Netzwerk Dekolonialisierung von Bibliotheken im
DACH-Raum

Das Netzwerk Dekolonialisierung von wissenschaftlichen Bibliotheken im DACH-Raum hielt bereits zum zweiten Mal eine öffentliche Arbeitssitzung auf der BiblioCon ab, zuerst 2022.1 Moritz Strickert moderierte die Veranstaltung in diesem Jahr. Nach einer Vorstellungsrunde präsentierte Yvonne Schürer die Entwicklungen und Aktivitäten des Netzwerks seit seiner Gründung im Jahr 2021. Kurz darauf richtete das C3 – Centrum für Internationale Entwicklung in Wien die Mailingliste „Decolonizethelibrary“ bei groups.io ein, die dem Netzwerk als Plattform für Austausch, Ideensammlung und Veranstaltungsankündigungen dient. Die monatlichen Online-Austauschtreffen bieten zusätzlich Gelegenheit zur Diskussion und zur Präsentation von Projekten, die Dekolonialisierung anstoßen und soziale Gerechtigkeit unterstützen. Hierzu gehören nicht nur die Organisationsentwicklung in Bibliotheken, sondern z.B. auch die Überarbeitung von diskriminierenden bibliothekarischen Vokabularen, bibliodiverse Erwerbung, Provenienzforschung sowie die Berücksichtigung von Beiträgen aus dem „Globalen Süden“ bei Recherchen und Publikationsservices.

Im Laufe der Zeit war das Netzwerk Dekolonialisierung von Bibliotheken vielfältig aktiv: Diskussionen über die Netzwerkstruktur und das Selbstverständnis führten 2022 zur Einrichtung eines Wikis mit allen Informationen zum Netzwerk und Inhalten zu Inhaltserschließung, Erwerbung, Recherche und Datenbanken.2 Das Netzwerk beteiligte sich am Themenheft LIBREAS #40 und erstellte eine eigene Zotero-Bibliothek mit relevanter Literatur. Ein Lesezirkel wurde ebenfalls ins Leben gerufen und fand seither vier Mal statt. 2023 nahm das Netzwerk am #freiraum23 auf der BiblioCon in Hannover teil. Eine besonders fruchtbare Zusammenarbeit entwickelte sich mit Rachel Chong und Ulrike Kestler von der Kwantlen Polytechnic University in Kanada. Deren Online-Praxisbericht über den Indigenisierungsprozess der KPU-Bibliothek war sehr gut besucht.3 Weiterer Höhepunkt war eine Gastvorlesung an der FH Potsdam im Januar 2024.

In diesem offenen Netzwerk für fachlichen Dialog soll es weitere Online-Praxisberichte mit Beitragenden aus aller Welt geben, und Interessierte sind herzlich eingeladen, an den monatlichen Online-Treffen teilzunehmen und sich in die Mailingliste einzutragen.

Nach der Präsentation des Netzwerks und dessen Aktivitäten folgten zwei Projektvorstellungen: Über das Netzwerk Koloniale Kontexte sprach Julia Zenker, und das Projekt In_Context stellten Lars Müller und Larissa Schmid vor.

Das Netzwerk für nachhaltige Forschungsstrukturen zur Bearbeitung von Sammlungen und Beständen aus kolonialen Kontexten (kurz: Netzwerk koloniale Kontexte) beschäftigt sich mit Fragen zur digitalen Zusammenführung, Bearbeitung und Sichtbarkeit sowie zu Nutzungsmöglichkeiten von digitalen Materialien und Daten aus kolonialen Kontexten.4 Es wurde nach einem DFG-Rundgespräch im Herbst 2020 gegründet und wird seither von einem Orga-Team geleitet, das sich aus Kolleg*innen der folgenden Projekte zusammensetzt: der Arbeitsgruppe Koloniale Provenienzen vom Arbeitskreis Provenienzforschung e.V., dem Deutschen Zentrum Kulturgutverluste, den Fachinformationsdiensten Afrikastudien und Sozial- und Kulturanthropologie, der Koordinierungsstelle für wissenschaftliche Universitätssammlungen in Deutschland und dem In_Context-Projekt an der Staatsbibliothek zu Berlin, das im Anschluss vorgestellt wurde.

