In einem Grossteil der österreichischen Länder (sechs von neun) und der deutschen Bundesländer (acht von 16) wurden in den letzten Jahren Bibliotheksentwicklungspläne erarbeitet, die meisten seit 2019 (vgl. Tabelle 1). Zusätzlich liegt seit Mitte 2024 einer für ganz Österreich vor. An weiteren wird wohl gearbeitet oder ihre Veröffentlichung steht kurz bevor.1 Zudem kann nicht ausgeschlossen werden, dass solche Pläne für andere Länder/Bundesländer schon vorliegen, aber nicht recherchiert werden konnten.2 Gleichzeitig wird in den bibliothekarischen Fachpublikationen über diese Pläne kaum berichtet. Die breiteste Thematisierung scheint dem österreichweiten Plan gegolten zu haben.3 Aber auch dieser wurde dabei eher grundsätzlich beschrieben, nicht diskutiert.
Dabei wäre eine solche fachliche Diskussion sinnvoll. Offensichtlich steht hinter den Erarbeitungen eine bibliothekspolitische Strategie. Sowohl der Büchereiverband Österreich als auch der Deutsche Bibliotheksverband propagieren diese Pläne aktiv, ihre Landesverbände sind oft an ihrer Erarbeitung beteiligt.4 Gleichzeitig werden die Pläne jeweils spezifisch und mit grossem Aufwand für das betreffende Land/Bundesland erarbeitet.
Es stellt sich also die Frage, was die Ziele, Erfolge und Erfolgschancen dieser Pläne sind. Interessant wäre auch zu fragen, was mit ihnen für Bibliotheken und Bibliotheksnetze angestrebt wird. So wäre es z.B. möglich zu diskutieren, ob mit den Plänen alle Bibliotheken des jeweiligen Landes/Bundeslandes erreicht werden oder ob die in den Plänen skizzierte zukünftige Entwicklung vom gesamten Bibliothekswesen gut geheissen wird. Solche Diskussionen sollen mit diesem Text angestossen werden.
Für den Autor, situiert in der Schweiz, ist auch auffällig, dass diese Entwicklung bislang in der Schweiz oder Liechtenstein nicht zu beobachten ist. Obwohl einige Kantone seit Langem explizite Bibliotheksgesetze erlassen haben oder Bibliotheksförderungen ausrichten, steht hier der Kanton Wallis mit seinem Bibliotheksleitplan allein.5 Entwicklungen in den Büchereien und Bibliotheken der beiden anderen deutschsprachigen Länder werden aber manchmal mit einer gewissen Verzögerung auch in der Schweiz und Liechtenstein aufgegriffen. Der Autor möchte mit diesem Artikel deshalb u.a. diskutieren, ob es sinnvoll wäre, solche Bibliotheksentwicklungspläne auf kantonaler Ebene, oder für Liechtenstein landesweit, zu propagieren.
Dabei wird wie folgt vorgegangen. In einem Kapitel (3) werden die bislang vorliegenden Pläne zusammenfassend dargestellt. Anschliessend werden diese Pläne in einem weiteren Kapitel (4) kritisch diskutiert. Im Fazit (5) wird dann auch auf die Frage eingegangen, ob sie sich für die Schweiz eignen. All dem ist ein kurzer Abschnitt (2) vorangestellt, welcher auf die Geschichte von Bibliotheksplanungen eingeht. Dieser Punkt scheint relevant zu sein, gerade weil er in den aktuellen Plänen fast nicht thematisiert wird.
Dieser Text versteht sich explizit nicht als wissenschaftliche Arbeit. Während der ersten Recherchen war der Einsatz wissenschaftlicher Methoden geplant (z.B. eine Diskursanalyse). Beim Lesen zeigte sich aber, dass die Zahl, der Umfang und die Inhalte der Pläne für den Autor einen anderen Zugang sinnvoller erscheinen liessen. Der Text ist also als subjektive Meinungsäusserung zu verstehen. Der Autor ist der Ansicht, es wäre an der Zeit, über den Sinn und die Ausrichtung dieser Pläne zu diskutieren, anstatt sie einfach als Notwendigkeit anzusehen.
