Books without borders – bessere barrierefreie Bücher
1. Das EU-Projekt
Für die meisten Menschen ist es selbstverständlich, in eine Bibliothek zu gehen, sich ein schönes Buch auszuleihen und es mit Vergnügen zu lesen. Aber das gilt nicht für alle.
Das dreijährige EU-Projekt „Books without Borders“1 (Bücher ohne Grenzen) will sowohl Menschen mit Leseschwierigkeiten als auch Zweitsprachenleser*innen erreichen. Ihnen soll ein barrierefreier Zugang zu Büchern sowie Lese- und Lernveranstaltungen in Bibliotheken angeboten werden.2 Damit soll auch dieser Zielgruppe ein lebenslanger Lernprozess für eine aktive gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht werden. Das Projekt läuft von 2023 bis 2025 und hat vor allem folgende spezifische Ziele:3
1) Zugang zu barrierefreien Büchern für Nichtleser*innen, Menschen mit Leseschwierigkeiten (z.B. altersbedingt oder bei Legasthenie) und Zweitsprachenleser*innen (Migrant*innen), um Lernen zu ermöglichen und die soziale Eingliederung zu unterstützen,
2) Erleichterung der gesellschaftlichen Integration und Teilhabe durch Initiativen für gemeinschaftliches Lernen und gemeinsames Lesen, um die Integration von Neuankömmlingen zu stärken,
3) Nutzung und Förderung des Bibliotheksnetzes als lokales, sicheres Umfeld zum Lesen, Lernen, Kontakte knüpfen auf der Grundlage von Integration und Vielfalt,
4) Förderung der beruflichen Entwicklung von Bibliothekar*innen und Mitarbeiter*innen von Partnerorganisationen, Vermittlung neuer Fähigkeiten und Kompetenzen und Verbesserung der Qualität ihrer Arbeit und der eingesetzten Methoden, um bessere Lernmöglichkeiten für Erwachsene zu schaffen.
Im Projekt arbeiten verschiedene Institutionen zur Leseförderung zusammen. Die Projektleitung hat das FRSI (Information Society Development Foundation, Polen)4, weiterhin beteiligt sind die Fundacja Powszechnego Czytania (Universal Reading Foundation, Polen)5, Leser søker bok6 und die Trondelag Fylkesbibliotek7 (beide Norwegen), die Stadtbibliothek Köln sowie die Ukrainian Library Association8.
2. Warum ist Lesen eigentlich so wichtig?
Lesen ist ein Faktor für lebenslanges Lernen und ermöglicht den Ausgleich von sozialen Unterschieden. Wer informative Texte lesen und verstehen kann, kann Informationen über seine Arbeit oder Gesundheit verstehen, kann Nachrichten verfolgen und sich auch selbst am gesellschaftlichen Leben beteiligen. Lesen ist eine Grundlage für Demokratie!
Das Lesen von informativen Texten reicht aber nicht aus. Auch Literatur spielt eine wesentliche Rolle: Das Lesen von fiktiven Büchern hilft uns nicht nur, andere zu verstehen, sondern auch, uns selbst zu verstehen, denn wir lernen, Gefühle zu empfinden und zu verarbeiten.9 Wir üben beim Lesen unser Einfühlungsvermögen und gewinnen eine narrative Vorstellungskraft. Das hilft uns dabei, eine Sprache für unsere eigenen Erfahrungen zu entwickeln.10 Lesen ist eine wichtige Quelle für Empathie, Inklusion und Dialog. Wenn wir Menschen erreichen möchten, die nicht oder nur wenig lesen, sollten wir die Hintergründe kennen und uns mit den Barrieren vertraut machen, die Menschen vom Lesen abhalten.
2.1 Statistische Grundlagen
Laut der LEO-Studie 2018 der Universität Hamburg11 hat die Anzahl der Deutschen, die nicht richtig lesen und schreiben können, zwar zwischen 2010 und 2018 abgenommen (7,5 Millionen vs. 6,2 Millionen). Dennoch ist die absolute Zahl immer noch sehr groß. Einer der wichtigsten Faktoren ist ein niedriger Schulabschluss, während die Herkunftssprache keinen großen Einfluss darauf hat: 52,6% der Menschen mit deutscher und 47,4% der Menschen mit anderer Herkunftssprache haben eine geringe Lese- und Schreibkompetenz.
