„Alles DSGVO-konform! – Wirklich?“

Bericht vom Hands-On Lab „Datentracking im wissenschaftlichen Workflow“

Die Verlagslandschaft hat sich in den letzten Jahren radikal gewandelt. Inzwischen liegt der Fokus der großen, globalen Verlagshäuser nicht mehr auf klassischen Publikationsdienstleistungen – vielmehr erwirtschaften sie einen großen Teil ihrer Gewinne im Geschäftsbereich Data Analytics. Innerhalb der RELX-Group, dem Mutterkonzern von Elsevier, ist der Bereich Databases, Tools & e-References für einen Anteil von knapp 40 % der Erlöse der Wissenschaftssparte verantwortlich. In der RELX-Group insgesamt ist der Bereich „Risk Solutions“, worunter z. B. der Verkauf persönlicher Daten u. a. an Polizei- und Sicherheitsinstitutionen fällt1, mittlerweile gleich groß wie die Wissenschaftssparte.2 Aufgrund ihrer herausragenden Gewinne und darüber realisierten Zukäufe bieten einige dieser Global Player inzwischen ganze Workbenches an, die alle Phasen des wissenschaftlichen Forschungsprozesses umfassen. Im Hands-On-Lab „Datentracking im wissenschaftlichen Workflow“ bei der 111. BiblioCon sollten daher angesichts dieser Entwicklungen die aktuell drängendsten Herausforderungen für wissenschaftliche und öffentliche Bibliotheken diskutiert werden. Für den Schutz der digitalen Souveränität und des individuellen und kollektiven Datenschutzes der Nutzenden, aber auch der eigenen Mitarbeiter*innen, sollten Lösungsansätze herausgearbeitet werden. Im Mittelpunkt der Diskussionen des gut 1,5 Stunden dauernden Hands-On Labs standen daher Fragen wie: Was können Bibliotheken und Bibliothekar*innen tun, um z. B. Hoheit über die eigenen Daten und die Daten der Nutzenden zu bewahren? Welche Arten des Trackings könnten tolerierbar sein? Welche Formen der Aufklärung sind notwendig und wo bieten sich Alternativen an?

Nach einer kurzen Begrüßung und Einstimmung durch die Workshopleiterin Ulrike Wuttke und zwei theoretischen Einleitungen in die Thematik Datentracking durch Renke Siems und Raffaela Kunz sowie einer Show-and-Tell-Session von Konrad Förstner wurden im Lab drei Schwerpunkte an Thementischen partizipativ diskutiert. Die Thementischpat*innen Timo Steyer (Informationskompetenz), Melanie Seltmann (Verlage) und Renke Siems (Berufsethik) stellten jeweils ihr Thema und internationale Lösungsvorschläge kurz vor, wie z. B. SPARC Roadmap Community Owned Infrastructure3 oder aktuelle Vorschläge von nationalen Akteuren wie der Allianz der Wissenschaftsorganisationen, dem Rat für Informationsinfrastrukturen, dem Wissenschaftsrat oder der DFG. Danach diskutierten sie diese gemeinsam mit den Teilnehmenden in zwei Runden.

Impulsbeitrag „Fusionitis & Folgen“

Den Auftakt zur Veranstaltung machte Renke Siems mit seinem Input „Fusionitis & Folgen”, worin er basierend auf seinem kürzlich erschienenen Aufsatz4 die Ausweitung der datengetriebenen Geschäftsmodelle seitens der Wissenschaftsverlage vorstellte. Weit über den Publikationsprozess hinausgehend greifen Wissenschaftskonzerne in alle Bereiche des wissenschaftlichen Workflows ein, etwa in die Datenauswertung, Laborlogistik, Textproduktion bis hin zur Wissenschaftskommunikation, Forschungsinformation und -bewertung. Bei all diesen datengetriebenen Tools und Services fallen Nutzungsspuren an, etwa was von wem im Bibliothekskatalog gesucht wird, mit welcher Aufmerksamkeit Dokumente im Literaturverwaltungssystem behandelt werden oder ob über das Scholarly Sharing Downloads weitergegeben werden. Die Datenauswertung erstrecke sich damit tendenziell über alle Aspekte des akademischen Lebens und werde in immer neue datenbasierte Produkte verpackt.

