Das DFG-Infrastrukturprojekt EthnOA – Open Access in den ethnologischen Fächern ist im Oktober 2023 angetreten, Open Access im ethnologischen Fächerspektrum – dazu zählen die Europäische Ethnologie/Empirische Kulturwissenschaft und die Sozial- und Kulturanthropologie/Ethnologie – zu begleiten und weiter voranzutreiben.1 EthnOA gestaltet die Open-Access-Transformation wissenschaftlicher Fachpublikationen auf unterschiedlichen Wegen mit: Zentral sind einerseits infrastrukturelle Maßnahmen, darunter der Aufbau und Betrieb von Repositorien für textuelle und audiovisuelle Erst- und Zweitpublikationen2 sowie die Begleitung der Open-Access-Transformation von drei Fachzeitschriften.3 Andererseits widmet sich das Projekt der Diskussion und Vermittlung von Wissen und Techniken für das Open-Access-Publizieren.
Das folgende Gespräch zwischen den Projektbeteiligten Anne Dippel, Sarah Thanner und Kathleen Heft nimmt fachliche Perspektiven sowie den Brückenschlag zwischen Debatten und Praxen in den ethnologischen Fächern und infrastrukturellen Perspektiven auf Open Access in den Blick. Anne Dippel ist Mitantragstellerin des EthnOA-Projekts und Mitherausgeberin der Zeitschrift für Empirische Kulturwissenschaft (ZEKW), Sarah Thanner ist Projektmitarbeiterin und führt eine ethnografische Begleitforschung durch, Kathleen Heft koordiniert EthnOA am Fachinformationsdienst Sozial- und Kulturanthropologie (FID SKA) und arbeitet an der Schnittstelle von infrastrukturellen und fachspezifischen Bedarfen.4
Kathleen Heft: Wenn ich über Open Access in den ethnologischen Fächern nachdenke, freue ich mich über das, was bereits erreicht wurde: Im Rahmen von EthnOA wurden drei etablierte, deutsche Fachzeitschriften aus der Empirischen Kulturwissenschaft und Sozial- und Kulturanthropologie nach Open Access transformiert. Die Zeitschrift für Empirische Kulturwissenschaft stellte bereits Ende 2022, in der Antragsphase des EthnOA-Projekts, auf Open Access um, die Zeitschrift für Ethnologie und Curare folgten dann im Jahr 2024. Über ein Subscribe-to-Open-Modell – die Finanzierung der Zeitschriften wird über die Mitgliedsbeiträge der Fachgesellschaften getragen, wobei zwei Zeitschriften seit Januar 2025 über das konsortiale Finanzierungsprojekt KOALA5 teilfinanziert werden – wird nicht nur Gold, sondern sogar Diamond Open Access ermöglicht.
Darüber hinaus wird Open Access im Fächerspektrum zunehmend nachgefragt und umgesetzt, nicht zuletzt in internationalen Diamond-Open-Access-Zeitschriften.6 Flankiert werden diese Entwicklungen durch eine breite Debatte, die Hintergründe, Modalitäten und Implikationen von Open Access für die ethnologische Forschung und das ethnografische Schreiben und Publizieren kritisch reflektiert. Mitte der 2010er Jahre, als in den USA bedeutende sozial- und kulturanthropologische Zeitschriften auf Open Access umgestellt haben, schien es eine regelrechte Open-Access-Euphorie zu geben.7 Habt ihr das hier im deutschen Kontext auch so wahrgenommen?
Anne Dippel: Unbedingt, die Mitglieder unserer beiden Fachgesellschaften8 haben auf Vollversammlungen im Jahr 2021 in großer Mehrheit für eine rasche Umstellung auf Open Access gestimmt. Ich war bei den Abstimmungen dabei, das war überwältigend, über neunzig Prozent wollten Open Access. Das war völlig klar. Da wurde noch nicht über Lizenzen oder Konsequenzen gesprochen. Es hieß einfach: Ja, das muss jetzt sein und wir sind hinterher.