Das Netzwerk koloniale Kontexte trifft sich zwei Mal im Jahr online. Hier werden deutsche und internationale Projekte zu Digitalisierung präsentiert und Fragen rund um das Thema diskutiert. Außerdem finden Workshops und Vortragsreihen statt. Aus dem Netzwerk heraus haben sich drei AGs gegründet: zum einen die AG Thesauri, die sich mit der Vernetzung und Standardisierung von Fachvokabularen beschäftigt und die AG Internationale Kooperationen.5 Zum anderen wurde die AG Koloniale Kontexte in Bibliotheken gegründet, die sich einen Überblick über bestehende Projekte verschaffen möchte und einen Leitfaden zum Thema entwickelt.

Mittlerweile sind ca. 60 verschiedene, auch internationale Institutionen, wie Bibliotheken, Archive, Museen und Sammlungen, Forschungsförderungs- und infrastrukturinstitutionen sowie wissenschaftliche Einrichtungen im Netzwerk koloniale Kontexte vertreten. Ziel ist es, nationale und internationale Akteur*innen, die digitale Zugänge zu Materialien und Daten aus kolonialen Kontexten benötigen oder bereitstellen, miteinander ins Gespräch zu bringen und sich gemeinsam über technische und ethische Standards und Bedürfnisse zu verständigen.6

Das danach vorgestellte 2-Jahres-Projekt In_Context ist an der Staatsbibliothek zu Berlin angesiedelt.7 Es hat das Ziel, eine Finanzierung für die Digitalisierung von Bibliotheksbeständen aus kolonialen Kontexten und für den Aufbau einer virtuellen Forschungsumgebung einzuwerben, die relevante Sammlungen in Deutschland und von internationalen Partner*innen präsentiert und zugänglich macht. Zahlreiche Nachfragen zum diesem Projekt führten zu einem regen Austausch der Teilnehmenden über die Möglichkeiten des praktischen Umsetzens von Dekolonialisierung.8

Anschließend sprach Jakob Schlömer über eine Perspektive der öffentlichen Bibliotheken auf Dekolonialisierung. Inwiefern stehen diese, und hier vor allem der Bereich der Kinderliteratur, wegen ihres Bildungsauftrages vor anderen Herausforderungen als wissenschaftliche Bibliotheken? Sollen Sachbücher mit fragwürdigem Inhalt ausgesondert, mit Disclaimern oder Verweisen versehen werden? Muss über andere Formen der Erwerbung nachgedacht werden?

Im folgenden Diskussionsteil gingen die Teilnehmenden ausführlich auf die Frage stereotyper Bilder in Kinder- und Jugendbüchern ein. Hier werden teilweise noch immer Bilder veröffentlicht, die sich kaum von jenen aus den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts unterscheiden, mitsamt der inzwischen als rassistisch verworfenen Begrifflichkeiten. Die Exotisierung indigener Bevölkerungen, insbesondere Nordamerikas, sei weiterhin gängige Grundlage für Kinderbücher.

Während einige Diskussionsteilnehmer*innen aus ihren Bibliotheken berichten konnten, dass beispielsweise gemeinsam mit den Nutzer*innen besonders kritische Titel mit Hinweisen versehen wurden, signalisierten andere Teilnehmende größere Unsicherheit im Umgang mit stereotypisierenden oder rassistischen Beständen. Als möglicher Weg wurde eine Beteiligung von Menschen mit Rassismus-Erfahrungen an Bestandsaufbau und -pflege der öffentlichen Bibliotheken diskutiert. Allerdings darf diese nicht als unbezahlte Leistung von ohnehin häufig rassistisch Marginalisierten stattfinden.

Interessant war der Erfahrungsbericht aus einer Berliner Stadtteilbibliothek, in der sich eine Gruppe gebildet hat, die gemeinsam über problematische Inhalte in Kinderbüchern diskutiert und bestimmte Bücher mit entsprechenden Aufklebern versieht. Am Goldsmith’s College der University of London hinterlassen Studierende Bücherwünsche in Büchern, wenn sie sich dort nicht ausreichend repräsentiert fühlen. Ähnliche Versuche laufen in der Universitätsbibliothek Wien.

Außerdem wurde bibliothekstypenübergreifend darüber gesprochen, wie problematische Bestände zu erkennen sind und wie eine Kontextualisierung auch bei großen Beständen realisiert werden könnte. Auch kam die Frage auf, ob man an wissenschaftlichen Bibliotheken nicht davon ausgehen kann, dass bei Materialien aus kolonialen Kontexten auf eine Kontextualisierung verzichtet werden könne. Allerdings erzeugt gerade die Bereitstellung der Materialien im digitalen, öffentlichen Raum besondere Herausforderungen, da diese anders als vor Ort in der Bibliothek auch ohne jeden Kontext auffindbar seien. Deswegen werden Maßnahmen wie z.B. die Unkenntlichmachung von Bildern und Begleittexte diskutiert, oder auch Zugangsbeschränkungen beim Anschauen bzw. Herunterladen von Filmen.

