Für den o-bib-Themenschwerpunkt Ziele von Open Access / Diamond Open Access interviewte Sarah Dellmann, stellvertretende Bereichsleitung Publikationsdienste an der Technischen Informationsbibliothek (TIB) und Teil des Koordinationsteams für die Konzeption dieses Themenschwerpunkts, Anja Oberländer und Regine Tobias im November 2024 im Rahmen eines Online-Gesprächs. Beide Interviewpartnerinnen haben ihre Karriere an wissenschaftlichen Bibliotheken als Open-Access-Beauftragte begonnen, nun sind sie in der Direktion ihrer jeweiligen Universitätsbibliotheken tätig. Regine Tobias arbeitete viele Jahre am KIT Karlsruhe und war dort u.a. ehemalige Verlagsleiterin von KIT Scientific Publishing. Heute ist sie Direktorin der Universitätsbibliothek Tübingen. Anja Oberländer war zunächst Projektmitarbeiterin und Open-Access-Referentin am Kommunikations-, Informations- und Medienzentrum (KIM) der Universität Konstanz, wo sie heute die Stelle der Vizedirektorin wahrnimmt.
Sarah Dellmann: Liebe Anja Oberländer, liebe Regine Tobias, ihr wart beide zunächst Open-Access-Beauftragte und habt nun die Leitung einer Einrichtung übernommen. Gibt es da einen Zusammenhang?
Regine Tobias: Dass ich die Leitung der Universitätsbibliothek Tübingen übernommen habe, geht über mein langjähriges Open-Access-Engagement hinaus. Nach 25 Jahren spannender Tätigkeiten am KIT hat es mich für meine weiteren Berufsjahre gereizt, eine Stelle anzunehmen, in der ich einen weiteren Blick auf unterschiedliche Themen einnehmen kann. Ich habe selbst erlebt, wie sich der Stellenwert von Open Access an wissenschaftlichen Bibliotheken in der Zeit meines Berufslebens enorm verändert hat: War Open Access zunächst ein Thema, das ein*e Referent*in weitgehend allein behandelt hat, wurde Open Access schrittweise zu einem Thema, das zunächst mehrere und, ich würde sagen, mittlerweile fast alle Abteilungen einer wissenschaftlichen Bibliothek beschäftigt und heute außerdem im größeren Kontext von Open Science zu sehen ist. Das hat mich sehr motiviert und durch den Stellenwechsel kann ich an diesen Themen nun quasi „von oben“ arbeiten und sie mit einem weiteren Blick gestalten.
Anja Oberländer: Die Entwicklung sehe ich sehr ähnlich auch in meiner beruflichen Biografie: Zunächst war ich als Projektmitarbeiterin für Open Access zuständig – in enger Zusammenarbeit mit zwei Kolleg*innen in der Medienbearbeitung, die mit einem kleinen Anteil fürs Repositorium gearbeitet haben. Später war ich Referentin für Open Access und dann Sachgebietsleitung für Open Science mit einem Team von bis zu zehn Projektmitarbeiter*innen und auch das Team in der Medienbearbeitung, das sich mit Themen rund um Open Access beschäftigt, ist deutlich angewachsen. Heute ist Open Access ein Thema, das sich durch viele Abteilungen meiner Einrichtung zieht. Wir reorganisieren in diesem Kontext auch innerhalb der ganzen Universität Prozesse, z.B. wenn es um das Informationsbudget geht. Durch das Größerwerden des Themas, der zunehmenden Bedeutung und damit auch immer größer werdenden strategischen Entscheidungen habe ich mir viel Leitungserfahrung erarbeitet. Allerdings war bei uns in Konstanz das Thema Open Access von Anfang an ein Thema, für das sich vor allem auch die Direktion stark gemacht hat und ich habe hier schon von Anfang an auch als Projektmitarbeiterin eng mit der Direktion zusammengearbeitet.
Sarah Dellmann: Was wird in euren ehemaligen und jetzigen Einrichtungen und Positionen unter dem Stichwort „Open Access“ diskutiert? Gibt es unterschiedliche Herangehensweisen?
