Die forschungsnahe Bibliothek

Bericht über einen Workshop der Kommissionen und des Vorstands des VDB

Forschungsdatenmanagement, Open Access, integrierte Forschungssoftware oder Bibliometrie: Forschungsnahe Dienste sind in wissenschaftlichen Bibliotheken mittlerweile breit etabliert. Ihre Konzeption, Einführung, organisatorische Einbindung und Evaluierung ist einer der Treiber der gegenwärtigen Bibliotheksentwicklung.

Aber steckt hinter dem Konzept der forschungsnahen Bibliothek nicht mehr als eine Anzahl einzelner Services? Geht es dabei nicht auch um eine grundlegende Neuorientierung, die das Serviceangebot von wissenschaftlichen Bibliotheken ebenso betrifft wie ihr Selbstverständnis – ja eventuell auch ihre Bauten, ihre Managementstrukturen, ihre Öffentlichkeitsarbeit oder ihre Kooperationspartner und Netzwerke?

Das Momentum, das in den letzten Jahren die Entwicklung forschungsnaher Services vorangetrieben hat, betrifft nicht nur einzelne Arbeitsbereiche oder Teams, sondern wissenschaftliche Bibliotheken in ihrer Gänze. Wie sehen diese Auswirkungen aus? Was sind die Merkmale einer forschungsnahen Bibliothek, wenn sie aus verschiedenen Perspektiven betrachtet wird?

Ausgehend von einer Initiative der Kommission für forschungsnahe Dienste fand am 22./23. November 2022 ein Workshop am Ibero-Amerikanischen Institut Preußischer Kulturbesitz zu Berlin statt, in dem diese Fragen im Zentrum standen. Eingeladen waren Vertreterinnen und Vertreter aller VDB-Kommissionen sowie der VDB-Vorstand. Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer hatten sich bereit erklärt, aus ihrer jeweiligen Sicht zu beschreiben, welche Auswirkungen das Konzept einer forschungsnahen Bibliothek hat oder haben könnte.

Ausgangspunkt der Veranstaltung war die Annahme, dass ein so grundlegender Umorientierungsprozess, wie er – angestoßen durch die digitale Transformation – gegenwärtig in den wissenschaftlichen Bibliotheken zu beobachten ist, direkt oder mittelbar alle Bereiche der Bibliothek betrifft. Der Workshop sollte einen Rahmen schaffen, um forschungsnahe Dienste als ein grundlegendes, ressortübergreifendes Thema von verschiedenen Seiten zu beleuchten, Schnittstellen zu identifizieren, einen Austausch über Erfahrungen im Transformationsprozess zu ermöglichen und entsprechende Veranstaltungen, Fortbildungen oder Workshops zu planen.

Alle Kommissionen waren gebeten worden, in einem kurzen Impulsvortrag ihre Sicht auf das Thema „Die forschungsnahe Bibliothek“ darzustellen und jeweils nachfolgend im Gespräch mit allen Beteiligten einzelne Punkte zu vertiefen und Schnittstellen zwischen den Kommissions-Sichten zu diskutieren.

Den Auftakt machte die Kommission für forschungsnahe Dienste mit einer kurzen Einführung in das Thema. Vorbereitend hatten die Kommissionsmitglieder mehrere Bibliotheksleitungen über ihre Sicht auf das Thema forschungsnahe Dienste interviewt und damit einen Blick in die Praxis geworfen, der die Dynamik des gerade stattfindenden Transformationsprozesses deutlich machte. Während es einen breiten Konsens über die Bedeutung forschungsnaher Dienste gab, unterschieden sich die Sichten der einzelnen Bibliotheksleitungen dann doch sehr: Manche betrachteten die forschungsnahen Dienste als Garanten einer Stärkung und Unverzichtbarkeit von Bibliotheken, andere sahen den Markenkern von Bibliothek zwischen kommerziellen Playern und einer fehlenden Agilität von Bibliotheken in Gefahr. Zahlreiche dringliche Aktionsfelder wurden identifiziert und betrafen Verfahren der Personalgewinnung und Managementmodelle bis hin zu einer grundsätzlichen Infragestellung traditioneller Bibliotheksservices.

Die Kommission für Fachreferatsarbeit stellte in ihrem Beitrag heraus, dass die Fachreferent*innen per se wissenschaftsnah arbeiteten und eine zentrale Rolle als Schnittstelle zwischen Bibliothek und Forschung einnähmen. Sie trügen einen Großteil der forschungsnahen Dienste, entweder als Mitarbeiter*innen mit einem entsprechend ausgewiesenen eigenen Arbeitsbereich oder weil sie die forschungsnahen Services als Add-on zum Fachreferat bewältigten. Die Überlastungsgefahr sei gerade für diesen Personenkreis erheblich. Im Kontext der forschungsnahen Bibliothek werde nochmals wichtiger, dass Fachreferent*innen optimal in alle Richtungen vernetzt seien und ihre Wissenschaftsnähe durch kontinuierliche, auch fachliche Fortbildungen langfristig aufrechterhielten. Als ein wesentliches Desiderat wurde die Entlastung von Personen mit wissenschaftlicher Expertise von Leitungs- und Routineaufgaben genannt, um Spielraum für Mitarbeit bei Projekten und individuelle Beratung und Begleitung von Forschenden zu ermöglichen. Ein permanenter Fortbildungsbedarf wurde ebenfalls konstatiert.

