Das Thema Open Access (OA) beschäftigt Wissenschaft und Bibliotheken seit mehr als 20 Jahren. Wichtige Meilensteine waren und sind etwa die Berliner Erklärung für Open Access (2003), die jährlich stattfindenden Open-Access-Tage (seit 2007) und das DFG-Förderprogramm „Open Access Publizieren“1 (2010–2016). Aber erst in den letzten Jahren mit dem Abschluss großer Publish-and-Read-Verträge (z. B. Wiley-DEAL seit 2019, Springer-Nature-DEAL seit 2020) und dem angepassten DFG-Förderprogramm „Open-Access-Publikationskosten“ (ab 2022) wurde das Thema Open Access für eine Mehrheit der Wissenschaftler*innen in Deutschland (zumindest bei Zeitschriftenartikeln) zum Standard.
Damit einhergehend ist auf verschiedenen Ebenen im Bibliothekswesen ein emsiges Treiben feststellbar; Open Access allgemein wird als ein Zukunftsfeld angesehen. Natürlich ist es gut, wenn wir eifrig sind und zum Gelingen von Wissenschaft beitragen wollen, aber wie können wir sicher sein, dass die eingeschlagene Richtung stimmt? Auch ein Hamster in einem Laufrad ist eifrig, ist dies aber aus seinem Bewegungsdrang heraus und trägt damit nicht unbedingt zu einem größeren Ziel in der Gesellschaft bei.
Die Sinnhaftigkeit von bestimmten Handlungen und Entscheidungen ist eng verknüpft mit den damit verfolgten Zielen. Es ist zunächst festzustellen, dass Open Access selbst nicht das Ziel ist, sondern das Mittel für weitere Ziele.2 Diese mit OA verbundenen Ziele können ganz unterschiedlich sein und dabei beispielsweise Eckpunkte von globaler Wissenschaftspolitik oder institutionellen Vorteilen bis hin zu Geschäftsmodellen umspannen. Damit einhergehend kommt es leicht zu divergierenden Vorstellungen bei den Zielen der einzelnen Stakeholder und deren Strategien zu ihrer Erreichung. Aktuelle Diskussionen beschäftigen sich häufig mit einzelnen Maßnahmen oder Arbeitsschritten – dabei geraten übergeordnete Problemstellungen und Fragen nach der strategischen Ausrichtung von Open Access insgesamt aus dem Blick. Die Frage, inwiefern die eingeschlagenen Wege zu welchen Zielen erfolgreich sind, kommt dann gar nicht erst auf.
Aus dieser Motivation heraus haben wir im Juni 2024 einen Call for Papers3 zu den Zielen von Open Access in o-bib gestartet. Dieser wurde mit dem bereits existierenden Call for Papers zu Diamond OA anlässlich des zehnjährigen Bestehens von o-bib kombiniert. In der aktuellen sowie der vorherigen Ausgabe von o-bib sind die Beiträge für beide Themenschwerpunkte erschienen. Aus der Beschäftigung mit dem Call zu Zielen von Open Access und den eingereichten Beiträgen wollen wir hier ein paar Impulse zusammen mit weiterführenden Literaturhinweisen geben sowie ein Resümee im Themenschwerpunkt ziehen.
In den frühen Jahren, als Open Access als Bewegung mit OA-Erklärungen gestartet ist, wurde ein Fokus auf die damit verbundenen Wertvorstellungen gelegt – z. B. Zugang und Teilhabe, Gerechtigkeit, Gemeinwohlorientierung. Open Access erschien als ein probates Mittel, diese Ziele zu erreichen. Heutzutage scheint Open Access oftmals als ein Ziel an sich, wenn es auf einfache Zielformulierungen wie „100 % Open Access“ verkürzt wird. Dies kann problematisch sein, wenn dabei die Idee „Open Access, koste es was es wolle“ mitschwingt. Denn das steht diametral gegen die ursprüngliche Motivation aus den Anfangsjahren der Zeitschriftenkrise der 1990er und frühen 2000er, mit OA bzw. elektronischem Publizieren Kosten einzusparen. Ebenfalls kann das Befeuern von kommerziellem Open Access durch kostspielige Vertragsabschlüsse die gerechte Teilhabe am wissenschaftlichen Diskurs für Autor*innen in finanzschwachen Institutionen und Regionen weiter erschweren oder gar verunmöglichen.4 Die OA-Bewegung, so Richard Poynder in einem Interview in 2023, hat ihre ursprüngliche Ziele nicht durchgesetzt, weil es keine zentrale Stelle gab, wo Pläne diskutiert und eine gemeinsame Strategie entschieden wurden.5 Ohne abgestimmte Strategie laufen Handlungsfelder und Vorstellungen über geeignete Maßnahmen auseinander. Diese Leerstelle ist bezeichnend: Ist es beispielsweise das Ziel der derzeitigen Bestrebungen um Diamond OA, die kommerziellen Verlage langfristig zu ersetzen?