Die in den letzten Jahren erstellten Bibliotheksentwicklungspläne sind nicht die erste Welle von Planungen für Bibliotheksnetze im DACH-Raum. Bekannt ist wohl noch der Bibliotheksplan 1973, der von den Bibliotheksverbänden der Bundesrepublik Deutschland im Kontext einer damals von der Politik und Institutionen wie z.B. der DFG vorangetriebenen gesamtgesellschaftlichen Bildungsplanung erarbeitet wurde.6 Er stellte den Versuch dar, das damalige Bibliothekswesen zu beschreiben, zu systematisieren und dann zu planen, wie es sich in Zukunft entwickeln sollte. Eine Grundidee dabei war die Entwicklung eines zusammenhängenden Bibliotheksnetzes: Alle Bibliotheken des Landes wurden als Teil dieses Netzes konzipiert, die sich Aufgaben teilen und gegenseitig unterstützen sollten, um eine bibliothekarische Grundversorgung der gesamten Bevölkerung sicherzustellen. Im Vergleich zu heute wurde der Plan damals relativ breit, auch kritisch, in der Fachöffentlichkeit diskutiert.7
In der DDR wurde ein 1969 veröffentlichter Vorläufer dieses bundesdeutschen Plans von Wolfgang Mühle in einer Polemik thematisiert.8 Diese war offensichtlich als Abgrenzung gedacht und deshalb auch keine faire Rezension. Ein Punkt aber, den Mühle machte, war zutreffend: Der Bibliotheksplan wurde damals so präsentiert, als wäre er eine ganz neue Entwicklung, während das Planen eines landesweiten Bibliotheksnetzes mit verteilten Aufgaben in der DDR – als Planwirtschaft – schon seit den 1950er Jahren eine selbstverständliche Prämisse war. Mühle postuliert zudem, dass der Plan keine Umsetzungsinstrumente beinhaltete, also nicht direkt durchgesetzt werden könne: es sei nicht klar, wer was machen müsste, damit der Plan Wirklichkeit würde. Dieses Punkt scheint auch aus einer DDR-spezifischen Sichtweise zu stammen, der sich eine Gesellschaft, in der Pläne auch durch freiwillige Absprachen erreicht werden können, nicht vorstellen konnte. Trotzdem hat er recht: Der bundesdeutsche Plan erschien, verglichen damit, dass die Bibliotheksplanung damals schon eine Geschichte hatte, recht kontextlos. Was Mühle ignorierte – und hier aus Platzgründen nicht weiter dargestellt wird – ist, dass auch ausserhalb der DDR in den Jahrzehnten zuvor – in der Weimarer Republik, der ersten österreichischen Republik, während des österreichischen Ständestaates und des Nationalsozialismus sowie nach 1945 in der Bundesrepublik und der zweiten österreichischen Republik – auf allen Ebenen unterhalb der gesamtstaatlichen, Planungen für Bibliotheken vorgenommen worden waren.
Als der Plan 1993 dann für Gesamtdeutschland fortgeschrieben wurde, gab es zwar Verweise auf den Plan von 1973, aber nicht auf das Bibliotheksnetz in der DDR, dessen Strukturen damals in den «fünf neuen Bundesländern», für die der Plan von 1993 auch gelten sollte, noch ausgeprägter existierten als es heute der Fall ist.9
Relevant daran ist, dass sich eine solche «Kontext- und Geschichtslosigkeit» in den aktuellen Bibliotheksentwicklungsplänen wiederfindet. Auch diese lesen sich oft so, als hätte es nicht schon vorher zahlreiche vergleichbare Pläne gegeben.10 In einigen Fällen (beispielsweise dem Plan aus Schleswig-Holstein11) wird zwar erwähnt, es habe früher schon einmal einen vergleichbaren Plan gegeben, aber auf dessen damalige Wirkung wird nicht eingegangen. Nur in Thüringen12 (und Salzburg13, dessen Plan aber ausgelaufen zu sein scheint) wird darauf verwiesen, dass damit eine Fortschreibung eines früheren Planes vorläge, aber ohne dass klar wird, wie der Anschluss an den früheren Plan stattgefunden hat: Gab es eine Auswertung? Wurde die Compliance oder Zielerreichung überprüft? Oder wurde einfach ein neuer Plan erstellt? Das wird zumindest nicht dargestellt.