Die Gemeinsame Managementkommission von VDB und dbv stellte die Frage, welche Rolle forschungsnahe Dienstleistungen in der strategischen Entwicklung von Bibliotheken spielten, und ging dann auf die großen, zentralen Herausforderungen eines solchen Strategiewandels ein: Wie werden die Schnittstellen zwischen Bibliothek und Wissenschaft gestaltet, was bedeuten die Transformationsprozesse für das Selbstverständnis von Fachreferent*innen bzw. Liaison Librarians? Was bleibt jenseits der forschungsnahen Dienste von der Bibliothek – welche Services, welche Räume? Welches Geschäftsmodell liegt der neuen Bibliothek zugrunde, was „verkaufen“ wir? Wie werden forschungsnahe Dienste organisatorisch eingebunden? Brauchen wir eher mehr Menschen oder mehr Rechenkapazität? Und last but noch least: Was muss wegfallen, wenn Neues kommt?

Die Kommission für Rechtsfragen berichtete in ihrem Auftakt davon, dass sie bei nahezu allen forschungsnahen Diensten beteiligt sei: Kaum einer der neuen Services habe nicht an irgendeiner Stelle mit Themen wie Urheberrecht, Datenschutz oder arbeits- und dienstrechtlichen Fragestellungen zu tun. Forschungsdatenmanagement, Publikationsdienstleistungen, Text- und Datamining oder der Aufbau von Forschungsinfrastrukturen seien ohne juristische Beratung kaum denkbar. Wer nicht auf juristische Expertise im eigenen Haus zurückgreifen könne, brauche externe Hilfe zum Beispiel durch die bibliothekarischen Verbände oder entsprechende Fortbildungen.

Die Gemeinsame Baukommission von VDB und dbv näherte sich dem Thema aus einer ganz eigenen Perspektive: Wie können Bibliotheksgebäude und -räume forschungsnah sein? Die Antwort liege darin, dass auch virtuelle Räume physische Orte bräuchten und Virtualität in der analogen Welt sichtbar werden könne. Bibliotheken könnten dezidiert Räume zur Forschungsunterstützung anbieten. Einerseits werde es weiterhin Räume für Alt- und Sonderbestandnutzung geben. Andererseits würden immer mehr auch Multimediaräume entstehen, die beispielsweise Medienproduktion im Forschungskontext ermöglichten, oder Experience Labs, Game Labs oder Makerspaces, in denen mit Virtual Reality virtuelle Forschungsräume bereitgestellt würden, digitale Medien und Erlebniswelten zugänglich seien oder kreative Kollaboration mit Spezialtechniken ermöglicht würden. Auch Labs mit praktischem Labor- oder Werkstattcharakter seien attraktiv für forschungsnahe Services. Ausstattung und Atmosphäre von Bibliotheksräumen müssten den jeweiligen Medien- und Fächerkulturen gerecht werden und einen Rahmen für Rezeption, Austausch und Produktion von Wissen bieten. Sie müssten flexibel sein für neue technische Herausforderungen. Ein solches Raumangebot habe Folgen auch für den Personaleinsatz in Bibliotheken. Diese Räume benötigten hochwertige technische Ausstattung und entsprechende technische Betreuung und Benutzerinnenberatung: „Spacecurators“, die im Kontakt mit den Anforderungen der Fächer die Raum-, Technik- und Schulungsangebote aktuell hielten. Betreuung und Bereitstellung dieser Raumangebot seien ein wichtiges Dienstleistungsangebot von Bibliotheken und müssten entsprechend personell und materiell gestützt werden.