Meine persönliche Euphorie war an die Hoffnung gebunden, dass unsere fachlichen Beiträge mehr gelesen und wahrgenommen werden. Aber diese gesteigerte Sichtbarkeit lässt sich schwer messen. OJS zählt die Seitenaufrufe, nicht die Downloads. Aber wie aussagekräftig sind diese, wenn Nutzer*innen je nach Cookie-Präferenz den Abruf registrieren lassen oder nicht? Parallel dazu liegen die Downloadzahlen vom Waxmann-Verlag vor, auf dieser Basis erscheint eine Printausgabe parallel zum Analogen übrigens als sinnvoll. Nach der Open-Access-Transformation habe ich den Eindruck, wenn ich mit den Kolleg*innen spreche, dass sie die Zeitschrift nicht in gleichem Maße lesen wie vorher. Für mich ist es etwas anderes, ob ich eine Zeitschrift als Objekt aus dem Briefkasten hole oder online abrufe. Das aktuelle Format erlaubt zwar das Herunterladen der gesamten Zeitschrift, aber die geschlossene Kuratierung der Herausgebenden steht nun weniger im Vordergrund. Wenn ich die gedruckte Ausgabe in den Händen halte, dann blättere ich, schaue auch mal in einen Artikel, der mich eigentlich gar nicht so interessiert. Online suche ich gezielt nach Artikeln. Es zeichnet sich eine spezifische Nutzung ab, vor allem werden Einzelartikel aufgerufen.
Nun ist die Hoffnung, dass durch die richtige Indexierung und Schlagwortverzeichnisse auch fachferne Wissenschaftler*innen auf unsere Zeitschrift stoßen. Ich hatte auch die Hoffnung, dass unsere Zeitschrift nicht nur mehr gelesen wird, sondern auch größeren Zulauf bekommt, mehr Einreichungen bekommt, dass wir mit der Open-Access-Transformation attraktiver werden. Das ist nicht wirklich der Fall, denn die Infrastruktur ändert nichts an den aktuellen Produktionsbedingungen im internationalen Wissenschaftsbetrieb.
Kathleen Heft: Mein Eindruck war auch, dass die Open-Access-Euphorie der 2010er Jahre noch andere Aspekte betraf: Open Access eröffnet den Austausch darüber, wie im Fach publiziert wird, wie und für wen geschrieben wird. Neben infrastrukturellen Fragen9 ging es auch darum, aber da könnt ihr mich korrigieren, das ethnologische Schreiben und Publizieren vielleicht sogar zu revolutionieren, die Teilhabe von Wissenschaftler*innen und Forschungspartner*innen im Globalen Süden zu verbessern und über neue digitale Formate den Zugang zu ethnologischem Wissen zu erleichtern. Open Access wurde als Chance verstanden, sich (erneut) mit solchen Fragen auseinanderzusetzen. Anne, du selbst hast das in einem Text zur ersten Open-Access-Ausgabe der ZEKW angedeutet.10
Anne Dippel: Das stimmt. Diese Hoffnung habe ich auch bei Fachtreffen von anderen nationalen Fachzeitschriften vernommen, die in nicht-englischen wissenschaftlichen Fachsprachen erscheinen, also zum Beispiel aus der Slowakei oder Kroatien, die ganz ähnliche Vorstellungen damit verbunden haben. Alle teilten die gleiche Vision, dass man nicht bezahlt, dass Wissenschaftler*innen nicht auch noch etwa 2.000 Euro zahlen für eine Publikation.
Sarah Thanner: Ja, das kann ich nur unterstreichen. Meine Begleitforschung steht ja noch am Anfang, aber diese Hoffnung, im Zuge der Umstellung auf Open Access mehr wahrgenommen und mehr zitiert zu werden, die ist mir gleich zu Beginn ganz oft begegnet. Es geht um Klicks und Downloadzahlen und darum, gegenüber großen internationalen Journals eine Stellung zu behalten. Man jagt der Erwartung gesteigerter Sichtbarkeit hinterher. Aber ich frage mich: Wo ist diese Sichtbarkeit? Und inwiefern geht es hier noch um die Ermöglichung gesellschaftlicher Teilhabe und einer Demokratisierung von Wissen? Wer liest all das, was publiziert und massenhaft verfügbar gemacht wird? Und an welcher Stelle erfindet sich der Wissenschaftsbetrieb wirklich neu? Wie steht es um die transformatorischen Versprechen? Entstehen hier innovative Formate, die eine neue Publikationskultur denken, oder arbeitet man sich an Infrastruktur und Verfügbarmachung ab? Ich oszilliere dabei immer hin und her zwischen: „Wir stoßen hier wichtige Prozesse an“ und „Mir kommen die Versprechungen alle ein bisschen leer vor“.