Dabei wäre es relevant, vor der Erstellung neuer Pläne darüber nachzudenken, was eigentlich mit den Planungen in den letzten Jahrzehnten erreicht wurde. Aber soweit sichtbar, gab es bislang keine Diskussion über «ausgelaufene» Bibliotheksplanungen.
In diesem Kapitel wird ein Überblick über die vorhandenen, aktuellen Bibliotheksentwicklungspläne in Österreich und Deutschland gegeben.14 In der folgenden Tabelle sind diese – inklusive der Institutionen, welche dieser herausgeben – aufgeführt.
Tab. 1: Aktuelle Bibliotheksentwicklungspläne in Österreich und Deutschland (Stand März 2025)
Land / Bundesland | Titel des Bibliotheksentwicklungsplans | Herausgebende Institutionen | Umfang |
Österreich | |||
Bund | Die Bibliothek für alle: Der Büchereientwicklungsplan des Bundes | Büchereiverband Österreich | 57 |
Burgenland | Bibliotheksentwicklungsplan für das Land Burgenland 2021-2025 | Landesverband Bibliotheken Burgenland | 78 |
Kärnten | Kärntens Öffentliche Bibliotheken auf dem Weg in der Zukunft: Der Bibliotheksentwicklungsplan 2022-2030 | Bibliotheksverband Kärnten im Auftrag des Landes Kärnten | 32 |
Niederösterreich | Grundlagenpapier Öffentliche Bibliotheken NÖ 2021, Maßnahmenpapier Öffentliche Bibliotheken NÖ 2022 | Servicestelle Treffpunkt Bibliothek, Abteilung NÖ Landesarchiv und NÖ Landesbibliothek | 30, 28 |
Oberösterreich | Bibliothek Entwicklung Plan 2025: Öffentliche Bibliotheken Oberösterreich | Erwachsenenbildungsforum Oberösterreich im Auftrag von Land Oberösterreich | 32 |
Salzburg | Landesbibliotheksplan: Entwicklungsplan für Öffentliche Bibliotheken im Land Salzburg | Land Salzburg | 8 |
Steiermark | Strategie zur Potenzialentfaltung Öffentlicher Bibliotheken | Amt der Steiermärkischen Landesregierung | 32 |
Vorarlberg | Vorarlberger Bibliotheksleitplan 2022 | Land Vorarlberg | 35 |
Deutschland | |||
Baden-Württemberg | Bibliotheksentwicklungsplan Baden-Württemberg | Landesverband Bande-Württemberg im Deutschen Bibliotheksverband e.V. | 92 |
Bayern | Bayerischer Bibliotheksplan | Bayerisches Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst | 96 |
Berlin | Bibliotheksentwicklungskonzept für Berlin 2021-2025 | Senatsverwaltung für Kultur und Europa | 103 |
Brandenburg | Bibliotheksentwicklungsplan Land Brandenburg | Deutscher Bibliotheksverband e.V. | 87 |
Hamburg (Besonderheit: Mit den Hamburger Bücherhallen gibt es ein zusammenhängendes Netz der Öffentlichen Bibliotheken) | Bibliothekskonzept Bücherhallen Hamburg 2021 | Stiftung Hamburger Öffentliche Bücherhallen | 120 |
Rheinland-Pfalz | Bibliotheksentwicklungsplan für das Land Rheinland-Pfalz | Ministerium für Familien, Frauen, Kultur und Integration des Landes Rheinland-Pfalz, Landesbibliothekszentrum Rheinland-Pfalz | 76 |
Sachsen | Öffentliche Bibliotheken in Sachsen 20230: Perspektiven und Handlungsfelder | Sächsischen Staatsministerium für Wissenschaft, Kultur und Tourismus, Sächsische Landesfachstelle für Bibliotheken | 84 |
Schleswig-Holstein | Agenda 2025 zur Entwicklung der Bibliotheken in Schleswig-Holstein | Deutscher Bibliotheksverband e.V., Landesverband Schleswig-Holstein e.V. | 34 |
Thüringen | Bibliotheksentwicklungsplan für die Öffentlichen Bibliotheken in Thüringen | Freistaat Thüringen, Thüringer Staatskanzlei | 44 |
Alle diese Pläne sind im Detail unterschiedlich und dem jeweiligen Land/Bundesland angepasst. Aber es gibt doch einige formale Gemeinsamkeiten, die sich jeweils in fast allen finden lassen.15
Alle Entwicklungspläne sind frei verfügbar publiziert.16 Es sind Dokumente, die sich offenbar an eine breite Öffentlichkeit richten. Zumeist sind sie auf den Homepages der Landesorganisationen der Bibliotheksverbände oder der bundesland-/landesweiten Stellen für das Öffentliche Bücherei-/Bibliothekswesen zugänglich. Die meisten Pläne sind in einem Zeitraum ab 2019 erschienen, also recht aktuell. Ausnahmen sind hier Salzburg (2014), Brandenburg (2015) und Bayern (2016). Auffällig ist, dass sie fast nie angeben, auf welchen Zeitraum hin sie angelegt sind. Zwar führen einige der Pläne, insbesondere in Österreich, einen Zeitraum im Namen, aber selbst dann werden die in den Plänen genannten Massnahmen nicht auf diesen Zeitraum bezogen, sondern sehr offen und ungenau formuliert. Es wird also z.B. geschrieben, dass die Bibliotheken sich noch mehr professionalisieren sollen, aber ohne Aussage, was das bis zum Ende des jeweiligen Plans heissen wird – oder ob es nicht einfach immer gilt.
