Mit „Institutionenethik als Verantwortungsethik“ legt Frauke Schade eine umfassende Monografie vor, die sich das ambitionierte Ziel setzt, „eine Institutionenethik zu konzipieren, mit der Institutionen und institutionelle Zusammenschlüsse des Berufsfeldes Bibliothek und Information ethische Fragen klären, Verantwortung konkret zuschreiben und eine klare ethische Position institutionalisieren können.“ (S. VII). Damit wäre für den deutschen Sprachraum erstmalig eine Institutionenethik für dieses Berufsfeld etabliert, denn die vorliegenden Kodizes adressieren vor allem die Handlungsweise der individuellen Akteur*innen – also der in den Institutionen beschäftigten Personen – und sind somit der Individualethik zuzurechnen, während die für das Thema Informationsethik in Deutschland impulsgebenden Publikationen von Capurro, Kuhlen und Rösch eher Bedarf, Handlungsfelder und Schwerpunktthemen ethischer Überlegungen in diesem Kontext formulieren. Die vorliegende Publikation ist also eine echte Pionierarbeit.
Die Autorin ist seit 2006 Professorin für Informationsmarketing, Public Relations und Bestandsmanagement an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg und engagiert sich seit vielen Jahren in verschiedenen bibliothekarischen Berufsverbänden und ‑gremien, unter anderem von 2013 bis 2022 als Vorstandsmitglied der Konferenz der informations- und bibliothekswissenschaftlichen Ausbildungs- und Studiengänge (KIBA) / Sektion 7 des Deutschen Bibliotheksverbandes (dbv). In ihren zahlreichen Publikationen hat sich Schade bisher vor allem mit Fragestellungen aus den Bereichen des Bibliotheks- und Informationsmarketings und des Bestandsmanagements befasst, daher erstaunt es zunächst, dass sie sich in ihrer 2023 fertiggestellten Dissertation, die die Grundlage der vorliegenden Monografie darstellt, nun dem Thema Ethik zuwendet. Das Ergebnis zeigt, dass ihr diese inhaltliche Neuaufstellung in einem äußerst anspruchsvollen und komplexen Themengebiet mehr als gelungen ist.
Die Autorin sieht in dem modernen, auf Max Weber zurückgehenden Verantwortungsbegriff die Schlüsselkategorie für die Fundierung ethischer Konzepte in einer zunehmend komplexen und dynamischen Welt. Weber entwickelte diesen Begriff der Verantwortungsethik im Kontrast zur Gesinnungsethik: Während der gesinnungsethisch Handelnde sein Tun auf Maximen, also fundamentale Haltungen und Einstellungen, gründet, fragt die Verantwortungsethik nach den Folgen des Handelns (vgl. S. 60). Sie soll eine Antwort auf die Frage geben, wie in der steigenden Komplexität funktional differenzierter Gesellschaften Zuständigkeiten für Handlungsfolgen bestimmt werden können. Schade benennt sechs „Verantwortungsrelata“ (S. 315), die diese Zuschreibung strukturieren: wer? (Verantwortungsträger*in), wofür? (Verantwortungsobjekt), wem gegenüber? (Verantwortungsadressat*in), warum? (Kriterien zur Bewertung von Verantwortung), wovor? (Verantwortungsinstanz) und wann? (Zeitpunkt, an dem Verantwortung fällig wird) (vgl. S. 315f.).
Ausgehend von der Frage, „ob und unter welchen Bedingungen Verantwortung auch in höherstufigen Handlungsprozessen Individuen, Kollektiven und Korporationen zugeschrieben werden kann“ (S. 66), legt Schade den Fokus nicht primär auf die individuellen Akteur*innen, sondern auf die übergeordneten Institutionen, wobei die Institution Bibliothek im Zentrum der Betrachtung steht. Die verantwortungsethisch basierte Institutionenethik für das Berufsfeld Bibliothek und Information soll einen institutionellen Orientierungsrahmen für den Umgang mit ethischen Fragen und Konflikten liefern, um die in diesem Berufsfeld tätigen Individuen in Situationen, die ethisches Reflektieren, Urteilen, Entscheiden und schließlich auch Handeln verlangen, von Überforderungen zu entlasten (vgl. S. 99f). Diese Situationen sind dann gegeben, wenn Entscheidungen getroffen werden müssen, die einen Wertebezug haben und die sich nicht oder nicht allein auf der Grundlage von Gesetzen treffen lassen. Als Beispiele nennt Schade etwa Fragen der Informationsversorgung, aber auch der Wahrung des kulturellen Erbes und des Schutzes geistigen Eigentums sowie der Partizipation und Inklusion (vgl. Klappentext). Die Adressat*innen des Werkes sind laut Schade die Einrichtungen des bibliotheks- und informationswissenschaftlichen Berufsfeldes, womit sowohl die Bibliotheken als auch die bibliotheks- und informationswissenschaftlichen Berufsverbände sowie die für die Qualifikation des bibliotheks- und informationswissenschaftlichen Nachwuchses zuständigen Hochschulen und Ausbildungseinrichtungen gemeint sind.