Auch die Rolle der öffentlichen Bibliotheken in der diversen deutschen Gesellschaft wurde diskutiert. Menschen, deren Identitäten aus kolonialen Blickwinkeln und/oder rassistisch betrachtet werden, sind selbst Nutzende der Bibliotheken. Welche Möglichkeiten sich für Bibliotheken ergeben, um vor allem Sprachbarrieren und damit Hierarchien abzubauen, war ein weiterer Diskussionsfaden, der gekennzeichnet war von den gegenüber wissenschaftlichen Bibliotheken häufig eingeschränkten Handlungsspielräumen öffentlicher Bibliotheken, sowohl beim Personal als auch bei der Bestandsentwicklung.

Die Beteiligung von Beschäftigten und Leitungen sowohl öffentlicher wie wissenschaftlicher Bibliotheken an der Diskussion zeigte dabei, dass die Dekolonialisierung in deutschen Bibliotheken ein übergreifendes Thema darstellt, das sich mit anderen Problemstellungen überschneidet. Das Netzwerk ist auch ein Ort für die Diskussion dieser Fragen.

Jakob Schlömer, Stadt- und Landesbibliothek Dortmund, https://orcid.org/0000-0003-3055-228X
Nora Schmidt, Stadtbibliothek Charlottenburg-Wilmersdorf, Berlin, https://orcid.org/0000-0002-7105-9515
Yvonne Schürer, Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig, Bibliothek, https://orcid.org/0000-0001-7838-5973
Moritz Strickert, Humboldt-Universität zu Berlin, Universitätsbibliothek, Fachinformationsdienst Sozial- und Kulturanthropologie, https://orcid.org/0000-0001-9626-5932
Julia Zenker, Humboldt-Universität zu Berlin, Universitätsbibliothek, Fachinformationsdienst Sozial- und Kulturanthropologie, https://orcid.org/0009-0002-1722-9218

Zitierfähiger Link (DOI): https://doi.org/10.5282/o-bib/6086

Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 4.0 International.

1 Dieser Beitrag berichtet über die „Öffentliche Arbeitssitzung des Netzwerks zur Dekolonialisierung von Bibliotheken im DACH-Raum“ am 05.06.2024 anlässlich der 112. BiblioCon in Hamburg.

2 Netzwerk Dekolonialisierung von Bibliotheken im DACH-Raum, https://decolonizethelibrary.miraheze.org, Stand: 20.07.2024.

3 Decolonization and Indigenization at Kwantlen Polytechnic University (with German subtitles), Netzwerk Dekolonialisierung von Bibliotheken im DACH-Raum, 2023. http://archive.org/details/decolonize-recording-kpu-de, Stand: 20.07.2024; Schmidt, Nora: Indigenisierung. Was geht Bibliotheken das an? Über einen Praxisbericht aus Kanada und Schürer, Yvonne: Das Netzwerk Dekolonialisierung von Bibliotheken im DACH-Raum, in: BuB – Forum Bibliothek und Information 76 (4), 2024, S. 170-175. https://doi.org/10.5281/zenodo.11181081.

4 Siehe EVIFA. Fachportal Ethnologie, Netzwerk koloniale Kontexte, https://www.evifa.de/de/netzwerk-koloniale-kontexte, Stand: 20.07.2024.

5 AG Internationale Kooperationen des Netzwerk koloniale Kontexte: Workshop Series on Collaborative Digitization Projects. Takeaways and Recommendations, 2021. https://www.evifa.de/de/netzwerk-koloniale-kontexte/medien/takeways-collaborative-digitization-projects-series-2021.pdf, Stand: 20.07.24.

6 Erste Ergebnisse sind zusammengefasst in: Imeri, Sabine; Strickert, Moritz; Zenker, Julia: Koloniale Kontexte in der Bibliothek. Vernetzen, Erschließen, Bereitstellen, in: Bibliothek Forschung und Praxis 48 (2), 2024.

7 Siehe In_Context. Colonial Histories and Digital Collections, https://in-context.sbb.berlin, Stand: 20.07.2024.

8 Ein*e Teilnehmer*in verwies auf die kürzlich publizierte Masterarbeit von Stephanie Willi: Weisses Papier, weisse Archive. Über die Notwendigkeit der Dekolonisierung von Schweizer Archiven, in: Informationswissenschaft: Theorie, Methode und Praxis 8 (1), 2024, S. 449-484. https://doi.org/10.18755/iw.2024.22.