Zu diesen Analysen der Anbieter selbst trete dann noch das Datentracking durch Drittparteien der digitalen Werbetechnik hinzu, wodurch Wissenschaft in die allgemeine kommerziell getriebene Überwachung des Internets integriert werde und sich damit auch das Informationsverhalten der Wissenschaftler*innen und Studierenden in das Wissen über sie aus anderen Kontexten einfüge. Der goldene Weg des Open Access, etwa bei den großen Transformationsverträgen, ändere an diesen Entwicklungen nichts, sondern würde das Bündeln von Daten, Inhalten und Services in großen Plattformen nur erleichtern – ein insofern naives, gegenteiliges Verständnis von Open Science könne man sich daher gerade in Zeiten von KI und Large Language Models nicht leisten. Vielmehr müsse analog zum Stand bei den Forschungsdateninfrastrukturen auch in anderen Bereichen der wissenschaftlichen Services in alternative Lösungen in der Hand der Wissenschaft investiert werden, um Sicherheit und Innovationen in digitaler Souveränität zu erreichen.

Impulsbeitrag „Open Science und Wissenschaftsfreiheit“

Der zweite Input wurde von Raffaela Kunz (Collegium Helveticum) zum Thema „Open Science und Wissenschaftsfreiheit“ gehalten. Ausgehend von der zentralen Aussage, dass freie und offene Wissenschaft nur umsetzbar ist, wenn sich beide Faktoren über den gesamten Forschungsprozess erstreckten, erinnerte sie daran, dass sich die Open-Access-Bewegung aufgrund der Geschäftsmodelle der großen Wissenschaftsverlage gegründet habe. Trotzdem hätten es die Verlage geschafft, Open Access zu einem gewinnbringenden Geschäftsmodell zu entwickeln und sich darauf aufbauend dem Daten- und Datenanalysegeschäft zuzuwenden. Wie Renke Siems verwies sie darauf, dass einige Großverlage schon digitale Services aufgebaut hätten, die den gesamten Forschungsprozess unterstützten. Mit Verweis auf das Informationspapier der DFG wird damit aus ihrer Sicht die Wissenschaft zu einem Datengeschäft gemacht.5 Durch die Kommerzialisierung der Wissenschaftsinfrastruktur bestehe die Gefahr, dass die Wissenschaft durch die Marktlogik beeinflusst werde. So könnten Großverlage strategischen Einfluss auf die Entwicklung der Wissenschaft nehmen.

Dieser Entwicklung müsse auf mehreren Ebenen entgegengewirkt werden: Zum einen müssten staatliche Akteure die Wissenschaftsfreiheit und die Autonomie der Wissenschaft stärker vor Fremdeinflüssen schützen. Auch sollten die Selbstregulierungskräfte der Wissenschaft noch stärker mobilisiert werden. Gute Beispiele seien das Diamond-Open-Access-Modell und die Initiative Stop Tracking Science6. Um wirklich auch auf Ebene der wissenschaftlichen Karrierewege Open Science voranzubringen, müssten aber auch die aktuellen Anreiz- und Evaluationssysteme geändert werden, da diese aktuell noch von den Angeboten der Großverlage dominiert wären und viele Forschenden davon abhängig seien.

Show-and-Tell: Werkzeuge zum Aufzeigen von Datentracking

Konrad Förstner (ZB MED / TH Köln) oblag dann der praktische Teil des Labs. Er stellte verschiedene Werkzeuge vor, mit denen auf einfache Weise der Trackingdatenverkehr sichtbar gemacht werden kann.7 Dies waren teils entsprechende Service-Webseiten wie Blacklight8, Webkoll9 und Privacy­Score10, teils Browser Add-Ons wie Privacy Badger, DuckDuckGo Plugin, Ghostery und No Script.11 Fortgeschrittene können zudem die Entwicklerwerkzeuge ihres Browsers zurate ziehen oder eine Netzwerkanalyse mit Wireshark12 unternehmen.

