Martin Willibald Schrettinger (1772–1851) : vom eigen­willigen Mönch zum leidenschaftlichen Bibliothekar : Festschrift zum 250. Geburtstag / herausgegeben von Manfred Knedlik unter Mitarbeit von Annemarie Kaindl. – Neumarkt i.d.OPf.: Historischer Verein für Neumarkt i.d.OPf. und Umgebung e.V., 2022. – 273 Seiten : lllustra­tionen. – (Neumarkter historische Beiträge ; Band 17). – ISBN 978-3-9811330-9-7 : EUR 15.00

Vor 250 Jahren erblickte ein wissenschaftlicher Bibliothekar das Licht der Welt, der heute zu den vielen Vergessenen gehört (außer bei Bibliothekshistoriker*innen), obwohl ihm wichtige Grundlagen der Bibliotheksarbeit, vor allem in Bayern, zu verdanken sind. An diesen Martin Schrettinger (1772–1851) erinnert jetzt ein Sammelband mit 12 Beiträgen von 13 Autor*innen.1 Er bringt 12 Aufsätze, die von vier Bibliothekar*innen, drei Historikern, drei Germanist*innen und einem Kunsthistoriker verfasst sind. Der historische Verein in Schrettingers Geburtsstadt Neumarkt in der Oberpfalz gab die „Festschrift“, die eher eine Art Gedenkbuch ist, zum Jubiläum heraus.2 Uns interessieren vor allem die Aufsätze über seine Bibliothekstätigkeit.

Im ersten Beitrag Martin Willibald Schrettinger – eine biographische Zeitleiste (S. 11–25) stellen Annemarie Kaindl (Bayerische Staatsbibliothek, im Folgenden BSB) und der Hauptherausgeber die biografischen Daten dieses Lebenslaufs aus zahlreichen Quellen zusammen. Wichtige Stationen liste ich kurz auf.

Der Junge besuchte die Deutsche Schule (Grundschule) und die Lateinschule am Heimatort, wechselte dann zum Gymnasium nach Burghausen und zwei Jahre später an das Gymnasium und Lyzeum in Amberg. Mit 18 Jahren trat er 1790 in das Benediktinerkloster im oberfränkischen Weißenohe ein. 1793 legte Schrettinger das ‚ewige‘ Klostergelübde ab, 1795 folgte die Priesterweihe und 1799 wurde ihm die Klosterstelle auf Lebenszeit zugesagt. In diesen Jahren erschienen auch erste Publikationen zu Themen der Volksbildung. Der Abt machte Pater Willibald – das war sein Ordensname – 1800 zum Klosterbibliothekar. Schon 1802 verließ Willibald sein Kloster und nahm eine unentgeltliche Mitarbeit an der Kurfürstlichen Hof- und Centralbibliothek (heute BSB) in München auf.

Mehr als vier Jahrzehnte war Schrettinger hier tätig. Seine erste Aufgabe war die Erschließung der Privatbibliothek des Freiherrn Joseph Maria von Weichs (1756–1819) in den Jahren 1802 bis 1804. Bei der Erhebung Bayerns zum Königreich wurde die Hofbibliothek 1806 zur Königlichen Hofbibliothek und Schrettinger erhielt eine bezahlte Kustodenstelle. 1808 erschien in München das erste seiner vier Hefte mit dem Titel Versuch eines vollständigen Lehrbuchs der Bibliothek-Wissenschaft, 1810 erschien sein systematischer Katalog der Bibeldrucke in fünf Bänden und 1811/1812 sein systematischer Katalog der „philosophischer Drucke“ in zwei Bänden. Von 1812 bis 1814 beteiligte er sich an der schon früher begonnenen Erschließung der Privatbibliothek des Grafen und Ministers Maximilian von Montgelas (1759–1838).