Alle Pläne sind explizit professionell gestaltet worden (in einigen werden die Firmen, welche diese Arbeit übernommen haben, im Impressum genannt). Offensichtlich sollen sie einen professionellen Eindruck vermitteln. Sie enthalten Abbildungen, oft aus dem Bibliotheksalltag, Graphiken und andere Bildelemente. Alle sind mehrfarbig. Sie scheinen für den Druck im A4-Format gestaltet worden zu sein. Sie sind fast immer über 30 Seiten stark, teilweise noch viel umfangreicher. (Siehe Tabelle 1)
Auffällig selten finden sich in den Plänen konkrete Zahlen, die man mit einer Planung verbinden würde. Vielmehr stellen die Pläne immer wieder ausführlich den Status Quo der jeweiligen Bibliotheksnetze dar, auch unterstützt mit Zahlen aus der jeweiligen Bücherei-/Bibliotheksstatistik.
Auch inhaltlich gesehen zeigen sich in den Plänen grosse Gemeinsamkeiten.17
Erkennbar sind zuerst Unterschiede zwischen den deutschen und österreichischen Plänen. Vordergründig folgen sie zumeist einem Grundmodell. Aber dabei scheint es sich um verschiedene Grundmodelle für die beiden Staaten zu handeln. Die Darstellung des Status Quo orientiert sich sehr oft an der Darstellung der jeweiligen Bücherei-/Bibliotheksstatistik. Die österreichischen Pläne beziehen sich fast durchgängig auf die Öffentlichen Büchereien, während die deutschen oft die Gesamtheit der Bibliotheken in den Blick nehmen. Dies ist nachvollziehbar, wenn man z.B. die Bibliotheksverbände oder die Statistiken in den beiden Ländern betrachtet: In Österreich getrennt nach Bibliothekstypen, in Deutschland übergreifend.18 Gleichzeitig finden sich in den Plänen Vorstellungen über die Weiterentwicklung von Bibliotheken, die sich je einem Land zuordnen lassen, beispielsweise in Österreich die ständige Forderung nach einem gemeinsamen Logo für alle Bibliotheken eines Landes.
Alle Pläne enthalten Vorworte, oft von Politiker*innen. Diese Vorworte richten sich meist an die breite Öffentlichkeit des Landes/Bundeslandes. Praktisch alle sind für Bibliotheken sehr positiv: Es wird geschildert, welche Arbeit diese leisten und wie wichtig sie seien. Teilweise wird auch darauf verwiesen, was in den letzten Jahren von der Politik für Bibliotheken schon unternommen wurde. Angesichts dessen ist oft nicht nachzuvollziehen, warum überhaupt neue Planungen vorgenommen werden mussten. Manchmal wird darauf verwiesen, dass es in Zukunft gesellschaftliche oder andere Veränderungen geben werde, auf die Bibliotheken reagieren müssten oder aber darauf, dass Bibliotheken noch unerschlossene Potenziale hätten. Grundsätzlich vermitteln die Vorworte aber nicht den Eindruck, als gäbe es einen expliziten Entwicklungsdruck.