Regine Tobias: Sowohl als Open-Access-Beauftragte am KIT als auch jetzt als Leiterin der UB Tübingen bin ich für große wissenschaftliche Bibliotheken verantwortlich, in denen der Service für Forschende zentral im Fokus steht. Und forschungsunterstützende Dienste als Einrichtung anzubieten ist ein Thema, das man strategisch in einer Forschungseinrichtung platzieren muss und das deshalb auch auf die Leitungsebene gehört: Aus dieser Perspektive ist Open Access im Zusammenhang mit Fragen des Publikationsmanagements zu sehen, ebenso mit den Themenfeldern der Bibliometrie und der Forschungsinformationssysteme sowie letztlich des Reportings und der Sichtbarkeit von Forschungsoutputs. Die Aufgabenfelder am KIT unterscheiden sich natürlich in einigen Bereichen von denen der UB Tübingen, die u.a. Stärken im Bereich Digital Humanities hat und über wertvolle Bestände verfügt, die außerdem in enger Kooperation mit dem Universitätsarchiv geführt werden.
Anja Oberländer: Neben all diesen Dingen, die natürlich auch an der Uni Konstanz relevant sind, beschäftigen wir uns momentan mit der praktischen Umsetzung der Einführung eines integrierten Informationsbudgets sowie dem Aufbau unserer Publikationsplattform Publikon1, über die Publikationsdienstleistungen für Zeitschriften, Bücher, aber auch Datensätze oder Videos angeboten werden sollen. Darüber hinaus sind wir ja sehr aktiv bei Projekten rund um Open Access, wir sind maßgeblich beteiligt an der zentralen deutschsprachigen Informations- und Vernetzungsplattform open-access.network2 und engagieren uns seit vielen Jahren stark für die konsortiale Finanzierung von Open Access z.B. im Rahmen der KOALA-3 und Open Library of Humanities-Projekten4. Ganz aktuell sind wir aber auch mit der Organisation der Open-Access-Tage beschäftigt, die 2025 in Konstanz stattfinden werden! Ich habe das Glück, dass ich auch im Rahmen meiner Direktionsaufgaben noch ein bisschen mitmischen kann in diesen Bereichen, die mir wichtig sind. Was natürlich auch mehr geworden ist durch die neue Position, ist die Anfrage für Beteiligung an Beiräten, Gremien oder Begutachtungen, was durchaus viel Spaß macht und wodurch ich auch sehr viel lerne.
Regine Tobias: Teil meiner Aufgabe ist es nun, die Dienste der UB Tübingen aus neuer Perspektive zu durchleuchten: Wir übernehmen sowohl Aufgaben im nationalen Kontext für Fachinformationsdienste5 als auch für unsere Universität. Wir haben große Altbestände und viele Digitalisierungsprojekte – und Open Access ist ein Teil von all dem, diese Fragestellungen ziehen sich überall durch unser Portfolio. Ich finde es eine spannende Aufgabe, mit einer Ausrichtung auf Open Science und als Teil davon, Open Access, wegweisende Entscheidungen zu treffen, die die Zukunft der Bibliothek und der Forschungsbedingungen der Universität Tübingen mitgestalten. Gerade weil Open Access aktuell in der Praxis überall relevant ist, ist es wichtig, dafür eine Strategie vorzuhalten und in eine übergeordnete Perspektive einzubinden.
Sarah Dellmann: Inwiefern haben die neue Position und die Perspektivverschiebungen, die sie mit sich bringen, euren Blick auf Open Access geändert?
Anja Oberländer: Ich merke das ganz deutlich bei den DEAL-Verträgen. Durch die Brille der Open-Access-Enthusiastin und hinsichtlich der aus meiner Sicht dringend notwendigen Veränderung des dysfunktionalen Publikationswesens betrachte ich sie sehr viel kritischer als durch die Einrichtungsbrille, durch die vor allem auch relevant ist, wie gut wir die lokalen Wissenschaftler*innen mit Informationen versorgen und wie sichtbar die Forschungsergebnisse unserer Institution nach außen sind…
Regine Tobias: … und ich sehe den enormen Nachteil im internationalen Wettbewerb, in dem sich die Universitäten nun einmal befinden, wenn die UB Tübingen die Verträge nicht unterzeichnet hätte. Ich würde allerdings auch hinzufügen wollen, dass diese Perspektivverschiebung nicht nur durch die neue Position entstand, sondern sich bereits seit einiger Zeit im Umfeld der Open-Access-Bewegung angekündigt hat: Open-Access-Aktivist*innen waren vor 20 Jahren noch anders aufgestellt als es Open-Access-Beauftragte heute im weiter durchdigitalisierten Umfeld der Forschungseinrichtungen sind. Ich glaube, mittlerweile hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass Open Access nichts ist, das man als Bibliothek allein umsetzen kann, sondern dass es ein gesamtorganisatorischer Prozess sein muss.