1813 wurde Schrettingers Plan zur Reorganisation der Hofbibliothek gebilligt; man stellte daraufhin sämtliche Druckwerke nach einem von ihm entwickelten System neu auf. In den Folgejahren erschloss er von 1818 bis 1821 die Privatbibliothek des Freiherrn Anton von Cetto (1756–1846) und erstellte ab 1819 den Schlagwortkatalog der Bibliothek. 1820 freute er sich über die Beförderung zum ersten Kustos. Von 1823 bis 1826 war er Unterbibliothekar (zweithöchster Rang im Haus) und Stellvertreter des Direktors Joseph Scherer. Nach dessen Ausscheiden leitete er die Hofbibliothek kommissarisch. 1828 bis 1830 war die Erschließung der Privatbibliothek des Grafen Aloys von Rechberg (1766–1849) seine dienstliche Aufgabe. Der Name der heutigen BSB wurde 1829 abgeändert in „Königliche Hof- und Staatsbibliothek“ (so bis 1918). Schrettinger publizierte 1834 in Wien ein Handbuch der Bibliothek-Wissenschaft. Erst 10 Jahre später trat er in den Ruhestand; zum Nachfolger wurde der bekannte Bibliothekar und Sprachforscher Johann Andreas Schmeller (1785–1852) ernannt. Martin Schrettinger, nebenher über lange Jahre auch als Kaplan, seit 1828 als Hofkaplan aktiv, verstarb 1851 im Alter von 78 Jahren.

Der Historiker Alois Schmid überschreibt seinen Aufsatz über die Jahre im Kloster mit P. Willibald Schrettinger, „der Judas“ im Benediktinerkloster Weißenohe (S. 55–90). Denn dieser Pater war einer der wenigen Mönche, welche die Säkularisation (Verstaatlichung) der Klöster „nicht nur hinnahmen, sondern ausdrücklich begrüßten, vereinzelt sogar wirkungsvoll unterstützten“ (S. 55). Seine Klosterjahre hätten, so Schmid, auch seine späteren Ansichten geprägt. Die Benediktinerabtei in Weißenohe lag rund 50 Kilometer von Nürnberg entfernt und war das traditionsreichste Kloster in der Region mit einer überregionalen Ausstrahlung. Pater Willibald war übrigens kein ängstlicher oder ausschließlich im Stillen wirkender Mönch, nein, er pflegte viele Kontakte nach außen, war offen für Reformen im Gefolge der Aufklärung und entwickelte sich zu einem Literaturkenner, was ihm als Klosterbibliothekar zugutekam. Die Bibliothek in Weißenohe hatte eine mittlere Größe und war zuvor nicht planvoll aufgebaut worden. Schrettinger ordnete alle Bücher, erarbeitete einen Katalog und war nebenher als Publizist tätig. Unter den Mönchen in Weißenohe bildete sich – auch durch die Lektüre aufklärerischer Werke, die Schrettinger erworben hatte – eine starke Gruppe von Erneuerern. 1802 machte die von ihm angeführte Hälfte der Mönche eine Eingabe an den Orden, in der sie die Auflösung des Klosters begrüßte, da sowieso mit dem Ende der alten Klosterwelt zu rechnen sei. Kurz danach verließ Pater Willibald seinen Konvent, um sich eine weltliche Anstellung zu suchen. Er wurde wieder zu Martin Schrettinger, sein Kloster Weißenohe wurde 1803 aufgelöst. Klerikale Kritiker beschimpften ihn als verräterischen „Judas“ (Alfons Schleglmann); noch im 20. Jahrhundert hat man Schrettinger einen Intriganten und Opportunisten genannt. Er zählt zu jener Gruppe ehemaliger Mönche, die nach der Säkularisation in Bayern Entscheidendes für die Bewältigung der Büchermengen, die jetzt dem Staat gehörten, geleistet haben. Zwei andere Bibliothekare aus dieser Gruppe sind der ehemalige Augustinermönch Georg Hupfauer (1747–1808), Direktor der UB Ingolstadt bzw. Landshut (heute UB der LMU München), und der ehemalige Zisterziensermönch Heinrich Joachim Jaeck (1777–1847). Er baute die Kurfürstliche bzw. Königliche Bibliothek Bamberg (heute Staatsbibliothek Bamberg) auf.

