Die Sammeltätigkeit der regionalen FID – antiquiert oder aktuell? Vergnügen oder Verantwortung?

Bericht über die öffentliche Arbeitssitzung der regionalen Fachinformationsdienste einschließlich Jüdische Studien und Romanistik

Zum Ausklang der BiblioCon traf sich das Netzwerk der regionalen Fachinformationsdienste (FID) zu seiner nunmehr fünften öffentlichen Arbeitssitzung, um aus den jeweiligen FID zu berichten und mit der bibliothekarischen Fachcommunity in Austausch zu treten. Organisiert und moderiert wurde die Veranstaltung mit rund 30 Teilnehmenden wie in den Vorjahren von Ilona Riek (FID Benelux) und Ruth Sindt (FID Nordeuropa).1

Ausgehend von den bewusst polarisierend gehaltenen Einstiegsfragen „Antiquiert oder aktuell? Vergnügen oder Verantwortung?“ stand die Sammeltätigkeit der regionalen FID im Fokus der Veranstaltung. Diskutiert wurden Themen wie der Stellenwert der Sammlung, Sammeln im digitalen Zeitalter und die besonderen Aufgaben der regionalen FID auf diesem Gebiet.

Hierzu gab es Kurzberichte und -präsentationen aus folgenden, dem Netzwerk angeschlossenen FID: Afrikastudien (UB Frankfurt am Main), Anglo-American Culture (SUB Göttingen, Bibliothek des John-F.-Kennedy-Instituts für Nordamerikastudien), Asien (Staatsbibliothek zu Berlin), Benelux / Low Countries Studies (ULB Münster); Jüdische Studien (UB Frankfurt am Main), Lateinamerika, Karibik und Latino Studies (Ibero-Amerikanisches Institut), Nahost-, Nordafrika- und Islamstudien (ULB Sachsen-Anhalt), Nordeuropa (UB Kiel), Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa (BSB München), Romanistik (ULB Bonn, SUB Hamburg) und Südasien (UB Heidelberg, CATS Bibliothek). Die Vorträge und Diskussionsbeiträge wurden für den vorliegenden Bericht zu einer Synthese zusammengefasst. Die Folien der Einzelbeiträge mit weiterführenden Links sind über den BIB-OPUS-Volltextserver verfügbar.2

Die genannten Fachinformationsdienste zeichnen sich durch ihre multidisziplinären Zielgruppen in den geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern aus, für die sie umfassende und in ihrer Form einmalige regionenbezogene Spezialsammlungen von internationaler Bedeutung bereitstellen. Je nach Bedarf der Forschung reichen die gesammelten Medien und Materialarten von Büchern und Fachzeitschriften in gedruckter und elektronischer Form über Datenbanken, Zeitungen, Filme, Mikroformen, Comics, Graphic Novels bis hin zu frei im Netz angebotenen Online-Ressourcen – darunter u.a. auch Weblogs, Podcasts, Videos oder Websites. Die Sammlungen werden in der Regel über spezielle Bezugswege und Lieferanten aufgebaut. Hinzu kommen Schenkungen, Nachlässe und ausgedehnte Privatsammlungen. Der Zugriff auf Born-digital-Publikationen, digitale Zweitveröffentlichungen und Forschungsdaten wird über verschiedene fachliche Repositorien abgesichert. Darüber hinaus werden spezialisierte Initiativen wie das Projekt Saving Ukrainian Cultural Heritage Online (SUCHO), das sich unter Mitwirkung des FID Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa dem Erhalt des digitalen ukrainischen Kulturerbes widmet, durch Fachkompetenz und infrastrukturelle Maßnahmen unterstützt.

Herausfordernd und spannend zugleich ist in diesem Kontext die Beschaffung und Erschließung originalsprachlicher Forschungsliteratur aus den betreffenden Regionen. Dabei handelt es sich zumeist um entlegene oder im deutschen Wissenschaftsbetrieb wenig vertretene Sprachen. Allein der FID Nahost hat beispielsweise über 40 Sprachen in seinem Portfolio; insbesondere im Bereich der außereuropäischen FID kommt außerdem eine Vielzahl unterschiedlicher Schriften und Alphabete hinzu. Die Betreuung aller Regional-FID erfordert generell einen hohen Grad an Expertise, weshalb auch die Gewinnung und die längerfristige Bindung von qualifiziertem Fachpersonal wichtige Bausteine der FID-Arbeit sind.