Mit Hilfe dieser Werkzeuge konnte Konrad Förstner bei verschiedenen bekannten wissenschaftlichen Zeitschriften und Plattformen die Menge und Typologie an integrierten Trackern aufzeigen, aber auch, dass bei communitygetragenen Angeboten wie Publisso solche Risiken nicht bestehen. In der Diskussion kam u. a. die Frage auf, ob den Verlagen überhaupt bewusst wäre, welche Tracking-Technologien sich auf ihren Plattformen „tummeln“. Konsens war dabei, dass es solche Probleme grundsätzlich zwar gebe, z. B. beim Einsatz von trackerverseuchten Software Development Kits (SDKs) zur Entwicklung von Mobilanwendungen, jedoch nicht davon auszugehen sei, dass Unternehmen, die sich selbst als führende Data-Analytics-Anbieter verstehen, nicht wüssten, was auf ihren Webseiten geschehe. Ein Hinweis auf Eigenmächtigkeiten von Webentwicklern sei daher als Ausflucht zu werten.

Thementisch zu Informationskompetenzvermittlung und Datentracking

Im Hinblick auf das Spannungsverhältnis zwischen den Gefahren des Datentrackings und der offensichtlichen Relevanz des Themas sowie dem Mangel an entsprechenden Informations- und Beratungsangeboten wurden verschiedene Möglichkeiten diskutiert, wie Bibliotheken im Rahmen der Vermittlung von Informationskompetenz aktiv werden könnten. Einige Teilnehmer*innen sahen eine moralische Verpflichtung der Bibliotheken zu solchen Angeboten, da viele Nutzende erst durch bibliothekarische Nachweissysteme Zugang zu trackenden Verlagsplattformen erhalten.

Ein Ziel von Informationsveranstaltungen zum Datentracking durch Verlage könnte darin bestehen, für dieses Thema zu sensibilisieren und ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass das individuelle Publikations- und Leseverhalten verfolgt werden kann und Verlage kostenlos Zugang zu relevanten Daten erhalten, über deren konkrete Verwendung die unfreiwilligen Datenlieferanten keine Vorstellung haben. Zudem könnten so die Bedeutung der eigenen digitalen Souveränität vermittelt und Tools präsentiert werden, die bei der Identifizierung von Tracking-Diensten helfen (siehe Show-and-Tell-Teil von Konrad Förstner). Darüber hinaus sollten in Schulungen zum Thema Datentracking auch Richtlinien wie bspw. die „Gute wissenschaftliche Praxis“13 der DFG und die einschlägige Forschungsliteratur thematisiert werden.

Neben Inhalten wurde intensiv über die möglichen Zielgruppen solcher Informationsangebote diskutiert. Für eine Ausrichtung auf Studierende sprechen Argumente wie eine möglichst frühe Sensibilisierung für das Thema und ihre Unvoreingenommenheit gegenüber etablierten akademischen Publikationstraditionen. Andererseits hätte eine Ausrichtung auf wissenschaftliche Mitarbeiter*innen den Vorteil, Schulungen im Rahmen aktueller Publikationsvorhaben anzubieten. Im weiteren Verlauf der Diskussion wurde Einigkeit darüber erzielt, dass Schulungen zum Thema Datentracking in bestehende Angebote integriert werden sollten, um eine möglichst große Anzahl von Teilnehmenden zu erreichen. Diese könnten beispielsweise Angebote zur Förderung von Publikationskompetenz, Kurse zum Urheberrecht oder zu Open Access umfassen. Auch das Format der Coffee Lectures wurde als eine mögliche Variante ermittelt, um das Problem des Datentrackings auf prägnante und kompakte Weise anzusprechen.