Die Bücherfluten, die im frühen 19. Jahrhundert über die Münchener Hofbibliothek hereinbrachen, kennzeichnen die Ausgangslage für den Beitrag von Ingrid Rückert (früher BSB) „Bücher, Bücher, wohin nur all die Bücher?“ Martin Schrettinger und der „Alphabetische Realkatalog“ im Katalogsystem der Bayerischen Staatsbibliothek (S. 120–161). Im Jahr 1800 besaß die Hofbibliothek in München rund 100.000 Drucke und Handschriften. Sie war im Wilhelminum, dem früheren Jesuitenkolleg in der Münchener Innenstadt, untergebracht. Als dann Kurfürst Karl Theodor in den Jahren 1803/1804 mit dem gesamten Hof von Mannheim nach München übersiedelte, wurde auch die kurpfälzische Hofbibliothek mit rund 100.000 Bänden dorthin umgesiedelt. Zudem standen schon rund 25.000 Bände aus dem früheren Jesuitenkolleg vor Ort. Noch größer war aber der Zuwachs durch die Säkularisation aller ca. 150 Klöster und Stifte in Oberbayern und im bayerischen Schwaben. Alles in allem kamen von 1803 bis 1815 rund 400.000 Bücher, 18.600 Handschriften und 24.000 Inkunabeln zusätzlich in die Hofbibliothek, also ein Bestandszuwachs von 400 %. Auf einen Schlag war die Münchner Hofbibliothek dadurch zur größten Bibliothek in Deutschland und – nach Paris – zur zweitgrößten in Europa aufgestiegen. Allein die Säkularisationsbücher aus den Klöstern „füllten bis 1812 dort 54 Räume vom Keller bis zum Dach, außerdem Speicherräume in den Nachbargebäuden; ein Drittel war in der benachbarten Michaelskirche eingelagert“ (S. 123). Für 10 bis 15 Jahre wurden außerdem zusätzlich rund 200.000 Doppelstücke untergebracht, die das Haus dann wieder verließen.3 Trotz der Überfüllung ließ sich der Standort der Hofbibliothek auch nicht verlegen. Der dringend notwendige Neubau in der Maxvorstadt (Ludwigstraße) war noch in weiter Ferne; die Bauarbeiten starteten hier 1832.

In dieser Lage versuchte zunächst der Bibliotheksdirektor Johann Christoph Freiherr von Aretin (1772–1824) die Erschließungsarbeiten in der Bibliothek neu zu organisieren. Er stellte ungelernte Hilfskräfte an, um all die Bücher auszupacken und Titelaufnahmen für sie auf großen Blättern („Quartblätter“) zu notieren. Das Ergebnis dieser Arbeiten waren ein erster alphabetischer Katalog in 65 Foliobänden, ein weiterer in 33 und ein dritter in 21 Bänden sowie noch fünf weitere alphabetische Kataloge über Werke, die die Hofbibliothek gar nicht im Bestand hatte. Der vorhandene Bestand der BSB, die Mannheimer Bibliothek, die Säkularisationsbücher: Nachweise über diese Provenienzen wurden planlos miteinander vermischt. Noch Jahre später schimpfte Schrettinger in seinen Aufzeichnungen darüber, dass alles „durch eben jene Diurnisten mit ihrem künstlichen Chaos amalgamiret wurd[e], sodaß es ein glüklicher Zufall war, wenn man nach tagelangem Suchen ein verlangtes Buch finden konnte“ (Zitat auf S. 128).