Anne Dippel: Noch immer zählt der h-Index bei Bewerbungen, ein neoliberales Tool, das jedoch für die Qualitätseinschätzung irreleitend ist. Unsere Zeitschrift hat keinen hohen Impact-Faktor. Wir sind die Local Dealer des Vertrauens. Wir liefern die bestmögliche editorische Arbeit und bereiten Karrieren vor, kuratieren Begriffe, Diskussionsräume. Aber in quantifizierbaren Logiken lässt sich all das, was Wissenschaft zusammenhält, schlecht ausdrücken. Deshalb sind wir auf EthnOA und die Subventionierung der Transformation durch die DFG angewiesen. Sie folgt ihrem Auftrag und schützt wissenschaftliches Arbeiten durch die Unterstützung und Schaffung von Infrastruktur. Der Digitalisierung ist nicht zu entkommen. Wir brauchen Diamond Open Access, um in plattformökonomisch geprägten Zeiten der Informationsdistribution unser Wissen der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen und den Produktionsbedingungen der Akademia gerecht zu werden.
Ein anderer Teil der Euphorie war, dass wir Forschung aus dem Globalen Süden anders sichtbar machen können und Zitationsdominanzen auflösen, den Dialog mit unseren Feld- und Forschungscommunities stärken können. Und, dass es attraktivere Publikationsformate geben würde, ein Auftreten, das dem digitalen Zeitalter entspricht. In unserer Fachzeitschrift haben wir seit der Open-Access-Transformation keine einzige ernstzunehmende Einreichung von außerhalb Deutschlands erhalten; andere Zeitschriften setzen vor allem auf Special Issues, um ihre Ausgaben zu füllen.
Was ich hingegen sehr positiv an der Open-Access-Transformation sehe für unser Fachspektrum, ist, dass wir unsere institutionell gewachsenen, varietätenreichen und konkurrierenden Standorte und Lehrstühle aufrechterhalten können, aber über die Publikationskultur zusammenrücken. Im Kontext von EthnOA diskutieren wir im Fachspektrum mehr miteinander – wir bewirken Vergleiche und Differenzen und kommen ins Gespräch. Ein Dialog auf Augenhöhe, von zwei gestandenen Fachgesellschaften – beide über 100 Jahre alt –, beschränkt sich nicht mehr nur auf sporadische persönliche Kontakte. Es braucht diesen Austausch, um das völkische und koloniale Erbe der Fächer reflektiert überwinden zu können.
Kathleen Heft: In einem Gespräch mit Ethnolog*innen ist mir noch einmal klar geworden, welche komplexen Implikationen Digitalisierung auf die Publikationskultur hat. Ethnologische Forschung findet oft in Kontexten und mit Menschen statt, deren Lebenszusammenhänge und Wissensbestände besonders geschützt werden müssen. Selbst gewissenhaft anonymisierte Publikationen lassen sich mit digitalen Mitteln (Durchsuchbarkeit, Triangulation mit anderen frei zugänglichen Publikationen, KI-Anwendungen) mitunter doch wieder de-anonymisieren. Das ist zumindest die Sorge. Einwilligungen von Forschungspartner*innen wurden womöglich für analoge Fachpublikationen gegeben – also für Texte, die nur von Wenigen gelesen werden –, aber nicht für weltweit offen zugängliche Publikationen mit weitreichenden Nachnutzungsrechten.