Für die didaktische Umsetzung der Angebote wurden mehrere Ideen entwickelt, z. B. über Shock-Content auf die realen Gefahren hinzuweisen, die ein Tracking haben könnte, und die auch über das Trackingverhalten von Verlagen hinausgehen und das Thema in die Kontexte der digitalen Souveränität, des eigenen digitalen Fußabdrucks und des Datenschutzes einordnen. Dabei müsste nach Meinung der Teilnehmenden aber immer beachtet werden, keine grundsätzlichen Bedenken vor dem digitalen Arbeiten und zu digitalen Medien zu schüren und so eine kontraproduktive Reaktion herbeizuführen. Vielmehr sollte ein positiver Bezug zum digitalen Arbeiten hergestellt, aber auch verdeutlicht werden, dass dieses nicht voraussetzungsfrei ist und die Schulungsteilnehmenden selbst entscheiden müssen, unter welchen Prämissen sie sich im digitalen Raum bewegen wollen.

Die größten Herausforderungen beim Aufbau von Informations- und Beratungsangeboten zum Thema Datentracking von Verlagen wurden im möglicherweise geringen Interesse und Problembewusstsein der Zielgruppen gesehen und im noch fehlenden Verständnis der Funktionsweise von Datentracking bei den Bibliotheksmitarbeitenden. Trotz dieser Hürden erschien den Teilnehmenden grosso modo der Aufbau von bibliothekarischen Informations- und Beratungsangeboten zum Thema Datentracking sinnvoll, da dies auch gleichbedeutend mit einer deutlichen Positionierung von Bibliotheken gegenüber der Wertschöpfungskette der involvierten Wissenschaftsverlage sei. Dabei war allen Teilnehmenden wichtig, dass diese Angebote institutionenübergreifend aufgebaut werden sollten, um vorhandene Kompetenzen zu vernetzen und die Teilnehmendenzahlen durch gemeinsame und vernetzte digitale Angebote zu erhöhen.

Thementisch zu Verlagen

Zu Beginn der Diskussion um den Bereich der Geschäftsbeziehungen zu Verlagen wurde noch einmal rekapituliert, was in einer Podiumsdiskussion, die am gleichen Tag wie das Hands-On Lab bei der BiblioCon stattfand, gesagt worden war – zumal einige der Organisator*innen der Podiumsdiskussion am Thementisch teilnahmen.14 Als Hauptproblem wurde herausgearbeitet, dass das eigentliche Dilemma sei, dass Wissenschaftler*innen einerseits die Inhalte der Verlage konsumieren wollen und für ihre Forschung benötigen und damit auch die Bibliotheken den Zugang zu diesen Inhalten bereitstellen müssen – auch wenn auf den Verlagsseiten Daten der Nutzenden getrackt würden. Andererseits müssten die Bibliotheken dafür einstehen, dass die Daten ihrer Nutzenden nicht weitergegeben werden und Nutzende ihren Recherchen nachgehen können, ohne Spuren zu hinterlassen. Analog zur Möglichkeit, in eine Bibliothek zu gehen, sich ein Buch aus dem Regal zu nehmen und es im Lesesaal durchzuarbeiten – gänzlich ohne Registrierung, wer wann welches Buch aus dem Regal genommen hat – sollte dies auch im Digitalen ein Pendant haben. Bibliotheken hätten die Pflicht, die Daten der Nutzenden zu schützen.

Schnell kamen die Teilnehmenden zu Überlegungen, ob Deutschland nicht eine Vorreiterrolle einnehmen sollte. Es sollte fähig sein, Druck auf die Verlage auszuüben, einen Zugang auch ohne Datentracking zu ermöglichen. Dies könnte beispielsweise durch den Zusammenschluss mehrerer Bibliotheken geschafft werden. Wenn keine deutsche wissenschaftliche Bibliothek – oder vielleicht sogar international darüber hinaus – mehr Dienste von Verlagen lizenzieren würde, die die Daten der Nutzenden mitschneiden, dann müssten die Verlage einlenken.