Den nächsten Versuch der Neukatalogisierung unternahm Julius Wilhelm Hamberger (1754–1813), ein vertrauenswürdiger Bibliothekar mit langer Berufserfahrung. Er war übermotiviert, es besser zu machen als die Vorgänger und schuftete „in den hellen Sommermonaten von vier Uhr morgens fast rund um die Uhr“ (S. 129). Allerdings brach er nach knapp vier Jahren vor Erschöpfung zusammen. Hamberger musste aus dem Dienst ausscheiden und anschließend in einer Heilanstalt leben. In einer gewaltigen Leistung hatte er 47 Bände (22.770 Seiten) für den systematischen Katalog erstellt, die sich auf 113.000 Drucke nach 1500 bezogen. Seine Kollegen in der BSB berechneten dann den Aufwand für die Fortsetzung der Arbeiten und errechneten dafür 20 Mannjahre; am Ende hätte der Katalog 180 Bände umfasst. Daher verzichtete man auf dessen Fortsetzung.

Nach den zwei Fehlschlägen konnte Martin Schrettinger die von ihm entwickelten Pläne durchsetzen. Sein revolutionärer Ansatz bestand vor allem darin, dass er die zu dieser Zeit vorherrschende feinsystematische Aufstellung aller Bücher aufgab. Er bezeichnete es als „Vorurtheil, daß eine Bibliothek am zweckmäßigsten sey, wenn die sämmtlichen Bücher bis in die feinsten Unterschiede rein systematisch aufgestellt wären“ (Zitat auf S. 130 f.). Daher wurde die Systematik, bis dahin das wichtigste Erschließungsinstrument einer wissenschaftlichen Bibliothek, aufgegeben. Das im Bibliothekswesen geltende Dogma, Benutzende müssten die Werke einer wissenschaftlichen Bibliothek auch ohne Katalog auffinden können, büßte nun seine Geltung ein.

Schrettinger setzte sich für einen einfach zu handhabenden Katalog ein, der zu den Büchern führen sollte. Für ihn hatte – und das war neu – die Arbeit an einem einheitlichen alphabetischen Katalog („Nominalkatalog“) der Druckschriften Vorrang. Bei der Buchaufstellung ersetzte er die zuvor äußerst differenzierte Wissenschaftssystematik der Münchener Hofbibliothek durch eine Klassifikation mit 12 Hauptklassen und insgesamt nur 200, später nur 188 Sachstellen. Sämtliche Bände wurden nach seinem System neu aufgestellt. Ingrid Rückert resümiert: „Die damit verbundene Aufwertung der Kataloge als Suchinstrument für große Büchermengen war wegweisend für die Zukunft“ (S. 134). Denn spätestens mit der gewaltigen Zunahme der Buchproduktion nach 1850 standen dann alle großen Bibliotheken vor der Aufgabe, ihre Bestände unabhängig von der Aufstellung zu verwalten. Der neue alphabetische Hauptkatalog unter Schrettingers Regie entstand zunächst als Bandkatalog; ab 1840 wurde er auf lose Blätter im Quartformat umgestellt. Diesen „Quartkatalog“ führte die BSB bis zum Erscheinungsjahr 1952. Mit der Konvertierung des BSB-Altbestands wird er seit 2005 als Imagekatalog im Internet angeboten. Auch eine Buchaufstellung nach Numerus currens im Magazin schwebte Schrettinger bereits vor, doch seine Vorgesetzten lehnten sie ab. Um die Signaturvergabe und die Revisionsarbeiten zu erleichtern, führte Schrettinger ab 1818 noch einmal ein Instrument ein, das in Deutschland neu war: den Standortkatalog, der nach Buchsignaturen geordnet war und Kurzkatalogisate enthielt.