Das Buch gliedert sich in sechs Kapitel. Das erste trägt den Titel „Ethik“. Es bietet zunächst eine Einführung in den Gegenstandsbereich dieses Teils der praktischen Philosophie und geht im zweiten Schritt auf deren verschiedene Teildisziplinen ein. Das zweite Kapitel führt in den Begriff der Verantwortung ein und stellt die Entwicklung dieses begrifflichen Konzepts von der Antike bis in die Gegenwart vor. Im Anschluss an diesen historischen Abriss werden systematische Fragestellungen mit Bezug auf den modernen Verantwortungsbegriff behandelt (Verantwortung als Relationskonzept, als Struktur- und Steuerungselement, als kontextualistisches Reflexionsprinzip, Grenzen und Expansion von Verantwortung). Das dritte Kapitel stellt unter dem Titel „Angewandte Ethik – Gegenstand und Bezugsrahmen von Library and Information Science (LIS)“ das Berufsfeld Bibliothek und Information vor: das deutsche Bibliothekssystem mit seinen Institutionen, Strukturen und Kooperationsbeziehungen, einschließlich der qualifizierenden Einrichtungen. Im vierten Teil legt die Autorin die Ergebnisse einer Literaturauswertung zur Rolle und Funktion des Konzepts der Verantwortung in der Informations- und in der Medienethik vor, wobei sie auch hier von einem historischen Rückblick ausgeht und anschließend die Bezüge zum Konzept der Verantwortung in beiden Ethiken herausarbeitet. Das fünfte Kapitel trägt den Titel „Deskriptive Bibliotheksethik“ und bietet einen Überblick über die „Leitwerte“ im Berufsfeld Bibliothek und Information, die sich in den verschiedenen berufsethischen Positionierungen und Kodizes vor allem bibliothekarischer Verbände finden, sowie eine Darstellung des sich darin manifestierenden bibliothekarischen Wertekanons, der in einem Wertetableau präsentiert wird (vgl. S. 282ff.). Das Kapitel schließt mit einer Inbezugsetzung des Konzepts der Verantwortung zu diesem Wertetableau mit Blick auf die Konsequenzen für eine Institutionenethik. Im sechsten Kapitel wird das Gesamtergebnis unter dem Titel „Die „Institutionenethik für das Berufsfeld Bibliothek und Information in Deutschland“ vorgestellt. Die Arbeit schließt mit Überlegungen zur praktischen Einführung und Umsetzung der vorgelegten Institutionenethik in einzelnen Einrichtungen („Prozessethisches Verfahren“), aber auch im bibliotheks- und informationswissenschaftlichen Gesamtsystem in Deutschland.
Das Werk enthält ein umfassendes Literaturverzeichnis, das in ein „Primärverzeichnis“ mit Werken, die bei der Erstellung der Arbeit verwendet wurden, und ein „Sekundärverzeichnis“ mit weiterführenden Werken unterteilt ist. Erschlossen ist es durch ein alphabetisch geordnetes Personenregister und ein Stichwortregister. Es enthält weiterhin ein Abbildungsverzeichnis, ein Tabellenverzeichnis und ein Abkürzungsverzeichnis.
Es ist das große Verdienst der Autorin, den vor allem in Deutschland mageren Fachdiskurs zu Fragen der Bibliotheks- und Informationsethik um ein umfassendes, grundlegendes und inhaltlich originelles Werk zu bereichern. Das Buch setzt den im deutschen Sprachraum maßgeblich von Capurro, Kuhlen und Rösch initiierten Diskurs über die Grundlegung einer Informationsethik fort und erweitert ihn zugleich um die umfassende theoretische Fundierung als Verantwortungsethik und die Adressierung der institutionellen Ebene. Schade gelingt es dabei, diese ebenso anspruchsvolle wie komplexe Thematik für die Leser*innen so zu strukturieren und aufzubereiten, dass auch Personen ohne philosophische Vorkenntnisse den Ausführungen folgen können.
