Bedrohte Bücher : eine Geschichte der Zerstörung und Bewahrung des Wissens / Richard Ovenden ; aus dem Englischen von Ulrike Bischoff. – Erste Auflage. – Berlin: Suhrkamp, 2021. – 416 Seiten : Illustrationen. – Original­titel: Burning the books. – ISBN 978-3-518-43007-1 : EUR 28.00 (auch als E-Book verfügbar)

Die gezielte Zerstörung von verkehrs- und kommunikationstechnischer Infrastruktur, aber auch von Orten und Symbolen kultureller Identität ist allgegenwärtig – nicht nur in kriegerischen Auseinandersetzungen. Seit Jahrtausenden haben macht- und wirtschaftspolitisch, religiös, ethnisch oder kulturell motivierte Eiferer ganz gezielt nicht zuletzt Bücher, Bilder, Archivbestände und sonstige Kulturgüter angegriffen, geplündert, geraubt oder häufig durch Feuer zerstört. Mit der Beseitigung oder Auslöschung der physischen Datenträger sollten auch die in ihnen enthaltenen Informationen und Erkenntnisse als Belege für das Wissen und die Kultur von Gemeinschaften – im Extremfall auch für deren gesamte Existenz! – ausgelöscht werden. Neben anderen haben Bibliothekar*innen und Archivar*innen sowie ihre Unterstützer*innen immer wieder versucht, dies durch ihre Arbeit zu verhindern und kodifiziertes Wissen zu bewahren. Von beidem, vom Zerstören, aber auch vom Sichern und Bewahren des Wissens, handelt das engagiert geschriebene Buch des britischen Bibliothekars Richard Ovenden.

Eingerahmt von einer Einleitung, die das Grundanliegen des Buches darstellt, und einem Schlusskapitel mit fünf Thesen zur Frage „Warum wir immer Bibliotheken und Archive brauchen werden“ (s.u.), behandelt Ovenden das Thema in 14 Kapiteln.1 Ergänzend stellt der Autor einen nach Kapiteln gegliederten wissenschaftlichen Apparat mit Literaturangaben und Erläuterungen, eine umfängliche Bibliografie der genutzten Literatur sowie ein Register der erwähnten Namen und Institutionen bereit. Das Thema der Zerstörung greift er unter vielen Aspekten auf. Unter den Beispielen sind bibliotheksgeschichtliche „Klassiker“ wie die mesopotamischen Tontafeln des Königs Assurbanipal und deren Zerstörung, die allmähliche Zerstörung der antiken Bibliothek von Alexandria durch Vernachlässigung und Brände, die religiös motivierte Vernichtung von Buchbeständen und Archiven (z.B. im Kontext der Reformation) und die zweimalige Vernichtung der Universitätsbibliothek von Leuven durch deutsches Militär im 20. Jahrhundert. Ovenden schreibt auch über die nationalsozialistisch motivierte Vernichtung von hebräischer und jiddischer Literatur und Überlieferung und über den z.T. erfolgreichen Versuch der sogenannten Papierbrigade in Litauen, dies zu verhindern. Weitere Beispiele sind die gezielte Vernichtung von muslimischer Kultur und Wissensbeständen, oder auch die von Archivdaten über den Alltag der muslimischen Bevölkerung in Bosnien-Herzegowina durch Serben in den 1990er-Jahren. Ein weiterer Fall systematischer Bücherzerstörung war das Niederbrennen der Library of Congress 1814 durch britische Truppen im Britisch-Amerikanischen Krieg.