Die Diskussionsrunde profitierte sehr davon, dass einige Teilnehmende bereits viele Vorerfahrungen hinsichtlich des Themas sowie in der Kommunikation mit Verlagen über dieses Thema mitbrachten. Es wurden darauf hingewiesen, dass alle Verlage in ihren Verträgen schreiben, dass sie DSGVO-konform agierten. Die Realität sieht aber anders aus, wie man mit verschiedenen Tools nachprüfen kann (siehe 3 Show-and-Tell). So werden z. B. auf den Webseiten der Verlage Daten mit amerikanischen Großkonzernen wie Google, Facebook und Co. geteilt.

Es wurde die These in den Raum gestellt, dass nicht nur das Third-Party-Tracking problematisch ist, sondern auch Single-Sign-On und damit First-Data-Tracking. Denn auch hierbei werden Daten getrackt und Profile über Nutzende erstellt. Dies widerspricht dem zuvor angesprochenem Prinzip, „anonym“ recherchieren zu können. Daher wäre es wünschenswert, alternative Möglichkeiten bereitzustellen, um Ressourcen zu konsumieren. Als Idee kam in diesem Zusammenhang auf, die Nutzung von digitalen Ressourcen über anonyme Proxys zu ermöglichen. Darüber würden zwar immer noch Daten gesammelt, diese von der Bibliothek aber nur kumuliert an die Verlage weitergegeben. Genau dieses Vorgehen ist in den DEAL-Verträgen jedoch derzeit untersagt. Für künftige Verhandlungen wäre es daher erstrebenswert darauf hinzuarbeiten, dass der entsprechende Passus gestrichen wird.

Als weitere mögliche Lösung wurde Diamond Open Access diskutiert. Wenn die Veröffentlichungen bei der Wissenschaft selbst liegen, bräuchte es die Verlage nicht mehr und damit könnten sie auch nicht mehr die Daten der Nutzenden tracken.

Thementisch zur Berufsethik

Die Diskussion zur Berufsethik startete mit der Feststellung, dass diese in mehrfacher Hinsicht sowohl nach innen wie nach außen wirkt. Zunächst ist sie nach innen gerichtet auf die Bibliothekar*innen selbst und ihre professionellen Standards. Ebenfalls intern ist das Verhältnis zu den Nutzenden, denen die Bibliothek dient und die ihren Widmungszweck bestimmen. Nach außen gerichtet ist das Verhältnis zum Unterhaltsträger und auch das zu den Geschäftspartnern, wie z. B. den Verlagen.

Das Datentracking berührt die inneren Grundlagen des bibliothekarischen Selbstverständnisses auf verschiedene Weise. Zunächst aufgrund des Ausmaßes der Datenerhebung und der damit verbundenen möglichen Rechtsverletzungen, vor allem, wenn man dies korreliert mit dem Aufwand, den allein das Zählpixel für die Deutsche Bibliotheksstatistik bis hin zu einer datenschutzrechtlichen Prüfung durch die Zentrale Datenschutzstelle der baden-württembergischen Universitäten (ZENDAS) ausgelöst hatte.15 War diese vergleichsweise harmlose Maßnahme nicht nachhaltig durchführbar gewesen, führte die Offenlegung des Datentrackings, das seit etlichen Jahren stillschweigend vorgenommen wurde, demgegenüber zu einer Schockstarre auf Seiten der bibliothekarischen Akteure. So gibt es bis heute keine Stellungnahme der deutschen Bibliotheksverbände geschweige denn Konsequenzen. Das Vorgehen der Anbieter, die mit dem Datentracking ganz offenkundig den Willen der Bibliotheken, wie er z. B. in den Lizenzverabredungen zur Authentifizierung niedergelegt ist, missachten, bedeutet damit einen Vertrauensbruch und zieht mehrere der ethischen Grundsätze in Zweifel, die von Bibliothek &
Information Deutschland (BID) als bibliothekarischem Dachverband niedergelegt wurden16, z. B.:

Dieser Vertrauensbruch trifft unmittelbar die Relevanz und Wahrnehmung von Bibliotheken als Access Provider. Er stellt einerseits die Frage, wie Bibliotheken ihre Nutzenden vor dem Datentracking schützen können, aber andererseits auch, ob diese angesichts der jahrelangen Gewöhnung an die kommerzielle Überwachung ihrer Online-Aktivitäten vielfach überhaupt geschützt werden wollen. Hier ist die Verknüpfung mit dem Bereich Informationskompetenz zu sehen, denn angesichts der Intransparenz dessen, was im Datentracking alles geschieht und welche Ausmaße das datengestützte Profiling annimmt, wird auch die Mehrheit der akademischen Bibliotheksnutzenden keine angemessene Vorstellung davon haben, was sich z. B. hinter dem aufploppenden Cookiebanner tatsächlich verbirgt.