Was macht der digitale Zugang mit der Art, wie in diesen Fächern geforscht wird, wie geschrieben wird, wie anonymisiert wird? Werden an den Universitäten bereits andere Praxen gelehrt? Ändert sich durch Open Access die Schreib- und Publikationskultur in den ethnologischen Fächern?
Anne Dippel: Die Hoffnung war natürlich auch, dass wir mit den Communities, mit denen und über die wir forschen, mehr Austausch haben, dass es eine neue Form von Sichtbarkeit gibt. Das Ganze hat immer zwei Seiten, das ist, um es mit Gabriele Alex zu sagen, die auch Teil des EthnOA-Projekts ist, ein zweischneidiges Schwert. So hieß auch ein Panel auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Sozial- und Kulturanthropologie (DGSKA) im Jahr 2023.11 Sichtbarkeit heißt auch verletzbar und angreifbar sein. Und natürlich gibt es die Frage des spezifischen Schutzes. Wir arbeiten nicht mit chemischen Substanzen, sondern eben mit Menschen, deren fragile Leben und Lebenszusammenhänge wir erforschen . Ich denke, das ist wirklich die fachspezifische Herausforderung. Sie wird in Zeiten autoritärer Konjunkturen umso bedeutsamer. Die Open-Access-Transformation sichert Wissenschaftsfreiheit, muss aber zugleich alle schützen, die daran beteiligt sind.
Kathleen Heft: Der Medienwandel vom analogen zum digitalen Publizieren in Open Access bringt noch weitere Veränderungen mit sich.
Anne Dippel: Die ZEKW ist eine Fachgesellschafts-, eine Verbandszeitschrift, die auch dazu dient, die Bandbreite aktueller Positionen im Fach sichtbar zu machen. Sie ist das Aushängeschild der DGEKW und schafft einen Diskursraum. In der ZEKW werden wir jetzt ein erstes Special Issue herausgeben, das sich dezidiert dem Comic als Medium für Wissenschaft öffnet – das ist aus meiner Sicht auch der erfolgreichen Open-Access-Transformation geschuldet. Neben der Öffnung fürs Englische haben wir mehr Formate, öffnen uns auch für Interviews. Solche Formate hatten wir vorher nicht. Open Access bietet Raum für Transformationsdesign von Publikationen im Digitalen. Wir sind wirklich sehr viel freier geworden in der Form, vorher war die ZEKW eine sehr klassische Fachpublikation mit Aufsätzen, in denen Forschungsarbeiten dargestellt worden sind, und einem Forum, in dem Fachfragen von Expert*innen verhandelt wurden.
Die Veränderungen der Fachkultur werden auch durch kleine, interdisziplinäre Studiengänge vorangetrieben, die gar keine spezifische Fachdenomination haben, z.B. “Umwelt und Gesellschaft” als Masterstudiengang. Hinzu kommen kulturanthropologische Spezialisierungen in interdisziplinären Arenen, die durch die multiplen Felder jeweils anders ausgerichtet sind. Wissenschaft differenziert sich immer stärker aus, wenige Wege führen zur Professur. Wenn du in der wissenschaftlichen Qualifikationsphase bist, also Promotion oder Postdoc-Phase, dann ist der Druck sehr groß, sowohl international in großen als auch zielgerichtet in kleinen Community-Zeitschriften zu publizieren.
Das heißt, eine Zeitschrift, wie die ZEKW, muss nicht nur Open Access gehen, wir müssten sie auch umbenennen und bräuchten z.B. einen englischen Namen. Das haben wir alles nicht getan. Und dann kommt man an diesen Punkt, wo man sich fragt: Wie soll eigentlich eine Zeitschrift im 21. Jahrhundert aussehen?