Die konkrete Zielgruppe der Pläne wird fast nie benannt. Inhaltlich wird oft erst erklärt, wie das Bibliothekswesen im jeweiligen Land/Bundesland überhaupt aufgestellt ist und welche Aufgaben Bibliotheken hätten. Zu erwarten wäre, dass in den Plänen entweder Bibliothekar*innen (die ihre Arbeit ändern könnten), die Träger von Bibliotheken (die z.B. ein höheres Budget zusprechen könnten) oder Politiker*innen (die z.B. landes-/bundeslandweite Regelungen erlassen könnten) direkt angesprochen werden. Das ist aber fast nie der Fall.
Einen grossen Teil der Pläne nimmt die Darstellung des jeweiligen Bibliothekswesens ein. Dieses wird oft in mehreren Varianten vorgenommen, also gleichzeitig als Text, in Tabellen mit statistischen Daten, in Graphiken – insbesondere auf Karten – und in Bildern aus dem Bibliotheksalltag.19 Diese stellen Bibliotheken fast immer als erfolgreiche Einrichtungen dar, welche mit einem breiten Angebot einen grossen Einfluss in der jeweiligen Gemeinde haben. Es werden dabei viele Behauptungen aufgestellt, die nicht belegt werden. So wird oft behauptet, dass Bibliotheken viele unterschiedliche Personen erreichen, aber das wird nicht (z.B. mit Statistiken oder auf Bildern) gezeigt. Gleichzeitig gibt es eine ganze Anzahl von Aussagen darüber, welche gesellschaftlichen, technologischen oder auch bibliothekarischen Veränderungen aktuell stattfänden. Auch diese sind häufig unbelegt. Gerade dann, wenn es um Veränderungen von Bibliotheken geht, sind diese sogar oft zeitlich falsch verortet. So werden Entwicklungen als aktuell beschrieben – beispielsweise die Ausweitung von Veranstaltungsangeboten oder die Hinwendung zu den Interessen der Nutzer*innen – die sich seit Jahrzehnten vollziehen (und beispielsweise auch schon bei den Diskussionen zum Bibliotheksplan 1973 thematisiert wurden).
Da es sich um Pläne handelt, würde man erwarten, dass die Planung zukünftiger Aktivitäten, Infrastrukturen usw. sowie daraus abgeleitete Forderungen an verschiedene Stellen einen grossen Teil dieser Pläne einnehmen würde. Aber: Wenn es solche überhaupt gibt, dann ist dies oft der kürzeste Teil der Texte. Was an zukünftigen Aktivitäten angedacht wird, ist oft recht breit und allgemein beschrieben. Es wird auch selten gesagt, wer die jeweiligen Pläne umsetzen sollte. Oft lesen sich diese Abschnitte eher wie Sammlungen allgemeiner Wünsche von Bibliothekar*innen für ihre Bibliotheken, aber nicht wie Herleitungen aus dem Status Quo und einem zu erreichenden Ziel.
Fast nie wird thematisiert, wie eigentlich überprüft werden könnte, ob die Ziele, die in den Plänen genannt sind, erreicht werden. Das scheint auch damit zusammenzuhängen, dass die Ziele ungenau beschrieben werden. Zudem scheint aber auch kaum einer der Pläne mit Blick darauf geschrieben worden zu sein, ihn in Zukunft fortzuschreiben.
In einer Anzahl von Plänen wird thematisiert, wie der Plan eigentlich erarbeitet wurde. In vielen Fällen ist er das Ergebnis von Prozessen, in denen Bibliotheken und andere Stakeholder ihre Interessen, Wahrnehmungen und Wünsche zusammentrugen. Teilweise wurde dies ergänzt, bspw. durch Umfragen – dann allerdings fehlt in den Plänen häufig eine Darlegung, wie die so erhobenen Daten für den Plan genutzt wurden. Es scheint oft, als ob das Erstellen der Pläne vor allem genutzt wurde, um einen Selbstverständigungsprozess der Bibliotheken im jeweiligen Land zu organisieren.