Anja Oberländer: Vor 18 Jahren, als ich anfing mich mit Open Access zu beschäftigen, war ich externe Doktorandin. Die Dysfunktionalität im System treibt mich damals wie auch heute noch an. Ich bedauere sehr, dass viele momentane Entwicklungen diese eher weiter verstärken, als sie aufzulösen. Ich komme gerade zurück von einer Dienstreise nach Sri Lanka im Rahmen eines DAAD-Projekts. Es hat mir nochmal vor Augen geführt, wie wichtig Diamond Open Access ist – um eben nicht nur den Zugang zu Wissen, sondern auch die Teilhabe am wissenschaftlichen Diskurs zu sichern.
Regine Tobias: Auch in früheren Jahren war es schwierig, mit unserer Botschaft zum dysfunktionalen Publikationssystem durchzudringen. Es ist entmutigend zu sehen, wie wenig davon auf den Leitungsebenen der Hochschulen und Forschungseinrichtungen angekommen ist. Mit den DEAL-Verträgen haben wir jedenfalls dafür gesorgt, dass das Thema der Finanzierung mittlerweile auf der Leitungsebene präsenter ist und das wäre uns als einzelne Bibliotheken vermutlich nicht mit dieser Tragweite geglückt. Jetzt, wo das Thema in der Leitung angekommen ist, offenbaren sich strategische Kommunikationslücken an die Hochschulleitungen.
Sarah Dellmann: Woran zeigt sich das zum Beispiel?
Regine Tobias: Für den digitalen Dienst „Open-Access-Bereitstellung von Artikeln“ würde die UB Tübingen nun bis zu 1 Mio. Euro mehr bezahlen. Die ersten Kalkulationen nach den DEAL-Verhandlungen sorgten zwar für Irritationen, aber nicht für größeren Widerstand in der Einrichtung. Auch in Zeiten von Sparzwang führt der Druck im internationalen Wettbewerb zum Abschluss von kostensteigernden Verträgen. Was nach wie vor fehlt, ist eine Strategie für eine nachhaltige Zukunft des wissenschaftlichen Publizierens.
Anja Oberländer: Über die Jahre habe ich realisiert, dass bei vielen Wissenschaftler*innen recht wenig Kenntnis über das Publikationssystem an sich vorhanden ist. Obwohl Publizieren ein so zentraler Bestandteil ist und Wissenschaftler*innen mit ihren Entscheidungen das System maßgeblich prägen, ist dies bei allen Themen, die im stressigen Alltag zu bewältigen sind, oft nur ein Randthema. Die zahlreich vorhandenen und wirklich guten Informationsangebote zu Open Access werden vor allem auch innerhalb der Open-Access-Bubble genutzt und zu wenig von den Wissenschaftler*innen, die wir eigentlich erreichen wollen. Wir müssten viel mehr mit Wissenschaftler*innen in unseren Einrichtungen über die Dysfunktionalität des Publikationswesens sprechen. Diese Diskussionen sind allerdings nicht trivial und erfordern neben einem umfassenden Wissen über das Publikationswesen im Ganzen viele Kenntnisse in fachspezifischem Publizieren, Erwerbungsentscheidungen sowie Entscheidungsprozesse in Organisationen. Ich sehe das auch als Leitungsaufgabe, um Erfahrung, Wissen und auch ein gewisses Standing miteinzubringen, um diese Diskussionen einrichtungsintern mitzugestalten. Das Engagement, das viele Bibliotheksdirektor*innen in der DEAL-Gruppe gezeigt haben, würde ich mir auch wünschen, wenn es darum geht, APC-freies Open Access voranzubringen!