Doch Martin Schrettingers bekannteste Leistung im Bibliothekswesen Deutschlands wurde sein dritter Katalog, der „Alphabetische Realkatalog“; er heißt in der BSB bis heute „Schrettinger-Katalog“. Es handelt sich um einen unbegrenzt ausbaufähigen Sachkatalog, in seinen Worten „ein alphabetisches Sachen-Register über die ganze Literatur“ (Zitat auf S. 138). Die Theorie und die Praxisregeln hierzu sind in seinem Handbuch (s.u.) nachzulesen. Zwei Jahre musste Schrettinger im Haus um den Auftrag für diesen Katalog kämpfen; 1819 begannen dann die Arbeiten, die er bis zur Pensionierung 1844 fortführte – und anschließend noch freiwillig bis an sein Lebensende. Er ging die Sacherschließung bewusst alleine an, um eine einheitliche Vergabe der Schlagwörter zu garantieren. Rund 84.000 Drucke nach 1500, ein Viertel des damaligen Bestands, konnte er in diesem Realkatalog sachlich erschließen. Das Ergebnis ist weit über die BSB hinaus bedeutsam. „Nach heutigem Verständnis ist der Schrettinger-Katalog der Urtyp aller Schlagwortkataloge“ (S. 138) und darf daher als ältester Schlagwortkatalog der Welt gelten. Auch er ist heute digitalisiert, und die BSB bietet ihn als Instrument zur Recherche im Altbestand und in den digitalen Sammlungen an.4

Martin Schrettinger war kein Theoretiker, sondern ein praktisch denkender Bibliothekar. Wenn seine beiden Bücher das Wort „Bibliothek-Wissenschaft“ im Titel tragen, so meint er damit nicht eine neue Wissenschaftsrichtung, sondern die aus der Erfahrung entwickelte Darstellung jener Tätigkeiten, durch die man aus einer großen Büchersammlung eine gute Bibliothek machen kann. Die Weitergabe seiner Erfahrungen spielt im Beitrag von Bernhard Lübbers (Staatliche Bibliothek Regensburg) Martin Schrettinger und die Erfindung der Bibliothekswissenschaft. Wie ein Oberpfälzer die Münchener Hofbibliothek in eine Suchmaschine verwandelte (S. 91–119) eine wichtige Rolle. Die Informationen zu Beginn über die Klosterjahre überschneiden sich mit Alois Schmid, doch dann geht Lübbers auf Schrettingers Bücher ein, vor allem auf das zweite mit dem merkwürdigen Titel Handbuch der Bibliothek-Wissenschaft, besonders zum Gebrauche der Nicht-Bibliothekare, welche ihre Privat-Büchersammlungen selbst einrichten wollen (Wien 1834).5 Die darin publizierten Katalogregeln „sollten auf Jahrzehnte Standard im deutschsprachigen Raum werden“ (S. 103). Das Hauptverdienst des Autors sei aber in der Beseitigung der systematischen Buchaufstellung zu sehen (S. 106). Mit diesem Schritt vollzog sich der Abschied von der zuvor entscheidenden Repräsentation des Wissens, dessen Abbild der Katalog war, hin zu einer stärker funktionalen Bestimmung der Bibliotheksaufgaben. Die Erstanwender von Schrettingers Lehren außerhalb der BSB wurden die Königliche Kreisbibliothek Regensburg (heute Staatliche Bibliothek Regensburg) und die wissenschaftlichen Bibliotheken in Griechenland. Denn dem griechischen König Otto I., der ein Wittelsbacher war, hatte Schrettinger das Handbuch übersandt.