Eine erstaunliche Leerstelle der Pläne ist, dass sie fast nie die eigentliche politische Struktur thematisieren, denen Bibliotheken in den beiden Ländern unterliegen: Bildung und Kultur ist in ihnen Sache der Länder/Bundesländer (und nicht des jeweiligen Bundes). Die Träger der Bibliotheken vor Ort sind letztlich (auch wenn sie die tatsächliche Arbeit an andere Träger wie Vereine, Stiftungen, gemeinnützige Firmen oder Kirchgemeinden auslagern) die Gemeinden. Die Länder/Bundesländer können den Gemeinden nur wenige Vorschriften dazu machen, wie diese ihre Bibliotheken führen, ausser dies ist gesondert gesetzlich geregelt. Länder/Bundesländer können aber übergreifende Infrastrukturen unterhalten, einmalig Fördermittel zur Verfügung stellen und zur Zusammenarbeit motivieren. Zudem können sie (und in Österreich auch der Bund) kontinuierliche Förderungen für Bibliotheken ausloben, die an definierte Voraussetzungen gebunden werden.20 Jede Bibliotheksplanung auf Landes-/Bundeslandebene müsste diese Strukturen bedenken. Aber nur der österreichweite Plan thematisiert diese überhaupt, ohne daraus wirklich Schlüsse zu ziehen. In den anderen Plänen werden sie gar nicht erwähnt.
Wie schon angesprochen, wurde im Laufe der Recherche das Ziel, diese Pläne methodisch zu analysieren (also an ihnen zu forschen), aufgegeben. Umgangssprachlich gesagt hinterliessen sie, nacheinander gelesen, beim Autor eine grosse Frustration, die es sinnvoller erscheinen liess, die Pläne subjektiv zu bewerten.21
Um noch einmal auf ehemalige Pläne zu verweisen: Als der Bibliotheksplan 1973 veröffentlicht wurde, enthielt er klare Tabellen mit Werten, die in Zukunft erreicht werden sollten und Forderungen an die Träger der Bibliotheken, dafür Mittel bereitzustellen. In der DDR, mit ihren Verordnungen, Richtlinien und regelmässigen Plänen, existierten ebenso Vorgaben, deren Erfüllung direkt Einrichtungen (den Gemeinden, den Betrieben/Gewerkschaften, den Bezirken usw.) zugeschrieben wurden. Sowohl im Bibliotheksplan 1973 als auch in der DDR war einigermassen klar, was die Ziele der Bibliotheksplanung waren (bibliothekarische Versorgung der Bevölkerung, Ermöglichung der Demokratie in der BRD, Erziehung zur «ganzheitlich entwickelten sozialistischen Persönlichkeit» in der DDR) und wer dabei welche Aufgaben hatte.
Das ist bei den aktuell vorliegenden Bibliotheksentwicklungsplänen überhaupt nicht gegeben. Es ist bei ihnen nicht klar, wer angesprochen wird, welche Ziele die jeweiligen Bibliotheksentwicklungen haben sollen und wer dabei welche Aufgaben haben soll. Egal, wer diese Pläne heute liest: Es ist nachher nicht klar, was getan werden soll. Träger oder Politiker*innen, welche ein Interesse daran hätten, sich für Bibliotheken einzusetzen, werden nach dem Lesen nicht wissen, was genau sie jetzt ändern sollten. Vertreter*innen der breiten Öffentlichkeit wüssten ebenso nicht, von wem sie etwas fordern sollten, um Bibliotheken zu unterstützen. Auch Bibliothekar*innen werden von den Plänen recht allein gelassen. Ein Grund dafür ist, dass die Pläne den Status Quo fast durchgängig positiv darstellen.22 Sie sagen nicht, warum überhaupt etwas verändert werden muss. Gerade wegen ihres Designs wirken sie deshalb oft eher wie Werbeschriften für Bibliotheken – aber ohne klar darzustellen, was mit ihnen «verkauft» werden soll.23
Im Ganzen vermitteln die Pläne oft den Eindruck einer gewissen «Abgehobenheit». In Vielem scheinen sie eher «luftige» Wünsche zu versammeln als konkrete Forderungen. Dies wird dadurch unterstützt, dass fast immer ein konkreter Zeithorizont fehlt, also das nicht klar ist, ob etwas in einem Jahr umgesetzt sein soll oder erst in einer fernen Zukunft. Erstaunlich ist, dass praktisch nie konkrete Finanzforderungen gestellt werden – zu denen «Ja» oder «Nein» zu sagen in der Politik möglich wäre. In diesem Zusammenhang erinnern die Verweise auf partizipative Prozesse bei der Erstellung etc., die sich in einigen Plänen finden, eher an eine Strategie, um durch ein Sammeln von noch mehr Daten, konkrete Entscheidungen in eine unbestimmte Zukunft zu verschieben.
