Strategiearbeit in Bibliotheken

Impressionen zum Round Table zur Strategieentwicklung auf Einladung der Managementkommission am 12./13. Oktober 2022 in Berlin

“Man kann nicht keine Strategie haben”
- frei nach Paul Watzlawick

Einleitung

Die gemeinsame Managementkommission von dbv und VDB ermittelte zu Beginn ihrer neuen Amtsperiode in einem Open Space beim Bibliothekskongress in Leipzig gemeinsam mit Teilen der bibliothekarischen Community die zu der Zeit meistgefragten Managementthemen. Dabei wurde rasch die hohe Relevanz des Themas Strategieentwicklung offenbar. Strategieentwicklungsprozesse beschäftigen Bibliotheksleitungen auf mannigfaltige Art und vor allem auch spartenübergreifend.

Vor diesem Hintergrund fand am 13.10.2022 eine ganztägige Veranstaltung zur Strategieentwicklung in Bibliotheken im Harnack-Haus Berlin statt. Die Kommission lud dazu nach sorgfältiger Auswahl die Leitungen von je sechs Öffentlichen und Wissenschaftliche Bibliotheken ein, die sich gerade in größeren Strategieprozessen befinden, um in einem geschützten Rahmen einen direkten Praxisaustausch und tiefere Diskussionen über Motivation, Rahmenbedingungen, Erfolge und Rückschläge zu ermöglichen. Die Teilnehmenden kamen aus größeren Bibliotheken beider Sparten mit unterschiedlicher Rechtsform.

Ausgangspunkt bei der Konzipierung des Runden Tisches war für die Managementkommission, einen vertrauensvollen Rahmen zu schaffen, in dem die Teilnehmenden durch persönlichen Austausch Antworten auf individuelle und grundsätzliche Fragestellungen der Strategieentwicklung gemeinsam erarbeiten können sollten. Ein weiteres Ziel war außerdem, ein kollegiales Praxisnetzwerk für das Teilen von Wissen und Erfahrungen zur strategischen Arbeit zu schaffen. Ein externer Berater aus der systemischen Organisationsberatung moderierte den Round Table und gab Impulse für den strukturierten Austausch.

Zentrale Ergebnisse

Folgende Beobachtungen zur Strategiearbeit in Bibliotheken wurden erarbeitet:

  1. Kernherausforderung der Bibliotheken ist die wirksame Gestaltung organisationaler Ambidextrie. Neue, digitale Themen sind in den letzten Jahren hinzugekommen, teilweise jedoch unverbunden geblieben. Hierdurch stellt sich die Frage: Wie bringen wir das Etablierte und das Neue gut im Kontext einer Organisation zusammen?
  2. Strategieprozesse in Bibliotheken berühren stark die Identität – sowohl auf der Ebene der Organisation als auch auf der Ebene der Mitarbeitenden. Es braucht Raum und Zeit, um Identitäten neu zu definieren und um die Identitätsfindung der Mitarbeitenden zu unterstützen.
  3. Die Möglichkeiten der Bibliotheken, ihr „Geschäft“ radikal neu zu erfinden, sind begrenzt (vor allem als Folge externer Aufträge). Gleichzeitig braucht es eine kreative Auseinandersetzung mit dem Neuen, um eine zukunftsfähige Identität für die eigene Organisation im Kontext der sich verändernden Umwelt zu finden.
  4. Bibliotheken sind Organisationen des Bewahrens. Sie müssen die Selbsterneuerung (neu) lernen. Es braucht Räume für organisationales Lernen und Experimente, eine systematische Entwicklung der eigenen Organisation beziehungsweise des Changes sowie neue Formen der Zusammenarbeit und Führung.
  5. Während Menschen in Bibliotheken gut vernetzt sind, gibt es Potenzial in der Vernetzung der Bibliotheken selbst (zum Beispiel in ihren bestehenden Netzwerken oder den individuellen Ökosystemen).

Gestaltung des Round Table

Einige Tage vor der Veranstaltung konnten sich die Teilnehmenden anhand von vorab durch sie eingereichten Kurzvorstellungen zu Situation und Motivlage der individuellen Strategieprozesse orientieren. Die Kurzportraits wurden begleitend zur Veranstaltung auch noch einmal in Form eines Gallery Walks im Seminarraum präsentiert.

Beim Check-In wurden in einer kurzen Vorstellungsrunde zwei Fragen beantwortet: Was haben wir mitgebracht? Was wollen wir mitnehmen?