Bei seiner Darstellung der Bedrohungen und Zerstörungen von Wissensspeichern betrachtet Ovenden Bibliotheken und Archive als prinzipiell zusammengehörig. Er nimmt hierbei das Gemeinsame und nicht — wie das in der deutschen Diskussion zumeist der Fall ist — das Trennende in den Blick. Bei Archiven allerdings kommt die Bedrohung häufig nicht nur von außen, sondern auch von innen: von den Betreibern, insbesondere von jenen, deren Handeln durch die Zerstörung oder Beseitigung von Archivmaterial vertuscht oder nicht mehr nachweisbar sein soll. Ovenden vertieft diesen Aspekt an den mehr als 100 Regalkilometer einnehmenden Stasi-Akten und ihrer Rettung durch Bürger*innen der DDR ebenso wie an der Sicherung von Akten der irakischen Baath-Partei oder am Beispiel des südafrikanischen Umgangs mit Akten des Apartheid-Regimes.2 Die gezielte Vernichtung bzw. die Nicht-Übergabe von Akten der Kolonialmächte an unabhängig gewordene Staaten prangert er in diesem Zusammenhang als einen Versuch an, die Aufarbeitung von staatlichem Unrechtshandeln und damit u.a. auch eine gesellschaftliche Versöhnung zu verhindern. Ovenden formuliert: „Wenn Gemeinschaften keinen Zugang zu ihrer eigenen Geschichte haben, lässt sich die Darstellung ihrer Vergangenheit kontrollieren und manipulieren und die kulturelle und politische Identität ernstlich untergraben.“ (S. 247)

An der Schnittstelle von Bibliothek und Archiv, der Literatur und den Literaturarchiven ist der dritte Aspekt der von Ovenden thematisierten Bedrohungen angesiedelt: Die von Autor*innen bzw. Urheber*innen gewünschte, erbetene oder befohlene Vernichtung von Unterlagen aus ihrem jeweiligen Vor- bzw. Nachlass. Die mit einer erwünschten Vernichtung verbundene grundsätzliche ethische Frage, ob ein solcher Auftrag umgesetzt oder verweigert werden sollte, diskutiert Ovenden u.a. an dem von Franz Kafka zur Vernichtung bestimmten literarischen Nachlass und der Weigerung des von ihm beauftragten Freundes Max Brod, seinen Wunsch auch umzusetzen. An weiteren Beispielen wie der Autobiografie von Lord Byron oder dem Nachlass der US-Autorin Sylvia Plath verdeutlicht er das ethische Dilemma sowie die möglichen Motive, sich dem Wunsch eines Nachlassgebers oder einer Nachlassgeberin zu widersetzen. Auch wenn es heutzutage bei Schriftsteller*innen und anderen Nachlassgebenden nur noch selten um die gewollte Vernichtung von Notiz- und Tagebüchern geht, sondern eher um Fragen des digitalen Nachlasses: Das grundsätzliche Dilemma bleibt bestehen. Allerdings ist heute die endgültige Löschung von Facebook- oder anderen Social-Media-Spuren deutlich schwieriger zu erreichen, als dies bei physischen Objekten der Fall ist.

Als vierte Variante der Bedrohung von Wissen stellt Ovenden – mit einer Referenz auf die allmähliche Zerstörung der antiken Bibliothek von Alexandria – die Frage der Vernichtung durch Vernachlässigung oder Nichtstun im Umgang mit digital gespeichertem Wissen in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen. Durch die Nicht-Sicherung und Nicht-Archivierung unserer digitalen Aktivitäten, Materialien und Spuren im Netz sieht er die Chance gefährdet, heutige oder zukünftige Entwicklungen und Einflussnahmen auf Politik und Gesellschaft transparent zu machen bzw. aufzudecken. Hierbei spricht er die Notwendigkeit einer umfassenden Archivierung sowohl des Web als auch von Kommunikation in Social Media an. Beide seien die unabdingbaren Grundlagen einer ggf. später erwünschten Analyse von Kommunikationsverhalten und einer möglicherweise erfolgten Einflussnahme auf gesellschaftliches Handeln und Geschehnisse, wie sie – unter Missachtung von Persönlichkeitsrechten – von großen Technologiekonzernen, aber auch von Firmen wie Cambridge Analytica bekannt geworden sind. Bislang aber sind – so sein berechtigter Hinweis – diesbezüglich weder die gesellschaftsinternen Zuständigkeiten für solche Sicherungsmaßnahmen abgeklärt noch deren Finanzierung. Ohne solche Maßnahmen zur Sicherung und Transparenz von digitalen Aktivitäten sei man jedoch, so Ovenden, den Technologiekonzernen ebenso ausgeliefert wie autoritären Regimen, die in ihren Archiven solche Spuren dokumentierten. Sie hätten ganz offensichtlich die von Jacques Derrida formulierte Regel „Keine politische Macht ohne Kontrolle des Archivs“3 besser verstanden als die von ihnen kontrollierten Gesellschaften.