Zu den wichtigsten Ergebnissen das Werkes zählt die analytische Verdichtung der sich in verschiedenen informationsethischen Positionspapieren und Kodizes findenden berufsethischen Werte im Berufsfeld Bibliothek und Information auf sechs moralische Kernkategorien: Freiheit, Gleichheit, Meinungs- und Informationsfreiheit, Wahrheit, Neutralität und Professionalität. Die dabei eingezogene, zunächst begrifflich irritierende Unterscheidung zwischen moralischen und außermoralischen Werten hilft dabei, in diesem Feld zwischen Haltungen bzw. Einstellungen auf der einen Seite sowie Tätigkeiten und Funktionen von Einrichtungen und ihren Mitarbeiter*innen auf der anderen Seite zu unterscheiden. Unter moralischen Werten werden hier fundamentale Wertehaltungen (Gerechtigkeit, Freiheit, Wahrheit) verstanden, außermoralische Werte sind dagegen zweckgerichtet bzw. auf einen Nutzen ausgerichtet und benennen Handlungen, die zu diesem Zweck führen, wie beispielsweise die Förderung von Informationskompetenz oder auch der Schutz der Privatsphäre (vgl. S. 240f).
Das am Ende des Werkes präsentierte „Wertetableau“ (S. 282 ff.) stellt eine um Redundanzen und außerethische Aspekte bereinigte inhaltliche Synthese der verschiedenen nationalen Ethik-Kodizes des deutschsprachigen Raums sowie der Ethik-Kodizes der IFLA und der ALA dar, ergänzt um informationsethisch relevante Werte, die sich entweder aus Grundrechtsartikeln oder aus den in der Agenda 2023 der Vereinten Nationen formulierten Nachhaltigkeitszielen ergeben. Das auf diese Weise generierte Wertetableau soll das so erkennbarere, gemeinsame Werteverständnis im Berufsfeld Bibliothek und Information dokumentieren und konsolidieren. Zugleich soll es den Einrichtungen der Berufspraxis eine orientierende Grundlage liefern, um ihr eigenes Werteverständnis, zum Beispiel in Form eines Leitbildes oder ethischer Richtlinien, zu entwickeln (vgl. S. 281). Dabei wird die intendierte Konzeption der Arbeit als Institutionenethik aus Sicht der Rezensentin nicht ganz konsequent umgesetzt, da im Wertetableau explizit nicht zwischen individual- und institutionenethischen Werten unterschieden wird (vgl. S. 287). Ziel ist es vielmehr, „Mitarbeitenden in Institutionen und den Institutionen selbst eine Grundlage zu geben, sich auf organisationsspezifische Werte zu verständigen, die dann individual- und institutionenethisch umgesetzt werden“ (S. 287). Diese leichte Unschärfe in der „Flughöhe“ der vorgelegten ethischen Konzeption mindert die beeindruckende Gesamtleistung jedoch nicht. Sie bietet vielmehr Anlass für die lohnende Weiterentwicklung dieses ebenso grundlegenden wie eigenständigen Ansatzes.
Die für die Integration in die Praxis vorgeschlagenen „Prioritätenregeln“ (vgl. S. 317ff.) stellen für Schade das wichtigste im Rahmen der Arbeit vorgestellte Instrument der ethischen Urteilsbildung und Entscheidungsfindung dar. Sie sind ein Vorschlag für die Abwägung der ethischen Relevanz und die Hierarchisierung von Werten in einem Feld, in dem sich deren Handlungsimplikationen bzw. ‑folgen gegenseitig praktisch ausschließen würden, wie dies insbesondere bei ethischen Dilemmata der Fall ist (vgl. S. 317ff.). Hiermit liefert Schade einen wichtigen Beitrag zur Verbindung zwischen Theorie und Praxis der Informationsethik, indem sie aufzeigt, wie der Prozess der Urteilsbildung bei in Konflikt tretenden Handlungsimplikationen – zum Beispiel des Wertes der Meinungs- und Informationsfreiheit und des Wertes der Menschenwürde bei der Frage der Bereitstellung von Medien oder Informationen mit menschenverachtenden Inhalten – gestaltet werden kann.