Dieser grundsätzliche Eindruck führt zu der Vermutung, dass es sich bei diesen Plänen gar nicht um Pläne, sondern um eine andere Form von Dokumenten handelt: Um Diskursdokumente zur Selbstvergewisserung der Bibliotheken. Vielleicht ungewollt scheint es, als würde in diesen Plänen vor allem dargestellt, wie sich Bibliothekar*innen vorstellen, dass Bibliotheken heute funktionieren würden. Dies wird unterstützt durch den Aufbau und das Design der Pläne: Die Forderungen sind oft unkonkret, nicht evaluierbar und oft auch erstaunlich gleichförmig (allerdings jeweils «gleichförmig» im jeweiligen Land, d.h. in Österreich finden sich andere Ideen immer wieder – z.B. ein gemeinsames Signet für alle Bibliotheken des jeweiligen Landes – als in Deutschland). Im Vergleich dazu sind die Abschnitte zum Status Quo lang und konstruieren Bibliotheken jeweils als Einrichtungen, die für eine möglichst grosse Zahl an Personen in diversen, demokratischen Gesellschaften möglichst viele Angebote machen und die ein Zentrum des öffentlichen Lebens in ihrer Gemeinde darstellen.
Zu Beginn dieses Beitrags wurde gesagt, dass er auch entstand, um zu klären, ob für die schweizerischen Bibliotheken – dann auf Kantonsebene bzw. in Liechtenstein auf Landesebene – empfohlen werden kann, solche Pläne zu erstellen. Bei der Lektüre dieses Textes ist vermutlich klar geworden, dass der Autor davon abrät. Abgesehen davon, dass es in der Schweiz – durch die noch stärkere Gemeindeautonomie und die grösseren Unterschiede in der Struktur der Kantone – noch komplizierter wäre, zu bestimmen, welche bibliothekspolitischen Forderungen an welche Stellen gestellt werden könnten, scheint es keine klare Funktion für diese Entwicklungspläne zu geben. Wie dargestellt, ist bei Ihnen praktisch nie klar, an wen sie sich richten, was sie planen oder was sie fordern. Es ist auch offensichtlich, dass sie nicht in einer Reflexion über die Erfolge oder Misserfolge der Bibliotheksplanungen der letzten Jahrzehnte verortet sind.
Wenn etwas aus den Plänen gelernt werden könnte, dann, was eine sinnvolle Entwicklungsplanung enthalten sollte: Sie sollte vermeiden, bei «luftigen» Aussagen stehen zu bleiben. Sie sollte klarstellen, an wen sie sich richtet, was sie fordert und für welche Zeiträume diese Forderungen gestellt werden. Sie sollte klären, welche Ziele erreicht werden sollen, also wie Bibliotheken in Zukunft sein und was sie leisten sollten. Sie sollte auch klären, was überhaupt einer Veränderung bedarf. Sie sollte nicht vergessen, wie sich die Bibliotheken in den letzten Jahrzehnten tatsächlich entwickelt haben (und sich dabei nicht mit Behauptungen darüber zufriedengeben, was sich angeblich «jetzt aktuell» ändert) und welche Erfolge oder Misserfolg die früheren «Runden von Bibliotheksplanungen» hatten. Zudem sollten sie die politische Struktur, in welcher Bibliotheken verortet sind, mit bedenken.
Insgesamt – für die verschiedenen nationalen Bibliothekswesen im gesamten DACH-Raum – sollte aber, anstatt einfach weitere dieser Pläne zu erarbeiten, innegehalten werden, um einige Frage zu klären: Was ist aus den vorherigen Plänen zu lernen? Was soll die Aufgabe dieser Pläne heute sein? Mit welchen Zielen werden sie eigentlich durchgeführt? Gibt es überhaupt ein Interesse von Bibliotheken oder deren Trägern, der Politik, der Öffentlichkeit an ihnen?