Aus berufsethischer Sicht ist das Thema Datentracking damit ein Knäuel individueller und institutioneller Aspekte. Individuell hinterfragen manche Nutzenden das Tracking vielleicht nicht, sondern wollen lieber vom seamless working datenbasierter Workflows profitieren. Institutionell (und rechtlich) ist das Tracking aber nicht so einfach hinnehmbar, wenn es z. B. (sicherheits)politische Implikationen von Forschung betrifft oder wenn – wie international zunehmend der Fall – die digitale Lehre davon unterwandert würde und die Studierenden sich überhaupt nicht dagegen wehren können, ohne ihren Studienerfolg zu gefährden.17 Eine informierte Einwilligung kann es unter solchen Umständen nicht geben.

Die Konsequenzen für die Bibliotheksarbeit wurden als vielgestaltig diskutiert. Zunächst stellt sich natürlich die Frage, wie eine Bibliothek nach einem solchen Vertrauensbruch noch mit Verlagen als Geschäftspartner zusammenarbeiten kann. Andererseits wurde die Analyse der Nutzungsdaten nicht als etwas prinzipiell Schlechtes betrachtet, denn eine datenschutzgerechte Erhebung und Auswertung von Nutzungsdaten liegt sowohl im berechtigten Interesse der Bibliotheken, die damit ihre Services verbessern können, wie ebenso in dem der Nutzenden, denen in der Folge eine qualitativ höherwertige Bibliothek zur Verfügung steht. Entscheidend ist die Herstellung von Transparenz, was bedeutet, erst sich, dann die Nutzenden entsprechend aufzuklären. Denn auch wenn man pragmatisch zugeben muss, dass Bibliotheken nicht die Welt über Nacht ändern werden, so ist die Schaffung von Awareness für diese Fragen das Mindeste, das erwartet werden kann.

Fazit und Ausblick

Es lässt sich festhalten, dass das Thema Datentracking zu wichtig und aktuell ist, um sich nicht genauer damit auseinanderzusetzen. Es findet noch viel zu wenig Beachtung im bibliothekarischen Umfeld, wie in der vorgehenden Podiumsdiskussion „Datentracking – Gefahr für die Freiheit der Wissenschaft?“ deutlich wurde. Aus Sicht der Berufsethik bleiben Tracking und Datenanalysen zwiespältig. Es gibt verschiedene Instrumente für eine datenschutzgerechte Webseitenanalyse, wie z. B. Matomo, deren Einsatz mit Blick auf konkret deklarierte Zwecke völlig legitim ist und die auch im Hochschulbereich verbreitet sind. Anhand solcher Auswertungen werden viele Innovationen entwickelt und die Usability von digitalen Services verbessert. Das Tracking der Wissenschaftskonzerne ist allerdings aufgrund seiner Intransparenz und unklaren Zielsetzung ein massiver Problemfall. In der Podiumsdiskussion wurde die jetzige Situation nach Einschätzung der Diskutanten als nicht rechtskonform beschrieben. Sie wirft für die Einrichtungen vielmehr Haftungsfragen auf, denn in der Umsetzung der DEAL-Verträge z. B. läge eine gemeinsame Datenverarbeitung nach Artikel 26 DSGVO vor.18

Sicher ist, dass sich die Bibliotheken gegenüber den Verlagen positionieren und die Belange ihrer Nutzenden vertreten müssen. Zudem sollten sie dafür sorgen, dass ihre Geschäftsbeziehungen zu Verlagen nach geltendem Recht funktionieren und gleichzeitig für Awareness unter den Wissenschaftler*innen sorgen. Dies können sie durch die (gemeinsame) Entwicklung und Durchführung zielgruppenspezifischer Informationskompetenz-Angebote, wie Schulungen, Coffee Lectures und Informationsmaterialien erreichen, die neben theoretischen Aspekten auch Good Practice-Beispiele umfassen.

