, ist die nach der weiteren Wirksamkeit der GeSIG. Welche Gebiete, welche Problemstellungen rund ums wissenschaftliche Publizieren liegen brach, sind also nicht durch andere Stakeholder abgedeckt, für deren Bearbeitung sich auch Bibliotheksmitarbeiter*innen einsetzen möchten?
Oder ist es an der Zeit, der GeSIG zu attestieren, dass sie zu einer Zeit hervorragende, wegweisende Arbeit geleistet hat, in der sie mit dem branchenübergreifenden Miteinander ein Alleinstellungsmerkmal hatte, dass ihr Konstrukt nun aber überholt, gar antiquiert ist?
Die Autorin freut sich auf ein Stimmungsbild aus der Bibliothekswelt, gerne per Mail oder im Gespräch.