Regine Tobias: In der Open-Access-Bubble, wie Anja sie genannt hat, wird oft unterschätzt, wie sehr es letztlich um die Reputation geht – und damit ist nicht nur die für einzelne Wissenschaftler*innen gemeint, sondern die Gesamtheit der Universität. Für die Universität haben ein gutes Abschneiden im internationalen Wettbewerb und die Exzellenzstrategie6, ein Beibehalten von Studierendenzahlen und ein repräsentativer Forschungsoutput oberste Priorität. Das Rektorat fragt nach dem Glanz, der Kanzler nach dem Preis. Das ist die Situation, innerhalb der Entscheidungen getroffen werden.
Sarah Dellmann: Was ist eure Zwischenbilanz von 20 oder 25 Jahre Engagement? Wo seht ihr derzeit die größten Herausforderungen?
Anja Oberländer: Meine Bilanz ist, dass ich ziemlich enttäuscht bin von den Entwicklungen der letzten Jahre und mich auch ein bisschen machtlos fühle. Bei den aktuellen Bemühungen rund um Diamond Open Access fehlt uns aus meiner Sicht eine zentrale Publikationsplattform mit gut organisierter konsortialer Finanzierung. In diversen Beratungen mit Herausgebenden wird klar, dass viele Zeitschriften zu Open Access flippen wollen, idealerweise APC-frei. Diese Zeitschriften brauchen auch Geld, um ihren Betrieb zu finanzieren, hierfür fehlen Angebote ebenso wie für die Finanzierung bereits gut etablierter Open-Access-Zeitschriften. Wir haben im Rahmen der KOALA-Projekte gemerkt, wie schwierig es ist, ins Bewusstsein der Bibliothekar*innen zu rufen, dass wir hier mitfinanzieren müssen, um diese Alternativen zu schaffen und zu erhalten. Hier wird für kleine Summen viel über die Qualität der einzelnen Zeitschriften diskutiert, während wir bei großen Verlagen viel Geld für die Full Collection ausgeben, ohne über die Qualität mancher enthaltenen Zeitschriften zu sprechen. Ärgerlicherweise sind dort ja z.B. bei Elsevier auch Zeitschriften enthalten wie die Lingua, wo das Editorial Board geschlossen zurückgetreten ist und nun bereits seit vielen Jahren das neue, qualitativ hochwertige Journal Glossa7 als Diamond-Zeitschrift bei der Open Library of Humanities herausbringt. Die Lingua mit neuem Editorial Board, in der Linguistik-Community „Zombie-Lingua“ genannt, abonnieren wir Bibliotheken im Rahmen des Elsevierpakets natürlich weiter… Das ist schon bitter und fühlt sich wie ein Kampf gegen Windmühlen an.
Regine Tobias: Unsere Bemühungen, durch Transparenz der Preise den Wettbewerb und Open Access jenseits der Großverlage zu stärken, waren leider nicht flächendeckend erfolgreich. Wir haben in der Folge neue Geschäftsmodelle für die Open-Access-Transformation gefordert, diese sind mit APC-basiertem Gold Open Access und den DEAL-Verträgen nun auch da. Die Verhandlungen um ihre Einführung haben Open Access zu mehr Aufmerksamkeit verholfen, auch auf Leitungsebene, aber die Preise für das Publizieren sind weiter gestiegen und die Marktkonzentration im Verlagswesen ist nicht gesunken. Mit den steigenden Kosten werden die Verteilungskämpfe in den Einrichtungen heftiger werden. Wir haben mittlerweile einige Produkte, die durch Institutsetats kofinanziert werden. Die Aushandlungen mit Instituten zur Verwendung von dezentralen und zentralen Mitteln kosten viel Zeit und kommunikative Anstrengung. Hinzu kommt die Zeit für die aufwändige Verwaltung der DEAL-Verträge und die verschiedenen Dashboards. Noch am KIT habe ich den Aufbau des Publikationsfonds selbst miterlebt. Das war ein Riesenaufwand für die Open-Access- und die Erwerbungsabteilungen, es mussten neue Workflows konzipiert und eingesetzt werden. Diese Zeit wäre besser investiert, um gemeinsam mit allen Playern zu überlegen, wie man die enger werdenden Verhandlungsspielräume überwindet und für andere Themen Sichtbarkeit kreiert.