Folgende Erwartungen und Wünsche rückten dabei besonders in den Fokus:

Beim Check-In wurde unmittelbar deutlich, wie viel Erfahrung die Anwesenden aus unterschiedlichen Strategieprozessen mitbrachten, die jeweils immer wieder neu flexibel an aktuelle Herausforderungen angepasst werden mussten. Hier rückten die Bedeutung von interner und externer Kommunikation und die Herausforderungen, die in Veränderungsprozessen damit verbunden sind, stark in den Fokus (Stichwort: “Culture eats strategy for breakfast”).

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Abb. 1: Erwartungen und Wünsche (c) Lorna Schütte

Austausch in Themengruppen

Bei einem darauffolgenden Austausch in drei Themengruppen wurden die drei Themen, die beim Check-In in einem Punkte-Wahlsystem ausgewählt wurden, in Kleingruppen intensiv diskutiert: Partizipation/Kommunikation, Kulturwandel und Organisationsstruktur.

In der anschließenden Vorstellung der Diskussionsergebnisse im Plenum wurden folgende Aspekte besonders hervorgehoben:

  1. Im Themenfeld Partizipation/Kommunikation wurde der Wert der Verbindlichkeit der Strategie in Verbindung mit der Kommunikation der Strategie und den Partizipationsmöglichkeiten betont. Das heißt beispielsweise, den Strategieprozess im Haus und für externe Stakeholder regelmäßig erlebbar und nachvollziehbar zu gestalten, auch mit Blick auf die individuellen Vorteile. Zur Erhöhung der Anschaulichkeit und des emotionalen Gehalts wurde hier unter anderem Storytelling als Methode genannt. Darüber hinaus wurde festgehalten, dass nicht nur funktionales Wissen zentral für den Erfolg von Strategieprozessen ist, sondern auch ein klares Rollenverständnis der Führungskräfte.
  2. Im Themenfeld Kulturwandel und Werte wurde ebenfalls die Wichtigkeit von Narrativen und Storytelling anhand eines Beispiels aus den Niederlanden illustriert. Demnach konnte dort nahezu jede Führungskraft eine persönliche Geschichte zu der Frage “Wofür ist die Bibliothek wichtig” erzählen. Dies erhöhe die Identifikation und stärke das Gemeinschaftsgefühl. In der Diskussion wurde noch der Unterschied zwischen impliziten beziehungsweise nicht-öffentlichen Werten und expliziten Werten innerhalb der Organisation hervorgehoben. Die Runde war sich einig, dass zur Strategie ein Sichtbarmachen der Werte und/oder das Erarbeiten von neuen Werten in Kombination mit der Herstellung eines gemeinsamen Verständnisses gehört. Zum notwendigen Kulturwandel wurde auch die Entwicklung der Rolle der Führungskräfte weg von heroischen, einsamen Entscheidungsträger*innen hin zu kollaborativen Entscheidungsstrukturen in Teams hervorgehoben.
  3. Im Themenfeld Organisationsstruktur war ein zentraler Punkt der Diskussion, dass Teil der Strategie sein sollte, Rahmenbedingungen zu schaffen, um eine “Heimat” im Team finden zu können und damit alle Mitarbeitende gut in einer zunehmend als paradox wahrgenommenen Arbeitswelt zu verankern. Die Frage, wie starr eine Organisationsstruktur sein muss beziehungsweise wie das Verhältnis von flexiblen und stabilen Strukturen sein kann, wurde intensiv diskutiert. Damit verbunden sind Veränderungen des Berufsbildes und der Aufgaben in Bibliotheken.

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Abb. 2: Partizipation, Kulturwandel und Organisationsstruktur (c) Lorna Schütte

Diskussionsrunde

Nach der Arbeit in den themenorientierten Kleingruppen ging die Diskussion im Plenum mit der Fishbowl-Methode weiter, bei der in diesem Fall vier rasch wechselnde Diskutanten in der Mitte saßen.

In dieser Diskussionsrunde kristallisierten sich drei Schwerpunkte heraus:

  1. Positiv gesehen wurde die Arbeit von externen Berater*innen bei der Durchführung von Strategieprozessen. Hier ist vorzugsweise die Unterstützung durch zwei Personen ideal, um insbesondere den Auftraggeber durch die Moderation zu entlasten, den Prozess mit hoher Methodenkompetenz zu begleiten und insbesondere auch blinde Flecken der eigenen Organisation aufzudecken. Als zentral wichtig bei der Auftragsformulierung und -vergabe wurde das klare Benennen der Erwartungen an das Ergebnis und die Art und Weise der Prozessbegleitung genannt. Dazu zählt es auch, die Zusammenarbeit mit Berater*innen zu beenden, wenn sich herausstellt, dass die Personen und deren Herangehensweise nicht zur Einrichtung passen. In diesem Zusammenhang wurden auch die Vor- und Nachteile der Wahl einer Beraterin mit Branchenkenntnis (Vorteile: Erfahrung bezüglich der Machbarkeit von Maßnahmen) und eines Beraters ohne Branchenkenntnis (Vorteile: andere Perspektiven, frische Ideen) diskutiert.
  2. Als besonders wichtig wurde die Stärkung der verantwortlichen Führungskräfte im Strategieprozess - beispielsweise über ein Coaching - gesehen. In Strategieprozessen ist mit (berechtigten) Widerständen und vor allem vielen Emotionen bei allen Beteiligten zu rechnen. Der Umgang mit Kränkung und Frust von Mitarbeitenden zählt ebenso dazu, wie die Fähigkeit, auch Grenzen aufzuzeigen und das richtige Maß zwischen Führung und Partizipation zu schaffen. Wichtig ist dabei vor allem auch, Motivationen für auftretende Störungen sichtbar zu machen und den Fokus auf Lösungsorientierung zu lenken. Voraussetzung ist der Abgleich von Zielen, der Klarheit und ein gemeinsames Verständnis des Prozesses herstellen kann.
  3. Deutlich wurde auch, dass Strategieentwicklung nicht nur für eine gewisse Zeit Energie benötigt. Vielmehr ist es notwendig, auch nach dem Abschluss von Strategieprozessen weiterhin Zeit und Raum in die kontinuierliche Strategiearbeit zu investieren. Dafür kann es sinnvoll sein, beispielsweise Mitarbeitende in Moderation und Coaching auszubilden, Methoden, wie das Design Thinking für die Projektarbeit, zu verankern und auch im Arbeitsalltag neue Methoden ausprobieren, zum Beispiel Hackathons.

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Abb. 3: Arbeit mit Berater*innen und Emotionen im Strategieprozess (c) Lorna Schütte

Fazit

Das Feedback der Teilnehmenden am Ende der Round-Table-Veranstaltung war rundum positiv. Der zentrale Aspekt dabei war, dass alle Teilnehmenden zu einer sehr offenen, vertrauensvollen Atmosphäre beigetragen haben und bereit waren, auch Einblicke in schwierige Prozesse und Erfahrungen der eigenen Strategiearbeit zu eröffnen. Dies wurde auch im Rücklauf der Befragung, die die Teilnehmenden nach der Veranstaltung von der Managementkommission zur Evaluation zugeschickt bekamen, bekräftigt. So war eine exemplarische Rückmeldung auf die Frage “Was hat Ihnen am besten bei dem Round-Table “Strategieentwicklung” gefallen?”: “Die Bereitschaft aller Teilnehmenden, offen mit ihren Erfahrungen und Fragen zur Strategieentwicklung umzugehen.”

Das ermutigende Feedback und die Vielzahl der Signale, den Austausch fortzusetzen, mündete in der Verabredung der Gruppe, sich in derselben Konstellation für das kommende Jahr erneut zu verabreden. Dann soll die Diskussion über die durch den Round Table angestoßenen Lernprozesse in den eigenen Häusern weitergehen, eine gegenseitige Information über die weiteren Entwicklungen der jeweiligen Strategieprozesse stattfinden sowie die persönlichen Verbindungen und die Arbeit am kollegialen Praxisnetzwerk weiter vertieft werden. Die Erfahrung des Round Table zeigt, dass genau dies Veränderungs- und Strategieprozesse in jedem Stadium positiv verstärken kann.

Auch die Managementkommission freut sich über die gelungene Veranstaltung. Die Intention der spartenübergreifenden Vernetzung ist aufgegangen und gewinnbringend, da Öffentliche, Wissenschaftliche und Spezialbibliotheken unabhängig von ihrer Größe bei Strategieprozessen vor ähnlichen Herausforderungen stehen. Auf einer Metaebene war die wesentliche Erkenntnis für die Kommission, dass das “voneinander Lernen” eine wichtige Ressource ist. Folgerichtig sieht es die Kommission zukünftig verstärkt als eine ihrer Aufgaben an, gezielt Räume für den themenzentrierten Austausch und das gemeinsame Lernen zu öffnen und Prozesse zu ermöglichen.

Für Fragen rund um diesen Round Table oder zu Strategieprozessen in Bibliotheken allgemein wenden Sie sich gerne an die Managementkommission unter management@bibliotheksverband.de.

Lucia Werder, Stadtbibliothek Bremen
Isabelle Tannous, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin, https://orcid.org/0000-0002-0300-4846
Corinna Meinel, Stadtbibliothek Chemnitz
Martin Lee, Humboldt-Universität zu Berlin, https://orcid.org/0000-0001-7550-7365
Cordula Gladrow, Stadtbibliothek Wuppertal
Olaf Eigenbrodt, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky, https://orcid.org/0000-0001-5382-2583

Zitierfähiger Link (DOI): https://doi.org/10.5282/o-bib/5912

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