Radikal neu war sein „Ansatz, die Schnelligkeit der Anfrage eines Bibliotheksbenutzers in den Mittelpunkt zu stellen“ (S. 108). Damit wurde er zum Wegbereiter für ein modernes Bibliotheksmanagement. Lübbers zitiert mit Robin Schrade einen Autor, der ihn sogar als Vordenker der Entwicklung der Suchmaschine bezeichnet. Zu Lebzeiten erregten Schrettingers Ideen bei einigen Zeitgenossen allerdings heftigen Widerspruch. Lübbers demonstriert das an der Kontroverse mit Friedrich Arnold Ebert (1791–1834), dem bekannten Bibliothekar in Leipzig und Dresden. Ebert hatte die Ideen zur Aufstellung und Erschließung als ein allzu mechanisches Vorgehen kritisiert. Er hielt an der traditionellen Auffassung fest und forderte, Bibliothekare müssten alle verlangten Bücher auch ohne Katalog auffinden können; hierfür sollten sie halt das Gedächtnis laufend trainieren. Ebert forderte von Bibliothekaren also ein gewisses Maß an Universalgelehrsamkeit in den Wissenschaftsfächern, Schrettinger tat das nicht. Trotz dieser Streitigkeit teilten sie aber durchaus gemeinsame Überzeugungen. Lübbers informiert darüber, dass beide die Bibliotheken bereits als Allgemeingüter zum Nutzen aller Bürger*innen betrachteten, und er berichtet über ihr Engagement für eine professionelle Ausbildung wissenschaftlicher Bibliothekare. In diesen Punkten waren beide der Zeit voraus.

Schrettinger schreibt in seinem Handbuch nicht nur über Gebrauchsdrucke, sondern auch über seltene und wertvolle Bibliotheksmaterialien. Mit diesem Thema beschäftigt sich Christine Sauer (Stadtbibliothek im Bildungscampus Nürnberg) in dem Beitrag Bibliotheksschätze. Martin Schrettinger über Auf- und Ausstellung von schriftlichem Bibliotheksgut (S. 152–178) näher. Unter „Bibliotheksschätzen“ verstand er Werke, die nur selten und nur unter Aufsicht zu benutzen sind, etwa Handschriften, Drucke mit handschriftlichen Einträgen, Inkunabeln, Blockbücher, Ausgaben auf speziellen Materialien (wie Pergament, Papyrus, Palmblätter), wertvolle illustrierte Bücher und solche mit besonderen Einbänden. Sie müssten nach eigenen Regeln erschlossen und jeweils gesondert aufbewahrt werden. Schrettingers Zusammenstellung der jeweiligen Besonderheiten „mutet ausgesprochen modern an“ (S. 157). Hier finden sich viele Kriterien, anhand derer auch heute historische Sammlungen aufgebaut werden. Zudem erläutert Schrettinger auch bereits die Notwendigkeit einer separaten Aufstellung in gesicherten Räumen.

Als Zugangsmöglichkeit zu solchen „Bibliotheksschätzen“ mussten die Bibliotheksmitarbeiter der BSB seinerzeit an zwei Tagen pro Woche Führungen für Einheimische und Gäste anbieten. Für ihre Präsentationen diente ein Raum, den man als „Schatzkammer“ und „Cimelien-Corridor“ bezeichnete. Hier standen verschließbare Schränke und Schubladen, aus denen die Werke zur Präsentation immer neu herausgeholt wurden. Weil die Prachteinbände großer Folianten, aber auch kleinere Codices durch das ständige Herausnehmen und Wieder-Einstellen bzw. das Zurücklegen bereits stärker beschädigt waren, war es Schrettinger ein Anliegen, sie besser zu schützen. Er ließ die Bände auf Pulte mit einem unterlegten Wolltuch ablegen und unter Glasscheiben präsentieren; später ließ er die wertvollen Stücke sogar aufgeschlagen präsentieren. Für den geplanten Neubau seiner Bibliothek konzipierte er für diese Schätze große Raumeinheiten und schwärmte von „dem herrlichen Einblicke, womit sie den Eintretenden überraschen“ (Zitat auf S. 169; ein Grundriss von ihm auf S. 170). Letztlich ging es ihm laut Christine Sauer dabei um eine deutliche Aufwertung der Bestandspräsentation, die er sich ähnlich wie im Museum vorstellte. Dabei schwebten ihm große Raumfluchten mit langen Buchregalen vor, eine Art großzügige Freihandaufstellung für wertvolle und „curiöse“ Stücke. Diese „Magazine der Geisteskultur“ (Schrettinger) sollten öffentlich zugänglich sein und „sowohl die mit den Büchern arbeitenden Wissenschaftler als auch die nach Sensationen suchenden Besucher sollten sich ohne Führer durch die Räume bewegen können“ (S. 173). Im späteren Neubau der Hofbibliothek von Friedrich Thiersch in der Ludwigstraße kam ein Teil dieser Ideen zur Ausführung, als man für die wertvollen Stück eine Dauerausstellung mit Glasvitrinen einrichtete. Dadurch konnte die Hofbibliothek ihre Mitarbeitenden von zeitraubenden Führungen entlasten. Außerdem erschien ein gedruckter Bibliotheksführer, der es den auswärtigen Besuchern erlaubte, die Bibliotheksreise vorzubereiten und Vitrinen mit für sie interessanten Zimelien vorab auszuwählen.