Sarah Thanner: Zur Frage der digitalen Transformation, wenn man dieses Wort nutzen möchte: Sie ist eng mit Open Access verbandelt, man kann den Medienwandel nicht nicht mitdiskutieren. Allerdings hat mich der Austausch mit dir, Kathleen, auch dazu angeregt, Open Access nicht als Auslöser dieses Wandels zu begreifen. Der Open-Access-Bewegung geht es um einen Gegenentwurf zu Verlagsmonopolen und darum, Zugang zu ermöglichen. Aber man muss sich dennoch vor Augen führen, dass die digitale Transformation ihre ganz eigenen Verstärkereffekte erzeugt und Open Access digital mediiert ist. Und wenn ich das dann mit dem Wunsch nach Sichtbarkeit zusammendenke und der Notwendigkeit, sich zu beweisen in einer sehr kompetitiven academia, dann ruft das Effizienzlogiken auf den Plan, die im Digitalen nochmal ganz anders funktionieren und eben auch in und durch Open Access wirken.
Anne Dippel: Meine Sorge ist, dass wir immer mehr in ein Publikationsrad reingepresst werden und immer schneller publizieren müssen. Es gibt diesen hohen Output in Open Access, aber der Datenverkehr im Netz ist stark konzentriert – und das spiegelt sich auch in Angeboten von OJS wider. Es gibt noch andere Veränderungen. Mit der Open-Access-Transformation ist der Druck zum Beispiel nicht geringer geworden, dass man perfekt in der Lage ist, auf Englisch zu schreiben.
Sarah Thanner: Ja, das macht mir auch Sorgen. Es geht nicht um den h-Index, da spielen wir in diesen kleinen Fächern eh nicht mit, aber trotzdem besteht z.B. von Seiten der Redaktionen der Wunsch, Impact und Reputation zu quantifizieren, eben z.B. durch Klicks. Das leistet einer Quantifizierungslogik Vorschub und die inhaltliche Qualität der Texte rutscht unbemerkt in den Hintergrund. Aber wir müssen uns natürlich damit beschäftigen, wie solche Abrufstatistiken zustandekommen und wie sie auch beeinflusst werden können.
Anne Dippel: Die Lesendenkalkulation für die gedruckte Ausgabe beschränkte sich auf die Zählung der beitragzahlenden Mitglieder der Fachgesellschaft, sowie der subskribierenden Institutionen, vor allem Fachbibliotheken. In Deutschland lehnen viele Nutzer*innen Cookies bewusst ab. Diese Zugriffe werden nicht mitgezählt. Und am Ende heißt es dann: Es sind so und so wenige Leute, die die Zeitschrift lesen und das ist zu wenig. Das ist auch eine Herausforderung, diese Frage, mathematisiere ich das alles? Oder sage ich: Nein, es hat eine Qualität und niemand hat den Anspruch, dass europäisch-ethnologische oder außereuropäisch-ethnologische Fachbeiträge von vielen Leuten gelesen werden. Die müssen nicht tausende Leser*innen haben. Sollen sie auch gar nicht.
Sarah Thanner: Ja, und Klicks kann man auch kaufen… Aber was den Medienwandel betrifft, finde ich auch noch einen anderen Aspekt wichtig: Wissenschaftler*innen nehmen immer seltener Bücher in die Hand. Ich selbst auch, gerade in der Endphase meiner Promotion habe ich das gemerkt. Zu Beginn habe ich die meisten Texte noch ausgedruckt. Jetzt überfliege ich PDFs möglichst schnell am Bildschirm, suche selektiv und bin dankbar für die Volltextsuche. Aber es ermüdet mich schneller und es macht mir auch viel weniger Spaß. Ich fühle mich wie ein Window-Manager permanent, ein Tabs-Manager. Man hat so viele Sachen parallel geöffnet. Das macht etwas mit unserem wissenschaftlichen Arbeiten, damit, wie wir lesen, wie wir recherchieren und schreiben. Die digitale Materialität der Leseerfahrung und die mit ihr verwobene verkörperte Praxis verändert sich. Wir praktizieren immer mehr reading about und weniger reading around, wie das Forscher*innen des RUSTlab bezeichnet haben.12 Also mehr zielgerichtet und linear und weniger spielerisch-blätternd und sinnlich-affektiv. Aber ich glaube es bringt nichts, einen Entweder-oder-Blick darauf einzunehmen, eine Besser-schlechter-, Früher-jetzt-Perspektive. Aber dieser Medienwandel, der mit der Digitalisierung und Open Access einhergeht, darf nicht einfach nach informatischen und marktwirtschaftlichen Prinzipien implementiert werden, er muss sozial und kulturell spezifisch gestaltet werden. Es geht auch darum wissenschaftliche Unabhängigkeit für eine demokratisch verfasste Gesellschaft zu schützen, Infrastrukturen zu schaffen, die autoritären Angriffen standhalten und deren Standards nicht von Parallelinstitutionen ausgehöhlt oder persifliert werden.13