Mit diesen Aspekten beschäftigten sich die folgenden Beiträge:
Sarah Dellmann: Alle wollen Open Access – warum eigentlich? Ein Appell für eine Auseinandersetzung mit Zielen unseres Handelns. https://doi.org/10.5282/o-bib/6155
Malte Dreyer: Quo Vadis Open Access. https://doi.org/10.5282/o-bib/6121
Open Access als Konzept und Zielsetzung ist so breit gefasst, dass es für Hochschulen und Forschungsinstitute im D-A-CH-Raum möglich ist, einerseits Publish-And-Read-Verträge (PAR) abzuschließen und andererseits Projekte mit Partner*innen finanziell schwacher Institutionen und Regionen zu lancieren. Hochschul- und Bibliotheksleitungen unterstützen sowohl den Vertrag mit Elsevier ab 2024 und engagieren sich zugleich für den Ausbau wissenschaftsgeleiteter Publikationsinfrastrukturen. Ist das alles noch Open Access? Oder ist die Klammer zu breit?
Durch die Limitierung der finanziellen und personellen Ressourcen in Institutionen müsste normalerweise eine Priorisierung der unterschiedlichen Ansätze zur Umsetzung von OA gemacht werden, auch wenn jeder Ansatz für sich allein gesehen als sinnvoll betrachtet werden kann. Die politische Strahlkraft von Open Access in den letzten Jahren hat häufig dazu geführt, dass die Entscheidung dann von der Leitung der Einrichtung getroffen wird. Da dabei die Unterstützung der eigenen Forschenden im Fokus steht – teilweise wird ein Nicht-Teilnehmen an Verträgen als Wettbewerbsnachteil für die Universität oder Forschungseinrichtung angesehen –, spielen die Auswirkungen auf die Forschenden weltweit nur eine untergeordnete Rolle. Alternative Ansätze, wie Bibliotheken Investitionen in offene (Infra-)Strukturen bei Budgetplanungen verankern könnten, kommen nur selten zum Tragen. Beispiele für solche Ansätze wären Vertragskündigungen, Einhaltung von Minimalstandards bei Vertragsabschlüssen oder Priorisierung bzw. Reservierung von Mitteln für offene (Infra-)Strukturen.6
Mit diesen Aspekten beschäftigt sich der folgende Beitrag:
„Wir müssten viel mehr mit Wissenschaftler*innen über die Dysfunktionalität des Publikationswesens sprechen.“: Sarah Dellmann im Gespräch mit Regine Tobias und Anja Oberländer. https://doi.org/10.5282/o-bib/6141
Die größten Verlage im Wissenschaftsbetrieb sind kommerzielle Verlage, und natürlich wollen diese Gewinne erzielen. Die Entscheidung über die Höhe von Abonnementspreisen liegen genauso in den Händen der Verlage wie die Festlegung der Höhe von einzelnen Article Processing Charges (APC) sowie deren jährliche Erhöhungen. Solche Kosten belasten den Etat von Bibliotheken und Hochschulen. Vor der flächendeckenden Etablierung von APCs und „Transformationsverträgen“ war es für kommerzielle Verlage von Vorteil, möglichst viele Zeitschriften zu besitzen und Lizenzen für große Pakete zu verkaufen. Inzwischen sind in publikationsbasierten Gebührenmodellen zunehmend auch die Anzahl der Artikel, Ablehnungsraten und die Zeit zwischen Einreichung und Veröffentlichung gewinnbeeinflussende Steuerungsgrößen. Die Qualitätsprüfung in der Forschung beruht aber auf Begutachtungs- und Auswahlverfahren für die Veröffentlichung in wissenschaftlichen Zeitschriften. Wenn die Rahmenbedingungen und Stellschrauben (z. B. Zeit für ein Gutachten) komplett in den Händen von gewinnorientierten Verlagen liegen und diese das ausnutzen, kann das zu einer Publikationsflut und Qualitätsmängeln führen. In verschiedenen Kontexten kommen Ziele von Forschenden und Bibliotheken zu kurz, und kommerzielle Interesse scheinen im Publikationssystem zu überwiegen.