Die Autor*innen sind der Meinung, dass nicht-DSGVO-konformes Datentracking aus Sicht der professionellen Standards im Bibliothekswesen unakzeptabel ist, denn es zementiert und vergrößert das Machtungleichgewicht im Informationswesen, verletzt die informationelle Selbstbestimmung der Nutzenden und kann zu konkreten Gefährdungen führen, etwa bei sicherheitsrelevanter Forschung. Angesichts der zunehmenden Zusammenarbeit der Wissenschaftskonzerne mit Militär und Nachrichtendiensten inklusive Datenlieferungen, deren Umfang und Charakter nicht abschätzbar sind19, ist fraglich, ob eine Universität oder Hochschule mit Zivilklausel überhaupt noch mit diesen Anbietern einen Lizenzvertrag unterzeichnen kann, ohne gegen die eigene Grundordnung zu verstoßen –
schließlich heißt es in der Fachdiskussion mittlerweile, „that LexisNexis aka Elsevier aka RELX Group is a kind of outsourced domestic US intelligence agency.“20

Die Veranstaltung zeigte zum einen die Gefahren auf, die sich sowohl für Bibliotheken als auch vor allem für ihre Nutzenden aus dem Datentracking der Wissenschaftsverlage ergeben, zum anderen wurden verschiedene Gegenmaßnahmen diskutiert, die auch ohne erheblichen finanziellen Aufwand von Seiten der Bibliotheken umgesetzt werden können. Bibliotheken sollten daher beim Thema Datentracking verstärkt aktiv werden und nicht auf eine Lösung warten, die vielleicht von den aktuellen Verhandlungsteams erreicht wird – oder eben vielleicht auch nicht, wodurch das Problem mindestens bei den frei zugänglichen Ressourcen fortbestünde. Die engagierten Diskussionen und die vorhandenen Kompetenzen in diesem Hands-on Lab machten Mut, dass sich die Bibliotheken dem Thema Datentracking in naher Zukunft beherzter annehmen werden.

Melanie Seltmann, Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, https://orcid.org/0000-0002-7588-4395

Renke Siems, Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden Württemberg, Stuttgart, https://orcid.org/0000-0002-9824-5449

Timo Steyer, Technische Universität Braunschweig, Universitätsbibliothek, https://orcid.org/0000-0003-0218-2269

Ulrike Wuttke, Fachhochschule Potsdam, Fachbereich Informationswissenschaften, https://orcid.org/0000-0002-8217-4025

Zitierfähiger Link (DOI): https://doi.org/10.5282/o-bib/5958

Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 4.0 International.

1 Vgl. Georgetown Law Center on Privacy & Technology: American Dragnet. Data-driven Deportation in the 21st
Century, 10.05.2022, <https://americandragnet.org/>, Stand: 21.07.2023.

2 Vgl. RELX: Annual Report and Financial Statements 2022, S. 7 und 16. Online: <https://www.relx.com/~/media/Files/R/RELX-Group/documents/reports/annual-reports/relx-2022-annual-report.pdf>, Stand: 21.07.2023.

3 Community-Owned Infrastructure, SPARC, o. A. <https://sparcopen.org/our-work/community-owned-infrastructure/>,
Stand 06.07.2023.

4 Siems, Renke: „Überwachen und Strafen“. Tracking und Kontrolle des Forschungszyklus, in: ABI Technik 43 (2), 2023, S. 86–95. Online: <https://doi.org/10.1515/abitech-2023-0016>.