Eine weitere für die Umsetzung in die Praxis wesentliche Komponente ist das von Schade vorgestellte prozessethische Verfahren, das einen konkreten Prozessablauf für die Behandlung ethischer Fragestellungen und Konflikte im organisatorischen Kontext abbildet. Dieser Prozessablauf soll dazu beitragen, die einzelnen Akteur*innen bei ihren Entscheidungen zu entlasten, indem konkrete Schritte der Aktion und Interaktion auf dem Weg zu einer ethischen Analyse und Entscheidungsfindung innerhalb der Strukturen einer Einrichtung vorgezeichnet werden, wobei die Zuständigkeiten transparent verteilt sind (vgl. S. 320ff.). Der Prozess verläuft von der individuellen Selbstreflexion über die gemeinsame Diskussion ethischer Fragen im Team bis zur Organisation des Prozesses durch einen Ethikbeauftragten, beispielsweise in Form einer Ad-hoc-Arbeitsgruppe, die dann Positionen und Handlungsempfehlungen erarbeitet, die abschließend von dem oder der Ethikbeauftragten konsolidiert werden (vgl. S. 323). Fraglich bleibt, ob dieser Prozess auch für kleinere Bibliotheken praktikabel ist bzw. wie eine Kooperation im Bereich der Ethik aussehen könnte, die kleinere Einrichtungen hierbei entlastet.
Im Schlusskapitel macht Schade explizit deutlich, dass die Initiierung von berufsethischen Diskursen – und damit auch eines Diskurses über Inhalt und Umsetzung der von ihr vorgestellten Institutionenethik – in erster Linie die Aufgabe der bibliothekarischen Verbände, vor allem des Dachverbandes Bibliothek & Information Deutschland (BID) ist (vgl. S. 324). Diesen sieht sie in der Verantwortung, einen breiten Diskurs ins Leben zu rufen, um eine institutionenethische Grundsatzerklärung für das Berufsfeld Bibliothek und Information in Deutschland zu verabschieden, analog der „Library Bill of Rights“ der ALA. Auch an dieser Stelle zeichnet Schade den erforderlichen Prozess der Umsetzung klar vor und macht damit implizit auf die Versäumnisse in diesem Bereich aufmerksam. Deutschland wird seine Nachzüglerrolle im Bereich der Informationsethik nur überwinden können, wenn die zentralen Organe des Berufsfeldes dieses Thema prominenter als bisher auf die Agenda setzen.
Schade liefert mit dem vorliegenden Werk ein theoretisch fundiertes und zugleich auf die Rahmenbedingungen der Praxis bezogenes Konzept einer verantwortungsethisch basierten Institutionenethik für das Berufsfeld Bibliothek und Information. Neben einem analytisch erarbeiteten inhaltlichen Wertekanon umfasst es konkrete Verfahrensvorschläge für die Umsetzung auf der Ebene einzelner Einrichtungen und des gesamten Bibliothekssystems in Deutschland. Kleinere Schwächen bestehen in der schon angemerkten, in Teilen unklaren „Flughöhe“ des Konzepts sowie in der in diesem Kontext unnötigen Ausführlichkeit des dritten Kapitels über das Berufsfeld Bibliothek und Information in Deutschland. Hier hätte auf vorliegende Übersichtswerke verwiesen werden können.
„Institutionenethik als Verantwortungsethik“ ist sowohl für am Thema interessierte Berufspraktiker*innen als auch für Studierende der Bibliotheks- und Informationswissenschaft eine lohnende und gewinnbringende Lektüre und wird sich sicher als Standardliteratur in Lehrveranstaltungen zu bibliotheks- und informationswissenschaftlichen Themen und Fragestellungen etablieren. Darüber hinaus ergänzt es die insbesondere in Deutschland rare Forschungsliteratur im Bereich der Informationsethik um einen eigenständigen und originellen Ansatz, der hoffentlich in weiteren Arbeiten fortgeführt und weiterentwickelt wird. Leider ist das Buch nicht kostenfrei als Open-Access-Version verfügbar, was insbesondere aufgrund der hohen Aktualität und Relevanz des Themas für Forschung, Lehre und Praxis zu bedauern ist. Dieses Desiderat könnte bei einer Neuauflage sicher erfüllt werden. Die Rezensentin hat das Werk mit großem Gewinn gelesen und wünscht ihm eine breite und interessierte Leser*innenschaft.