Mit diesen Aspekten beschäftigten sich die folgenden Beiträge:
Bernhard Mittermaier: Transformationsverträge sind eine Sackgasse. https://doi.org/10.5282/o-bib/6117
Tobias Pohlmann: MDPI, Frontiers et al. Eine kritische Betrachtung von Qualitätsaspekten. https://doi.org/10.5282/o-bib/6134
Die mit Open Access angestoßenen Veränderungsprozesse tangieren auch die wissenschaftlichen Fachkulturen. Die Professuren eines Faches sind regional und national in Fachgesellschaften vernetzt, aber es fehlen häufig internationale Strukturen. Mühevolle Finanzierungswege und Abstimmungsprozesse akademischer Institutionen stehen in Kontrast zu international agierenden Verlagen. Wissenschaftler*innen fehlt es häufig an einer Lobby, um sich ähnlich Gehör zu verschaffen wie kommerzielle Akteure.
Fachspezifische Unterschiede beim Publizieren und in der Forschungsbewertung wurden innerhalb der Open-Access-Community bislang nicht ausreichend berücksichtigt. Dies ist jedoch eine Voraussetzung für Veränderung hin zu wissenschaftsgeleiteten Veröffentlichungswegen. Transformationsverträge etwa sind für manche Disziplinen hilfreicher als für andere. Unbenommen bleibt, dass die Zivilgesellschaft offenen Zugang zu Forschungsergebnissen und Bildungsressourcen benötigt und einfordert – Wissenstransfer ist unabdingbar.
Das Stärken der Position von wissenschaftlichen Autor*innen gegenüber gewinnorientierten Verlagen steht im Fokus ambitionierter Mitarbeiter*innen in Open-Science-Projekten. Autor*innen setzen sich gegen die Übertragung exklusiver Nutzungsrechte und für bessere Zweitveröffentlichungsrechte ein. Zugleich zeigen sie strukturelle Ungleichheiten auf und entwickeln konkrete Szenarien für OA in ihren Fächern.
Mit diesen Aspekten beschäftigten sich die folgenden Beiträge:
Kathleen Heft, Anne Dippel, Sarah Thanner: Open Access ist fortlaufende Gestaltungsarbeit. Ein Gespräch über Chancen und Ambivalenzen der Open-Access-Transformation in den ethnologischen Fächern. https://doi.org/10.5282/o-bib/6146
Lydia Riedl, Kai Matuszkiewicz, Konrad Hierasimowicz, Dominik Endres, Kathrin Siebold, Monica B. Berdugo, Andreas Jansen: Wissenschaft ohne Schranken. Diamond Open Access, Kommerzialisierung, Wissenschaftsbewertung und Publikationsdiversität aus interdisziplinärer Perspektive. https://doi.org/10.5282/o-bib/6136
Simon Rettelbach, Christoph Schindler: Open Access und Bildungswissenschaften. https://doi.org/10.5282/o-bib/6119
Wenig überraschend finden sich im OA-Diskurs auch zunehmend Auseinandersetzungen über die Deutungshoheit von Begriffen – etwa wenn Verlage konsequent den Term „Gold OA“ auch im Kontext von hybriden Zeitschriften verwenden oder das Modell der publikationsbasierten Abrechnung an der Institution gleichgesetzt wird mit Diamond OA, das ohne Gebühren für Autor*innen operiert. Fischer, Neufend und Kindling reflektieren dies kritisch in einem Blogpost von 2024.7
Ebenfalls kontrovers ist der Begriff „Transformationsverträge“ – nämlich dann, wenn diese Verträge gar nicht transformieren, oder zumindest nicht das transformieren, wofür der Begriff ursprünglich verwendet wurde: Flipping zu OA. Dann werden Abrechnungslogiken transformiert und Bibliotheken unterstützen Verlage bei der Effizienzsteigerung, die OA-Transformation des eigentlichen Zeitschriften- bzw. Publikationsmarktes bleibt jedoch aus.