Kathleen Heft: Für eine Fortbildung zum Thema persistente Identifikatoren habe ich Teilnehmende angefragt, ob wir in ihren rudimentären ORCID-Profilen – Profile ohne zugeordnete Einträge, wie Publikationen oder Arbeitgeber – zu Schulungszwecken eine Publikation hinterlegen und die Möglichkeiten der Privatsphäreneinstellungen kennenlernen dürfen. Ein*e Teilnehmende*r meldete mir zurück, dass das nicht gewünscht ist, weil ORCID einmal im Jahr eine Datei mit allen Daten publiziere und der Öffentlichkeit zugänglich mache.14
Zu meiner Überraschung hatte dieselbe Person Profile bei den kommerziellen Plattformen ResearchGate und Academia.edu. Dort hatte die Person ihren akademischen Lebenslauf und Publikationen mit Metadaten und zum Teil auch PDFs hinterlegt. Ich war überrascht, wie Kolleg*innen mit (Publikations- und Meta-) Daten umgehen, welchen Angeboten sie vertrauen und welchen sie skeptisch gegenüberstehen. Bei ORCID kann ja davon ausgegangen werden, dass die Daten nicht verkauft werden und die volle Kontrolle auf Seiten der Nutzenden besteht. Bei kommerziellen Plattformen ist das nicht gegeben.
Sarah Thanner: Ja, ich glaube, man navigiert im wissenschaftlichen Alltag geprägt von individuellen Routinen und Hörensagen durch das Datenschutzthema. Es ist einfach nicht realistisch, die komplexen datenschutzrechtlichen Zusammenhänge alle zu begreifen und sich durch Gesetzestexte und Kleingedrucktes durchzuarbeiten. Vielleicht war in diesem Fall das ResearchGate- oder Academia.edu-Profil schon vorher da. Vielleicht hatte sich diese Routine schon so etabliert, dass sie nicht mehr hinterfragt wurde mit Blick auf die Bewertung eines ORCID-Profils. Ich kenne das selbst aus meinem Alltag: Auf der einen Internetseite klicke ich auch auf „Ablehnen“, denke mir, “nein danke”. Und an anderen Tagen ist es mir egal. Ich melde mich irgendwo an, setze Häkchen, deren Auswirkungen ich nicht verstehe und klicke auf „Ok“. Ich möchte diese Komplexität in diesem Moment nicht verstehen müssen und ein Tool einfach nur benutzen. Bei einem neuen Tool kommen dann aber wieder diese Gedanken auf und dann kommt es vielleicht darauf an, ob ich gerade die Muße habe, kurz vorher zu googeln: Was machen die? Wie wird da mit meinen Daten umgegangen? Und dann kommt mir vielleicht etwas unter, das ich missinterpretiere, weil mir das Wissen fehlt. Dann treffe ich vielleicht eine Entscheidung, die aus der Open-Access-Perspektive totaler Quatsch ist. Und so manövriert man sich durch den Alltag, also eine Bewältigungsstrategie von Komplexität – das ist so ein klassisches Thema unseres Fachs. Datenschutz ist ein solches Thema.
Anne Dippel: Das ist übrigens etwas, wo ich bei mir selber merke, dass ich erst durch EthnOA begriffen habe, wie sehr der*die Autor*in durch Open Access gestärkt wird. Aber ich sehe zugleich, dass der Verlag wegfällt und das ist schon eine Veränderung, weil der Verlag nicht mehr nötig ist. Du brauchst den Verlag mit einer OJS-Plattform eigentlich nicht. Und dann stellt sich die Frage, wofür ist ein Verlag da? Ich habe in meiner Promotion über den österreichischen Literaturbetrieb15 begriffen, dass Verleger*innen zentrale diskursbildende Instanzen sind. Sie verwalten nicht die Literaturproduktion, sie gestalten sie. Wie können wir sie aufrechterhalten? Wie verhindern wir eine Insularisierung, die mit der publikatorischen Individualisierung einhergeht? Wie erhalten wir den hohen Standard des auf modernem Publikationswesen ruhenden Denkens?