Die abschließenden Betrachtungen zur Frage „Warum wir immer Bibliotheken und Archive brauchen werden“ unterstreicht der Autor durch fünf Funktionen, die sich auch als Quintessenz seiner Sicht verstehen lassen:

Erstens unterstützen Bibliotheken und Archive die Bildung der gesamten Gesellschaft und spezifischer Gemeinschaften.
Zweitens stellen sie eine große Bandbreite an Wissen und Ideen zur Verfügung.
Drittens tragen sie zum Wohl der Bevölkerung bei und stützen die Prinzipien der offenen Gesellschaft, indem sie zentrale Rechte bewahren und die Integrität von Entscheidungsprozessen fördern.
Viertens liefern sie einen festen Bezugspunkt, der es erlaubt, mittels Verfahren des Transparentmachens und Verifizierens, des Zitierens und Reproduzierens zwischen Wahrheit und Unwahrheit zu unterscheiden.
Und fünftens helfen sie, Gesellschaften in ihrer kulturellen und historischen Identität zu verwurzeln, indem sie die Schriftzeugnisse dieser Gesellschaften und Kulturen bewahren.“ (S.309; Hervorhebungen im Original)

Zu Recht ist dieses Buch nicht nur in der Fach-, sondern auch in der überregionalen Presse besprochen und gewürdigt worden. Es hat aktuelle Bezüge und steht im Juli 2022 vielleicht auch deshalb auf der Longlist für den Preis des Wissenschaftsbuches des Jahres 2022. Schon 2021 stand es auf der Shortlist für den Wolfson History Prize 2021.

Die Zerstörungen von materiellem wie immateriellem Kulturerbe in der Ukraine belegen Ovendens Sicht und Thesen genauso wie all die anderen Vernichtungsmaßnahmen gegenüber Kulturen, Völkern, Ethnien, religiösen oder nach anderen Aspekten definierten Gruppen und ihren Wissensbeständen. Wir haben dies in den letzten Jahren und Jahrzehnten weltweit erlebt und werden es wohl auch in Zukunft weiter erleben müssen – trotz der Haager Landkriegsordnung von 1907 sowie der Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten von 1954.

Die latente Enteignung unserer Daten und Kommunikationsspuren, die zunehmend in der Verfügungsgewalt von privaten, gewinnorientierten Firmen liegen und einer gesellschaftlichen Kontrolle entzogen sind, birgt Gefahren, die weit über solche zerstörerischen Maßnahmen hinaus gehen. George Orwell hat sie schon in seinem Roman „1984“ eindrucksvoll dargestellt. Das bislang unkontrollierte bzw. kaum kontrollierbare Geschäft mit der Sammlung und Analyse von Daten, die ggf. ex post aus unterschiedlichen Kontexten zusammengeführt werden (data analytics), gerät allerdings erst allmählich in den Blick. Der Wissenschaftsbereich, in dem dies um sich zu greifen droht, mag als Beispiel für die zunehmende Macht der im und mit dem Internet agierenden Konzerne dienen.4

Die Alternative zu solchen Zuständen sieht Ovenden in einer gesamtgesellschaftlichen, z.B. an Bibliotheken und Archive zu übertragenden, finanziell und strukturell abgesicherten Aufgabe: Die „Bewahrung des in digitaler Form erzeugten Wissens [ist] eine wichtige Voraussetzung für offene, demokratische Gesellschaften“ (S. 306). Sie ist also nicht etwa Selbstzweck, sondern eine Voraussetzung für ein verantwortliches und selbstbestimmtes gesellschaftliches Miteinander.