5 Vgl. DFG-Ausschuss für Wissenschaftliche Bibliotheken und Informationssysteme: Datentracking in der Wissenschaft. Aggregation und Verwendung bzw. Verkauf von Nutzungsdaten durch Wissenschaftsverlage. Ein Informationspapier des Ausschusses für Wissenschaftliche Bibliotheken und Informationssysteme der Deutschen Forschungsgemeinschaft. 2021. Online: <https://doi.org/10.5281/zenodo.5900759>.

6 Stop Tracking Science, <https://stoptrackingscience.eu/>, Stand: 06.07.2023.

7 Konrad Förstner hat unter <https://t1p.de/2fjai> ein bearbeitbares Pad mit Links zu verschiedenen Tools zur Verfügung gestellt. Da sich die Landschaft schnell ändert, werden nachstehend exemplarische Beispiele genannt.

8 Blacklight, The Markup, <https://themarkup.org/blacklight>, Stand: 06.07.2023.

9 Überprüfe deine Webseite, Dataskydd.net, <https://webbkoll.dataskydd.net/de>, Stand: 06.07.2023.

10 Webseiten vergleichen mit PrivacyScore, Privacyscore, <https://privacyscore.org/>, Stand: 06.07.2023.

11 Vgl. z. B. für Firefox die Übersicht zu den Extensions unter: Erweiterungen, Firefox, <https://addons.mozilla.org/de/firefox/extensions/>, Stand: 06.07.2023.

12 The World’s most popular network protocol analyzer, Wireshark, <https://www.wireshark.org/>, Stand: 06.07.2023.

13 DFG, Leitlinien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis, <https://wissenschaftliche-integritaet.de/kodex/>, Stand: 06.07.2023.

14 Gemeint ist hier die Podiumsdiskussion „Datentracking – Gefahr für die Freiheit der Wissenschaft?“ am 24.05.2023 anlässlich der 111. BiblioCon in Hannover, <https://dbt2023.abstractserver.com/program/#/details/sessions/120>, Stand: 13.09.2023.

15 Vgl. ZENDAS: Zählpixel der Deutschen Bibliotheksstatistik, <https://www.zendas.de/recht/bewertung/zaehlpixel.html>, Stand: 21.07.2023.

16 Vgl. Bundesvereinigung Deutscher Bibliotheksverbände e.V. 2017: Ethische Grundsätze von Bibliothek & Information Deutschland (BID), <https://media02.culturebase.org/data/docs-bideutschland/Ethische%20Grundsaetze.pdf>, Stand 21.07.2023.

17 Swauger, Shea: The Next Normal. Algorithms Will Take Over College, From Amission to Advising, The Washington Post, 12.11.2021. Online: <https://www.washingtonpost.com/outlook/next-normal-algorithms-college/2021/11/12/366
fe8dc-4264-11ec-a3aa-0255edc02eb7_story.html
>, Stand: 06.07.2023.

18 Vgl. „Datentracking – Gefahr für die Freiheit der Wissenschaft?“. Podiumsdiskussion auf der 111. Bibliocon, 24. Mai 2023, mit Robert Altschaffel, Wolfram Horstmann, Bernhard Mittermaier und Gerhard Spindler, <https://dbt2023.abstractserver.com/program/#/details/sessions/120>, Stand: 13.09.2023. Aufzeichnung der Diskussion im
Streaming verfügbar.

19 Vgl. dazu u. a.: Biddle, Sam: LexisNexis Is Selling Your Personal Data to ICE so It Can Try to Predict Crimes, The Intercept, 20.06.2023, <https://theintercept.com/2023/06/20/lexisnexis-ice-surveillance-license-plates/>, Stand: 06.07.2023.

20 Christl, Wolfie: “This unredacted 214p contract between LexisNexis Risk Solutions and the US migrant persecution agency ICE is quite something, [<https://s3.documentcloud.org/documents/23854204/2021-icfo-34162-1.pdf>] …
it suggests, once again, that LexisNexis aka Elsevier aka RELX Group is a kind of outsourced domestic US intelligence agency.”, Twitter, Tweet von @WolfieChristl am 21.06.2023, Online: <https://twitter.com/WolfieChristl/
status/1671309669111873538
>, Stand: 06.07.2023.