Vor allem die außereuropäischen regionalen Buchmärkte sind oft volatil, die Nachweissituation ist häufig problematisch, der Anteil an grauer Literatur sowie Literatur aus Klein- und Kleinstverlagen hoch und die Beschaffungswege dementsprechend schwierig. Letztere sind zum Teil nur über Erwerbungsreisen zu realisieren und dabei vielfach abhängig vom den jeweils geltenden politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in den Zielregionen. Falls Grenzen, wie etwa anlässlich der Corona-Pandemie, geschlossen werden oder vor Ort kriegerische Auseinandersetzungen stattfinden, gerät auch die Literaturversorgung ins Stocken. Wenn Literatur verfügbar ist, empfiehlt es sich, diese möglichst umgehend zu erwerben, da eine Just-in-Time-Beschaffung im Allgemeinen nicht garantiert werden kann.

Vor dem Hintergrund der komplexen Beschaffungssituation orientiert sich die Literaturerwerbung in den meisten regionalen Fachinformationsdiensten nicht nur am aktuellen, sondern sehr bewusst auch am prospektiven Bedarf der Wissenschaft. Eine Ausnahme bildet in diesem Zusammenhang der FID Lateinamerika, Karibik und Latino Studies, der neben themen- und länderspezifischen Datenbanken ausschließlich Medien für einzelne Forschungsprojekte erwirbt, die den jeweiligen Forschenden dann während der Laufzeit der Projekte zur Verfügung stehen.

Die dem Netzwerk der regionalen FID angeschlossenen Fachinformationsdienste erwerben außer überregional verfügbaren Lizenzen für elektronische Ressourcen weiterhin in größerem Umfang analoge Medien. Dies zum einem, weil das Lizenzangebot in den jeweiligen Spezialsegmenten oft eingeschränkt ist oder Lizenzen nicht zu den erforderlichen Konditionen erhältlich sind und zum anderen, weil es angesichts der zumeist immens hohen Lizenzkosten für FID- oder Nationallizenzen gerade bei Literatur des Spezialbedarfs in vielen Fällen sinnvoller ist, statt einiger weniger teurer E-Books oder E-Journals, die nur von einzelnen Forschenden benötigt werden, ein umfangreiches Angebot an ungleich viel günstigeren Printtiteln bereitzustellen. „Vielfalt schlägt Online-Zugang“, so pointierte der FID Anglo-American Culture diese Herangehensweise, die gleichzeitig auch die Bibliodiversität befördert.

Viele der beteiligten Fachinformationsdienste haben bereits große Teile ihrer urheberrechtsfreien Bestände retrodigitalisiert – beim FID Ost-, Ostmittel-, Südosteuropa handelt es sich um 80.000 Bücher, beim FID Jüdische Studien um 50.000 Objekte mit insgesamt ca. 3,5 Millionen Seiten, um nur zwei Beispiele zu nennen. Hier ebnet das Vorhandensein einer extensiven, gut erschlossenen forschungsnahen Spezialsammlung den Weg von analogen in digitale Forschungsumgebungen.

Große Einigkeit bestand bei den Vortragenden darin, dass die jeweiligen Sammlungen − seien sie analogen, seien sie digitalen Ursprungs − eine unabdingbare Basis für alle weiteren FID-Services darstellen und erhebliche Mehrwerte kreieren. So bilden sie nicht nur die Grundlage für zahlreiche, die Nachweissituation optimierende bibliografische Dienste, sondern ermöglichen aufgrund der aggregierten Meta- und Volltextdaten und der intensiven Normdatenarbeit der einzelnen Fachinformationsdienste vielfältige datengetriebene Forschungsprojekte im Umfeld der Digital Humanities sowie den Aufbau von Werkzeugen für die digitale Wissenschaft.

In Zeiten, in denen große Aggregatordatenbanken das Erwerbungsgeschehen in vielen wissenschaftlichen Bibliotheken dominieren, mag eine Diskussion über den Aufbau von Spezialsammlungen auf den ersten Blick etwas anachronistisch anmuten. Unabhängig von den durchaus kontrovers diskutierten Rahmenbedingungen der Sammlungstätigkeit herrschte am Ende der lebendigen Diskussion jedoch folgender Konsens: Das Sammeln, Nachweisen und Zugänglichmachen von Spezialliteratur stellt, allen Aufwänden und Mühen zum Trotz, gerade unter den aktuellen Umständen eine unverzichtbare infrastrukturelle Dienstleistung für die Wissenschaft dar.

Ilona Riek, Universitäts- und Landesbibliothek Münster, https://orcid.org/0000-0002-8120-4333

Ruth Sindt, Universitätsbibliothek Kiel, https://orcid.org/0000-0003-4330-1199

Zitierfähiger Link (DOI): https://doi.org/10.5282/o-bib/5957

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1 Dieser Beitrag berichtet über die öffentliche Arbeitssitzung der regionalen Fachinformationsdienste einschließlich Jüdische Studien und Romanistik am Freitag, 26. Mai 2023, anlässlich der 111. BiblioCon in Hannover.