Die titelgebenden „bedrohten Bücher“ sind für Ovenden heute demzufolge auch bedrohte Daten und Kommunikationsmöglichkeiten als Grundlage und Ergebnis der Generierung gesellschaftlich relevanten Wissens. Schade, dass sich diese aktuelle Dimension des Themas nicht im Titel des Buches niedergeschlagen hat!

Richard Ovenden war von 2009 bis 2013 Vorsitzender der Digital Preservation Coalition5 und dürfte insofern mit den Fragen rund um die Sicherung digitaler Objekte und Daten schon lange vertraut sein. Dennoch entsteht der – vermutlich falsche – Eindruck, als habe Ovenden erst bei der intensiven Beschäftigung mit dem Thema die weitergehenden, digitalen Implikationen seiner „Geschichte der Zerstörung und Bewahrung des Wissens“ – so der Untertitel – zunehmend realisiert. Allerdings hat er sie kompetent thematisiert und auf grundsätzliche Weise auch aufgearbeitet.

Seine Vertrautheit und Verbundenheit mit bibliothekshistorischen Themen verleitet ihn aus Sicht des Rezensenten manchmal zu etwas zu ausführlich beschriebenen Details zur Entstehung jener Bibliotheken, deren Zerstörung er beschreibt, zur englischen Bibliotheksgeschichte sowie insbesondere zur Bodleian Library in Oxford, deren 25. Bibliothekar der Autor seit 2014 ist. All dies kann Lesende ermüden, die vorzugsweise am Kern des Themas, nämlich an den Gründen und Konsequenzen der Gefährdung und Zerstörung von Medien sowie der in ihnen enthaltenen Erkenntnisse interessiert sind.

Diese Längen sind aber verkraftbar und verzeihlich, gerade bei einem Autor, der nicht in der Bibliotheksgeschichte verharrt, sondern ganz offensichtlich willens und in der Lage ist, eine grundsätzlichere Perspektive einzunehmen. Die Bewahrung unseres Kulturerbes schließt heutzutage eben unabdingbar auch all jene digitalen Daten, Dokumente und die digitale Kommunikation über sie mit ein, die unser digitales Ökosystem konstituieren. Dies wie Richard Ovenden als eine gemeinsame, gesellschaftlich abzusichernde Aufgabe zu betrachten, die ganz wesentlich auch von Bibliothekar*innen und Archivar*innen zu bearbeiten ist, zeugt von einer guten Mischung aus Weitsicht und Selbstbewusstsein, die noch nicht verbreitet genug ist.

Achim Oßwald, Technische Hochschule Köln

Zitierfähiger Link (DOI): https://doi.org/10.5282/o-bib/5880

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1 Inhaltsverzeichnis unter <https://d-nb.info/1230568212/04>, Stand: 10.08.2022.

2 Die bewusste oder unbewusste, auf jeden Fall aber fahrlässige Vernichtung von Landekarten der sog. „Windrush-Generation“ durch das britische Innenministerium war nach Aussage von Ovenden der Auslöser für das Schreiben des vorliegenden Buches. Hierbei waren diese Dokumente über das „Anlanden“ von Migrant*innen in Großbritannien in den 1940ern und 1950ern, die diesen als Beleg für ihre Einwanderung und damit auch für die Erlangung der ihnen zugesagten Staatsbürgerschaft hätten dienen können, 2010 unter der Verantwortung von Innenministerin Theresa May vernichtet worden. In der Konsequenz wurden Einwanderer und Einwanderinnen mangels anderer Belege für ihre legale Einwanderung unrechtmäßig aus Großbritannien ausgewiesen.

3 Hier zitiert nach Ovenden, S. 299; zuerst in Derrida, Jacques: Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression, Berlin 1997, S. 14.

4 Vgl. Siems, Renke: Das Lesen der Anderen. Die Auswirkungen von User Tracking auf Bibliotheken, in: o-bib 9 (1), 2022, S. 1–25. Online: <https://doi.org/10.5282/o-bib/5797>.

5 Digital Preservation Coalition: About the Digital Preservation Coalition, <https://www.dpconline.org/about>, Stand: 10.08.2022: „The Digital Preservation Coalition exists to secure our digital legacy“.