Neben der Verwendung präziser Begrifflichkeiten ist es auch wichtig, stimmig zu argumentieren. So zeigen etwa Becker und Paulsen in ihrem Beitrag auf, dass Nutzungsstatistiken für Open-Access-Dokumente technisch problematisch sind und deren Verwendung somit fragwürdig ist. Die Bereitstellung von Download- und Nutzungszahlen bedient womöglich Nachfragen von Autor*innen, ist aber auch ein Puzzleteil der weiteren Quantifizierung wissenschaftlicher Leistung. Die Fixierung auf quantitative Kennzahlen wird als problematische Entwicklung in der Forschungsbewertung diskutiert und mit Initiativen wie der Coalition for Advancing Research Assessment (CoARA) und der „Declation on Research Assessment“ (DORA) wird dem aktiv entgegengetreten.
Mit diesen Aspekten beschäftigten sich die folgenden Beiträge:
Robert Wiese, Katharina Schulz, Michael Kleineberg, Christina Riesenweber: Der Preis von Diamond Open Access: Erfahrungen bei Berlin Universities Publishing. https://doi.org/10.5282/o-bib/6129
Pascal-Nicolas Becker, Yannick Paulsen: Probleme der Erhebung von Nutzungsstatistiken im Open Access. https://doi.org/10.5282/o-bib/6109
Bernhard Mittermaier: Transformationsverträge sind eine Sackgasse. https://doi.org/10.5282/o-bib/6117
Als Ergebnis des Calls wurden spannende Beiträge zu vielen Facetten des Themas eingereicht. Ein Großteil der Artikel legte das Augenmerk auf operative Aspekte (Praxisberichte, Case studies).
Im Call hatten wir für Beiträge zu folgenden Punkten aufgerufen:
Was war ursprünglich das Ziel von Open Access, z. B. in der Berliner Erklärung? Sind wir dem nähergekommen? Haben sich unsere Ziele geändert?
Welche Publikations- und Geschäftsmodelle werden derzeit gefördert, welche Form von Open Access wird dadurch belohnt? Welche Auswirkungen hat dies insgesamt auf die Publikationslandschaft? Welchen Zielen kommen wir dadurch näher?
Hat die Open-Access-Transformation schon stattgefunden? Wohin transformieren wir gerade? Wie sieht die Situation nach dieser Transformation aus?
Welche Stakeholder sitzen bei dem Handlungsfeld Open Access am Tisch und wie passen deren jeweilige Ziele zueinander?
Wer ist eigentlich gemeint, wenn wir von „der Open-Access-Community“ sprechen? Welche Rolle haben die Personal- und Interessensverbände des DACH-Bibliothekswesens, welche Stimmen sind bisher wenig sichtbar?
„Utopien“ sowie programmatische Artikel wurden allerdings gar nicht bzw. kaum eingereicht, obwohl explizit auch nach „Reflektionen, Beschreibungen von Momenten des Zweifelns, Essays, Thesenpapieren, Utopien“ gefragt worden war. Fehlt es uns, der OA-Community oder der o-bib Leser*innenschaft an Mut, Ziele und Visionen zu formulieren? An Zeit? Oder ist die Verdrossenheit über die Entwicklung des Themenfeldes OA zu hoch, sich die Mühe für einen Beitrag machen zu wollen?
In Kaffeepausen auf Tagungen oder beim „Schnack“ mit Kolleg*innen sind durchaus kritische Töne zum aktuell eingeschlagenen Weg bzw. Fragen nach den damit verfolgten Zielen bei Open Access zu hören. Dies findet überwiegend abseits der Mainstream-Diskussionen im Bibliothekswesen statt. Vorgaben und Entscheidungen der eigenen Einrichtung oder übergeordneter Gremien können den freien Austausch einschränken; es greift womöglich die Schere im Kopf. Beispielsweise kann die Frage, inwiefern bestimmte Verlagsverträge „transformativ“ sind oder nur zu einem „Zwischenreich“ gehören, bereits ein Politikum sein.8 Es scheint, dass es für Einzelpersonen schwierig sein kann, Kritik an bestimmten Ausprägungen von Open Access öffentlich zu formulieren. Das passt für das Selbstverständnis des Bibliothekswesens aber eigentlich nicht und wir sollten auch bereit sein, etwas zu riskieren für Veränderungen im Sinne der originären Ziele der Berliner Erklärung. Daher unser Appell: Führen wir mehr Diskussionen zu den mit Open Access verfolgten Zielen, wagen wir mehr Offenheit bei der Kritik an bestimmten Ausprägungen von Open Access und Mut bei der Umsetzung von Visionen für Open Access!
Wir möchten uns bei den Herausgebenden und der Redaktion von o-bib für die sehr gute und angenehme Zusammenarbeit bedanken.