2.2 Barrieren
Es gibt ganz unterschiedliche Barrieren, die Menschen vom Lesen abhalten. So kann der Grund in einer Leseschwäche (Legasthenie) liegen, bei der der Schriftspracherwerb andauernd gestört ist. Körperliche Herausforderungen (Sehstörungen, Blindheit), kognitive Herausforderungen (z.B. Demenz, Sprachstörungen bzw. Aphasie), Konzentrationsprobleme (ADHS) oder altersbedingte Probleme können dafür sorgen, dass Menschen wenig lesen.
Manche Menschen haben insbesondere in ihrer Jugend keine erfolgreichen Leseerfahrungen gemacht und meiden deshalb gedruckte Texte soweit wie möglich. Menschen, für die Deutsch eine Fremdsprache ist, können einerseits deutsche Texte noch nicht gut lesen, haben möglicherweise aber auch Probleme, an Texte in ihrer Herkunftssprache zu kommen, um weiterhin in der gewohnten Sprache zu lesen.
2.3 Ziel des Projekts
Das Ziel des Projekts ist es, erwachsene Menschen zum Lesen zu motivieren. Einerseits sollen neue Bücher hergestellt, andererseits aber auch vorhandene Bestände so erschlossen werden, dass Menschen leichter ein für sie geeignetes Buch finden. Eines der wichtigsten Ziele des EU-Projekts ist ein gemeinsam erstelltes Handbuch, in dem für alle sichtbar ist, welche Kriterien für leichte Lesbarkeit entscheidend sind. Daran können sich Institutionen orientieren, die selbst Bücher herstellen, aber auch solche, die bereits vorhandene Bücher besser präsentieren wollen. Es finden sich darin aber auch praktische Beispiele zur Umsetzung, z.B. Vermittlungsszenarien.
Dieses Handbuch ist zusammen mit den anderen Informationen zum EU-Projekt auf der Homepage der Stadtbibliothek Köln zu finden.12
3. Wie findet man passende Bücher?
3.1 Die Grundlage: Universal Design
Den wichtigsten Grundstein zu diesem Handbuch hat der norwegische Verein zur Leseförderung „Leser søker bok“ gelegt: Sie haben die Idee des „Universal Design“ aufgegriffen und auf die Buchproduktion angewendet. Generell geht es beim Universellen Design um Produkte und Umgebungen, die von allen Menschen so weit wie möglich genutzt werden können.13 Ursprünglich kommt dieser inklusive Gedanke aus dem Bereich Architektur/Design, er lässt sich aber auch gut auf Bücher anwenden. Ziel ist also nicht, Bücher für besondere Nutzergruppen herzustellen, sondern sie von Anfang an so zu produzieren, dass sie von vielen unterschiedlichen Menschen genutzt werden können – das verringert eine mögliche Stigmatisierung. Ein weiteres Ziel ist, dass Erwachsene in Bibliotheken und anderen Orten es leicht haben sollen, das richtige Buch zu finden, unabhängig von den eigenen Lesefähigkeiten und -erfahrungen.
3.2 Auswahlkriterien
Die Stadtbibliothek Köln hat sich gegen die Produktion neuer Bücher entschieden. Stattdessen sollten Bücher im eigenen Bestand gefunden werden, die die Kriterien des Universellen Designs erfüllen. Zunächst lag der Gedanke an die Easy Reader nahe, die die Bibliothek bereits verleiht. Das Angebot an leicht zu lesenden Büchern ist jedoch vielfältiger als angenommen. So können auch viele andere Bücher leicht zu lesen sein: Romane, Kurzgeschichten, Lyrik oder Graphic Novels.
Die Kolleginnen von Leser søker bok haben durch ihre Erfahrungen mit dem Universellen Design in der Buchproduktion einige Kriterien zusammengestellt, die bei der Auswahl helfen. Hier einige Kriterien, die zum Ausschluss von Texten führen:
- Ein Roman sollte nicht mehr als 200 Seiten haben, da die Textmenge sonst sehr abschreckend wirken kann. Bei anderen Textsorten spielt diese Länge jedoch keine Rolle, z.B. bei Graphic Novels, die wesentlich weniger Text und dafür einen höheren Bildanteil haben, oder bei Lyrikbänden, deren Gedichte auch einzeln gelesen werden können.
- Natürlich spielt aber auch die Komplexität des Textes eine Rolle: Gibt es Zeitsprünge, Fachsprache oder ein Übermaß an handelnden Personen?