Anja Oberländer: Früher stand Open Access für Zeitschriften und Modelle, die das Publikationssystem verändern wollen und wurde dafür auch von einigen „Systembewahrer*innen“ kritisiert. Nun allerdings wird der Begriff für viele Modelle genutzt, die eher den Status Quo manifestieren und so sehen sich die Open-Access-Befürworter*innen z.B. plötzlich mit Open-Access-Kritik konfrontiert, die sich auf DEAL-Verträge bezieht. In der momentanen Open-Access-Diskussion vermischt sich sehr viel und die Situation ist viel komplexer geworden. Von dem Open Access, das ich mir eigentlich wünsche, mit Werten wie freiem Zugang zu Information weltweit, Bildungsgerechtigkeit, unabhängigem und wissenschaftsgeleitetem Publizieren sowie einer sinnvollen Verwendung öffentlicher Mittel sind wir leider noch weit entfernt.
Regine Tobias: Da kann ich Anja in ihrer Einschätzung nur beipflichten. Niels Taubert hat das in seiner Keynote auf den Open-Access-Tagen 20248 meines Erachtens gut zusammengefasst: Nun ist Diamond Open Access die nächste Welle und es gibt aktuell viele Initiativen, die mir im Einzelfall in Details und auch in der Gesamtheit als unkoordiniert erscheinen. Wir riskieren, dass wieder „Open Access“ auf etwas draufsteht, was wir nicht wollten. Es fehlt mir insgesamt an einer Reflektion über Ziele und Definitionen. Und solange wir hier keine Klarheit haben, wird uns das wieder auf die Füße fallen. Als Open-Access-Bewegung konterkarieren wir uns selbst, wenn wir nicht wissen, wohin wir rennen und warum eigentlich.
Anja Oberländer: Eine weitere Herausforderung ist die Finanzierungslogik. Ausgaben für Open Access sind relativ einfach durchsetzbar und schnell entschieden, wenn das neue Angebot – egal ob KOALA oder Subscribe To Open – günstiger oder gleich teuer ist. Die Mitfinanzierung einer Open-Access-Zeitschrift allerdings, die bislang ehrenamtlich und kostenfrei erschienen ist, ist deutlich schwieriger zu realisieren und die Notwendigkeit auch für viele schwer verständlich.
Regine Tobias: Auch das hängt meines Erachtens mit fehlenden Definitionen und Zielen zusammen. Oft entsteht bei den Diamond-Angeboten der Eindruck „irgendjemand kriegt Geld für irgendwas“ und alles wird miteinander vermischt. Geht es nun ausschließlich um Non-for-profit oder auch um die Finanzierung kommerzieller kleiner und mittelständischer Verlage? Wer bekommt für welche Dienstleistung wieviel Geld und wo wollen wir damit hin? Manchmal bin ich schon erleichtert, etwas Abstand zu dem operativen Geschäft und all seinen Ungereimtheiten zu haben. Uns allen würde im aktuellen Diamond-Hype etwas Luft und Zeit zum Durchatmen guttun.
Anja Oberländer: Das ist aber doch keine besondere Situation von Diamond-Open-Access-Angeboten? Auch bei etablierten Zeitschriften und größeren Verlagen wissen wir auch nicht mehr, als dass „irgendjemand Geld für irgendwas“ bekommt. Selbst Herausgebende bei Großverlagen wissen oftmals wenig über die Finanzierung ihrer Zeitschrift. Diese Unklarheit ist nichts, das typisch für Open Access wäre. Ich würde behaupten, dass durch die Initiativen, Diamond-Open-Access-Geschäftsmodelle und Transparenzforderungen zunehmend Fragestellungen in unseren Entscheidungsbereich kommen, die wir vorher nicht gesehen haben. Dennoch teile ich deinen Eindruck, dass der Rechtfertigungsdruck vor allem Open-Access-Zeitschriften, Diamond-Open-Access-Zeitschriften und verlagsunabhängig publizierte Open-Access-Zeitschriften trifft. Das ist vermutlich ein Grund, warum es so schwierig ist, die KOALA-Pakete9 zu finanzieren. Da wird meines Erachtens mit zweierlei Maß gemessen: Wenn nicht alle Zeitschriften in einem KOALA-Paket relevant sind, sondern nur drei von vier, wird es mit der Finanzierung schwierig. Aber dass wir in den DEAL- und anderen PAR-Verträgen auch Zeitschriften mit im Paket haben, die für uns nicht relevant sind, das wird hingenommen und nicht problematisiert. Wie ich schon sagte: Im Elsevier-Vertrag ist auch die „Zombie-Lingua“ noch enthalten.