Die Gemeinsame Kommission Informationskompetenz (IK) von VDB und dbv ging der Frage nach, inwieweit im Kontext der forschungsnahen Bibliothek der Begriff Informationskompetenz neu und erweitert gedacht werden müsse und auch der Ansatz, durch Schulungen und Beratungen IK-Themen zu vermitteln, einen größeren Kontext erfordere. Informationskompetenz sei einer der Grundlagen für die Teilhabe am wissenschaftlichen Diskurs. Digitalisierung verstärke den Bedarf an Kompetenzentwicklung, denn immer mehr Aufgaben würden kollaborativ von den Forschenden selbst übernommen. Bibliothekar*innen begleiteten und unterstützten Wissenschaftler*innen beim Forschen, Publizieren und Lehren. IK-Vermittlung umfasse immer mehr „literacies“ wie etwa data literacy oder digital literacy. IK-Spezialist*innen könnten als Lotsen fungieren und Wissenschaftler*innen dabei helfen, für ihre Forschung geeignete Tools und Techniken zu finden und zu nutzen. Hinsichtlich der Aufgabenverteilung gebe es noch viele offene Fragen: Welche Beratungsdienstleistungen tragen IK-Kolleg*innen, wo übernehmen Spezialist*innen für bestimmte Services wie Forschungsdatenmanagement oder Publikationsberatung die Schulungen und Beratungen?

Die Kommission für berufliche Qualifikation vertiefte die Fragen nach Anforderungen hinsichtlich Personalgewinnung und -entwicklung im Kontext forschungsnaher Services. Alle Entwicklungen im Bereich forschungsnaher Dienste beträfen auch die Aus- und Fortbildung: Kenntnisse müssten auf- und ausgebaut werden. Gleichzeitig verstärke sich der Personal- und Nachwuchsmangel. Vorhandenes Personal müsse häufig viele Zusatzaufgaben übernehmen. Der Weiterbildungsdruck sei hoch. Das Fortbildungsformat der Library Carpentries an der Schnittstelle zwischen bibliothekarischem Alltag und forschungsnaher Dienstleistung könne wertvolle Unterstützung bieten und gemeinsam mit anderen Kommissionen in Richtung Data Carpentry / Data Librarian weiterentwickelt werden. Wichtig sei die Schaffung von zentral organisierten Angeboten über Landesverbände hinaus.

Die Kommission für forschungsnahe Dienste stellte anschließend zusammenfassend dar, welche Services im Bereich forschungsnaher Dienste mittlerweile schon breit etabliert sind, um Forschende in ihrem Arbeitsalltag zu unterstützen, und wo noch Desiderate bzw. Abstimmungsbedarfe bestehen. Zentrale Fragen für die Weiterentwicklung forschungsnaher Dienste seien unter anderem: Welche Unterstützung benötigen Forschende? Ergänzt der Dienst das digitale Portfolio der Einrichtung komplementär? Sind personelle Ressourcen für den dauerhaften Betrieb vorhanden bzw. beschaffbar? Sind Verlagerung von Ressourcen innerhalb der Bibliothek notwendig? Die Kommission betonte die Bedeutung einer Projektkultur, eines fehlertoleranten Arbeitsumfelds und einer Innovationsoffenheit. Diese Aspekte seien ebenso grundlegend für das Gelingen des Transformationsprozesses hin zur forschungsnahen Bibliothek wie eine konsequente Personalentwicklung. Die Abwägung zwischen bestehenden und neuen Aufgaben, eine Neuausrichtung von Personalstellen im Zuge von Wiederbesetzungsverfahren und die Integration von neuen Services in ein nachhaltiges Gesamtportfolio stellten Bibliotheken vor enorme Herausforderungen.

Im Anschluss an die von intensiven Diskussionen umrahmten Einzelvorträge übernahm der Vorstand des VDB die Aufgabe, das sich im Workshop abzeichnende Gesamtbild zusammenzufassen, die wichtigsten Punkte herauszuarbeiten und Handlungslinien für die künftige Verbandsarbeit zu entwickeln und zu veröffentlichen1. Konsens bestand darüber, dass das Zusammenspiel der unterschiedlichen Kommissions-Perspektiven der Breite des Themas angemessen ist. Der kommissionsübergreifende fachliche Austausch soll daher intensiviert und verstetigt werden, wofür es geeignete Formate zu finden gilt.

Der kommissionsübergreifende Ansatz spiegelt sich auch in den bereits angekündigten Veranstaltungen zum Kontext forschungsnahe Bibliothek wider: Auf der BiblioCon 2023 bietet die VDB/DBV-Baukommission eine Veranstaltung im Workshop-Format unter dem Titel „Welche Räume braucht die Bibliothek der Zukunft? Hands-On-Lab der VDB/DBV-Baukommission“ an. Die Kommissionen für forschungsnahe Dienste und die Kommission für Management werden gemeinsam einen Workshop „Die forschungsnahe Bibliothek“ gestalten, und die Kommission für forschungsnahe Dienste wird darüber hinaus in einer Session mit dem Titel „Gelingende Kooperationen: Umsetzung von forschungsnahen Diensten in der Praxis“ Kooperationsprojekte zwischen Infrastruktureinrichtungen und Forschung vorstellen.

Caroline Leiß, Universitätsbibliothek der Technischen Universität München, http://orcid.org/0000-0002-2792-2625

Zitierfähiger Link (DOI): https://doi.org/10.5282/o-bib/5923

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