- Nicht nur der Inhalt, auch die visuelle Aufmachung eines Buches können Einfluss auf die Lesbarkeit haben. Besonders abschreckend wirkt die berühmte Bleiwüste ‒ zu viel Text auf einer Seite, der dann möglicherweise noch im Blocksatz gesetzt ist und kaum unterteilt wurde (z.B. durch Absätze oder Kapitelüberschriften).
- Auch das andere Extrem kann abschreckend wirken: Visuelles Chaos durch unterschiedliche Schriftarten, Schriftgrößen oder zu viele Grafiken kann stören.
Im Gegenzug lässt sich gut festmachen, welches Layout und Design ein gut lesbares Buch aufweisen sollte:
- Ein luftiges Layout erleichtert das Lesen.
- Absätze sorgen dabei für natürliche Lesepausen.
- Ein linksbündiger Flattersatz erleichtert das Auffinden der nächsten Zeile.
- Ein ruhiger, im besten Fall warmweißer Hintergrund macht die Schrift gut lesbar. Auf bunte und gemusterte Hintergründe sollte verzichtet werden.
- Die Aufteilung des Textes in Spalten wirkt sich negativ auf die Lesbarkeit aus.
3.3 Besondere Anforderungen an Comics/Graphic Novels
Bei Comics und Graphic Novels ist der Bildanteil recht hoch, und der Text nimmt meist viel weniger Platz in Anspruch. Gerade deshalb muss bei dieser Textsorte vor allem auf die Schrift geachtet werden.
- Gut lesbar sind klar unterscheidbare Buchstaben in einer angenehmen Schriftgröße.
- In älteren Comics ist der Text in den Sprechblasen und Textkästen oft noch in der Handschrift des Zeichners gesetzt (sog. Handlettering) und dadurch nicht immer leicht entzifferbar. Auch ein Text in reinen Majuskeln erschwert das Lesen. Das kann vereinfacht werden, wenn der Text in einer Mischung aus Groß- und Kleinbuchstaben sowie im Maschinenlettering gesetzt ist.
- Bei der Schriftart sollte auf Kursivform verzichtet werden.
- Die Seiten bleiben überschaubar, wenn sie nicht zu viel Text enthalten und generell nicht zu viele Elemente (Panels, Textkästen, Sprechblasen) aufweisen.
- Ganz wichtig ist, dass die Reihenfolge der Panels und Sprechblasen deutlich ist, und die Sprechblasen sollten immer klar einer Figur zugeordnet sein.
4. Umsetzung
4.1 Präsentation des Bibliotheksbestands
Die Stadtbibliothek Köln plant, einen Bereich innerhalb der Bibliothek zu errichten, der sich für alle Interessent*innen eignet und dessen Benennung nicht als abwertend oder ausgrenzend empfunden wird. Dieser Bereich soll „Einladung zum Lesen“ heißen. Mit dieser Sammlung barrierefreier Bücher sollen Menschen ermutigt werden, Literatur für sich zu entdecken und Freude daran zu haben. Dann können sie leichter am gesellschaftlichen Leben teilnehmen und zugleich von einem Zuwachs an Selbständigkeit und Selbstvertrauen profitieren.
Zusätzlich wird auf der Homepage der Stadtbibliothek eine Liste mit Titeln aus dem Bestand veröffentlicht, die den o.g. Kriterien entsprechen. Davon können nicht nur interessierte Kund*innen profitieren, sondern auch Kolleg*innen aus anderen Bibliotheken.
4.2 Vermittlung: Best Practice aus Norwegen
Wie lassen sich nun Bücher, die sich anhand der Kriterien als gut geeignet herausstellen, an die Leser*innen bringen?
Bezüglich der Vermittlung des barrierefreien Bestandes hilft der Blick nach Norwegen. Die Kolleg*innen dort praktizieren Aktionen zum gemeinsamen Lesen in den dortigen Sprachcafés, wo sich Menschen mit Migrationshintergrund treffen und austauschen können – ein geeigneter Ort auch für gemeinsame Leseaktionen! Ein zweites Beispiel ist das bilinguale Vorlesen: Ein aus Syrien geflüchteter Lyriker liest seine Gedichte auf Arabisch, die norwegische Kollegin trägt die Übersetzung vor. Über die gemeinsame Fluchterfahrung und deren Thematisierung in den Gedichten kommen die Menschen miteinander ins Gespräch.