Der gelungene und perspektivenreiche Sammelband über den Bibliothekspionier Martin Schrettinger enthält noch eine Reihe weiterer Beiträge, die über den Bibliotheksbezug hinausgehen. Sie beschäftigen sich mit seinem familiären Netzwerk, mit seinen Versuchen als Dichter und Zeichner, mit den vielfältigen Lektüreerfahrungen und mit seinem Aufsatz über unterschiedliche Dialekte. Die 35 Abbildungen in dem Band zeigen u.a. Werke, die Schrettinger verfasste, und einige seiner Zeichnungen. Am Ende des lesenswerten Buches folgen noch eine Bibliografie der Schriften und der Literatur über Schrettinger sowie dankenswerterweise ein Personenregister.

Die BSB bietet über ihren Jubilar Martin Schrettinger seit 2022 eine virtuelle Ausstellung an. Vier junge Bibliothekskollegen haben sie im Rahmen ihrer Ausbildung an der Hochschule für den öffentlichen Dienst in München erarbeitet;6 sie wurden dafür inzwischen mit dem TIP AWARD 2022 ausgezeichnet.

Ulrich Hohoff, Universitätsbibliothek Augsburg (i.R.)

Zitierfähiger Link (DOI): https://doi.org/10.5282/o-bib/5933

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1 Inhaltsverzeichnis unter <https://d-nb.info/1268651427/04>, Stand: 08.04.2023.

2 Vgl. auch das aktuelle Porträt durch Manfred Knedlik: Wegbereiter eines modernen Bibliotheksmanagements. Martin Schrettinger (1772–1851) …, in: Bibliotheksforum Bayern 17 (2), 2022, S. 9–13. Online: <https://www.bsb-muenchen.de/fileadmin/pdf/publikationen/bibliotheksmagazin/bm_2022_2.pdf>, Stand: 08.04.2023.

3 „Die zusätzlichen rund 200.000 Dubletten … wurden aussortiert und seit den 1820er Jahren nach und nach durch Verkauf und Tausch ausgeschieden.“ (S. 121).

4 Vgl. Ältester Schlagwortkatalog der Welt online, in: Bibliotheksdienst 50 (3–4), 2016, S. 414–415.

5 Ein Nachdruck, herausgegeben von Holger Nitzschner, Stefan Seeger und Sandro Uhlmann, erschien in Hildesheim 2003. Inhaltsverzeichnis unter <https://d-nb.info/96651940x/04>, Stand: 08.04.2023.

6 Virtuelle Ausstellung unter <https://www.bsb-muenchen.de/va/ausstellungen/moench-rebell-bibliothekar/>, Stand: 08.04.2023. Vgl. auch Becht, Michael; Becker, Chris; Grassl, Andreas; Hartel, Kay: Mönch, Rebell, Bibliothekar. Martin Schrettinger erwacht zu neuem Leben, in: Bibliotheksforum Bayern, 16 (2), 2022, S. 18–22. Online: <https://www.bibliotheksforum-bayern.de/fileadmin/archiv/2022-3/Bibliotheksforum_Bayern_3_22_WEB_Metadaten.pdf>, Stand: 08.04.2023.