Sarah Thanner: Ja, und wenn die Entscheidung mehr und mehr an die Redaktionen, die Community oder die Autor*innen übergehen, dann kommen damit auch komplexe juristische Fragen auf, die vorher in Verlagen geregelt wurden – nicht unbedingt gut geregelt wurden, nicht unbedingt im Sinne der Community oder Autor*innen geregelt wurden –, aber die jetzt natürlich Zeit und Wissen einfordern, um sie zu klären und zu durchdenken. Da steckt auch jede Menge unbezahlte Arbeit drin. Im EthnOA-Projekt bist du, Kathleen, jetzt in so einer Schnittstellenposition, dass du Beratung anbieten kannst. Sonst müsste man sich als Promovend*in oder als Redaktion plötzlich mit dem Urheberrecht und all den vielen Fragen auseinandersetzen, die hier aufkommen. Dafür ist im wissenschaftlichen Alltag aber schlicht oft keine Zeit. Viele sind ja schon am Limit.
Anne Dippel: An der OJS-Plattform sehen wir, das ist ständiges Maintenance. Man muss ja auch damit arbeiten, das aufrecht erhalten. Und die Arbeit, die wir als Redaktion machen, ist ehrenamtlich. Sie zählt nicht in meine Lehr- und Forschungstätigkeit hinein und ich erhalte durch sie keine Erleichterungen im universitären Kontext.
Sarah Thanner: Ja, genau. Dieses Mehr an Fragen, an wirklich komplexen Fragen, das da aufgeht, finde ich irgendwie beachtlich. Es braucht also genau solche Projekte wie EthnOA. Ich sehe das Projekt in einer Schnittstellen-Beratungsfunktion. Es müsste eigentlich noch viel mehr solche Projekte geben, um diese Arbeit abzufangen, die jetzt mit der Open-Access-Transformation aufkommt.
Anne Dippel: Am Anfang habe ich vor allen Dingen gedacht, dass wir in erster Linie eine infrastrukturelle Innovation schaffen. Je mehr ich aber im Projekt drin bin, merke ich: Nur durch das Kommunizieren mit der Community und das Aufklären über Open Access entwickelt sich etwas. Es entsteht ein Diskurs. Ich beobachte auch, wie wichtig es in den aktuellen politischen Konstellationen wird. Das hatte der Fachinformationsdienst Sozial- und Kulturanthropologie, einer der Projektpartner, auch prognostiziert. Damals haben wir gezweifelt, weil damit ein Aufklärungsnarrativ bedient wird, das Unmündigkeit voraussetzt. Heute sage ich angesichts der aktuellen digitalen Disruptionen – es braucht eine digitale Aufklärung, um mündig sein zu können, in allen Plattformbereichen des Internets – und es braucht Plattformen, die Mündigkeit zum Mandat machen, gesellschaftliche Imaginäre bauen, die nicht-autoritär Welt gestalten, wozu Wissenschaftsfreiheit zählt.16 Auch aus der praktischen Perspektive der Redaktion muss Fortbildungsarbeit geleistet werden, etwa zu neuen Sprech- und Schreibweisen oder dem richtigen Umgang mit Anonymität. Die digitale Transformation mündet auch in neuen Styleguides, wie ich mit Gabriele Alex, eine der Herausgeber*innen der Zeitschrift für Ethnologie und Mitantragstellerin von EthnOA neulich im Arbeitsgespräch feststellte. Das merke ich auch an mir selbst. Es ist komisch, manches Wissen, das man hundertmal gehört hat, kann man sich trotzdem nicht richtig merken. Das muss man immer wieder kommunizieren, gerade weil es im Wandel ist.