Diese gemeinsame Leseerfahrung verändert die Teilnehmenden. Sie fördert das Wohlbefinden und verringert das Gefühl von Einsamkeit. Das gemeinsame Lesen verbessert die Konzentrationsfähigkeit und hilft dabei, Gedanken und Gefühle auszudrücken. Die Erfahrung hat gezeigt, dass sich diese Effekte nicht gleich beim ersten gemeinsamen Lesen einstellen, aber durch Wiederholung immer stärker wirken.
4.3 Vermittlung: Umsetzung in Köln
Ziel ist es, dass die Bibliothek als ein sicherer Ort wahrgenommen wird, an dem sich Menschen gut aufgehoben fühlen. Ein solcher Ort ist der „sprachraum“ 14 der Stadtbibliothek Köln. Er ist ein offener Lernort für Menschen jeder Herkunft und Treffpunkt für interkulturellen Austausch, in dem schon seit 2015 Menschen bei Integrationsprozessen unterstützt werden. Deswegen entschied sich die Stadtbibliothek Köln dafür, erwachsene Deutschlernende als Zielgruppe auszuwählen. Es soll erreicht werden, dass die Suche nach geeigneten Büchern für diese Menschen nicht angstbehaftet ist.
Daher wird ein Lesekreis ins Leben gerufen, in dem die Teilnehmenden gemeinsam lesen und über das Gelesene in der Gruppe sprechen. Natürlich wird dafür ein Buch ausgewählt, das den Kriterien des Universellen Designs entspricht. So wird dazu beigetragen, dass die Teilnehmenden das Lesen mit positiven Erfahrungen verbinden, ihre sprachliche Kompetenz erhöhen und sich so schneller integrieren und als Teil der Gesellschaft fühlen können. In der Gemeinschaft machen viele Dinge einfach viel mehr Spaß und motivieren zum Wiederkommen und Dranbleiben. Denkbar ist auch eine zweisprachige Durchführung.
Auch wenn sich die Stadtbibliothek Köln auf die Zielgruppe der Zweitsprachenlernenden konzentriert, ist für andere Bibliotheken eine andere Ausrichtung denkbar, z.B. lässt sich das Projekt auch auf die Arbeit mit Senior*innen, Menschen mit Demenz u.a. übertragen.
Ein wichtiges Ziel dieser Arbeit ist auch der Austausch mit anderen Bibliotheken. Bei einem zweitägigen Workshop im Mai 2024 wurde die bisherige Arbeit vorgestellt und gemeinsam über Umsetzungsmöglichkeiten diskutiert. Das EU-Projekt endet im Juni 2025 mit einem internationalen Austausch in Trondheim.
Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 4.0 International.
1 https://frsi.org.pl/en/project/books-without-borders/, Stand: 14.08.2024.
2 Dieser Beitrag bezieht sich auf den Vortrag unter gleichem Titel von Nicole James und Constanze Döring am 04.06.2024 bei der 112. BiblioCon 2024 in Hamburg.
3 Vgl. a. https://www.stadt-koeln.de/leben-in-koeln/stadtbibliothek/books-without-borders, Stand 14.08.2024.
4 https://frsi.org.pl/en/, Stand: 14.08.2024.
5 https://fpc.org.pl/, Stand: 14.08.2024.
6 https://lesersokerbok.no/, Stand: 14.08.2024.
7 https://web.trondelagfylke.no/trondelag-fylkesbibliotek, Stand: 14.08.2024.
8 https://ula.org.ua/, Stand: 14.08.2024.
9 Nussbaum, Martha C.: Upheavals of Thought. The Intelligence of Emotions, New York 2008.
10 Stanovich, Keith E.: Matthew effects in reading. Some consequences of individual differences in the acquisition of literacy, in: Journal of Education, 189 (1–2), 2009, S. 23–55.
11 Vgl. https://leo.blogs.uni-hamburg.de/leo-2018-62-millionen-gering-literalisierte-erwachsene/, Stand: 14.08.2024.
12 Vgl. https://www.stbib-koeln.de/books-without-borders, Stand: 14.08.2024.
13 Vgl. https://universaldesign.org/definition, Stand: 14.08.2024.
14 https://www.stbib-koeln.de/sprachraum, Stand: 14.08.2024.