Sarah Dellmann: Was wären eurer Einschätzung nach Schritte in die richtige Richtung? Wo setzen wir an, um aus dieser Situation herauszukommen?
Anja Oberländer: Meiner Meinung nach fehlt, wie eben erläutert, ein qualitativ hochwertiges zentrales Publikationsangebot inklusive konsortialer Finanzierungsmöglichkeiten. Dazu ist es unbedingt notwendig, Forschenden bewusstzumachen, wie der Publikationsmarkt funktioniert, ihnen zu verdeutlichen, dass es Unterschiede zwischen den Publikationsorten gibt. Ich glaube, wir müssen die Zeitschriften eine nach der anderen gemeinsam mit den Herausgebenden weg von den Großverlagen und wieder zurück in die Hände der Wissenschaft bringen.
Regine Tobias: Natürlich können wir mit einzelnen Autor*innen und Redaktionen sprechen, für ihre Situation individuelle gute Lösungen finden und ihre Inhalte in wissenschaftseigene Infrastrukturen freikaufen, und das sollten wir auch tun. Aber es wird das System als Ganzes leider nicht in der Substanz verändern. Wir müssen uns auch auf größere Ziele verständigen: Wollen wir wirklich Elsevier, Wiley und Springer Nature ersetzen? Glauben wir wirklich immer noch daran, dass man durch mehr Transparenz und Effizienz dort langfristig Preise senken kann? Wir müssen uns in größeren Allianzen engagieren und haben das in der Vergangenheit auch getan: TU910, die Helmholtz-Gemeinschaft11 oder die U1512 sind da gute Beispiele. Wir müssen mit den Verantwortlichen in den Universitäten über Publikationsdruck, Prestige, wissenschaftliche Karrieren und Renommee sprechen. Dass insgesamt zu viel publiziert wird, ist dort hinlänglich bekannt und wird hinter vorgehaltener Hand auch beklagt. Ich meine, dass es nur mit der oberen Leitungsebene gelingen kann, über die eigene Institution hinaus zu denken und gute Strategien für das Gesamtsystem zu entwickeln. Das braucht viel Energie und es geht nicht von heute auf morgen.
Sarah Dellmann: Welchen Tipp würdet ihr heutigen Open-Access-Beauftragten geben?
Anja Oberländer: Wir sind Open-Access-Enthusiast*innen, wichtig ist zu realisieren, dass für die wenigsten Wissenschaftler*innen Open Access von ähnlicher Relevanz ist! Hier steht im Vordergrund, dass der Publikationsort inhaltlich und qualitativ überzeugt.
Regine Tobias: Die Themen für Gespräche an der Uni auf höherer Ebene zusammen mit der Bibliotheksleitung voranbringen.
Anja Oberländer: Auf jedem Fall – gute Gespräche auf hohem Niveau sind effektiver als alle Informationsbroschüren!
Regine Tobias: Ja, das stimmt: Raus aus der Open-Access- und Bibliotheks-Bubble treten und mit möglichst vielen Forschenden aus verschiedenen Fächern sprechen und dann genau nachfragen, was sie in ihrer Arbeit bewegt: Worin liegen für sie persönlich die Schwierigkeiten, gute Wissenschaft zu praktizieren, eine gute Veröffentlichung zu platzieren? Wie erarbeiten sie sich ihr Renommee und wofür brauchen sie Hilfe von Verlagen und auch von Bibliotheken? Das bringt uns ins Gespräch über Missstände und hoffentlich über gute Alternativen.
Anja Oberländer: Und das verbindet unser Handeln wieder mit den Zielen, die wir mit Open Access erreichen wollten: Forschende darin zu unterstützen, die Kommunikation ihrer Ergebnisse an den Erfordernissen ihrer Fachkulturen auszurichten, den internationalen, gleichberechtigten Dialog zu ermöglichen und den weltweiten Zugang zu wissenschaftlichen Informationen für alle zu realisieren.