Kulturgutschutz in Krieg und bewaffnetem Konflikt

Bericht aus der Session der AG Regionalbibliotheken und dem Blue Shield Nationalkomitee

Im „gezielte(n) Angriff auf das Theater von Mariupol am 17.3.2022, in dem sich 1.500 Menschen aufgehalten haben sollen“1 sah Michael Knoche, der langjährige Direktor der Herzogin Anna Amalia Bibliothek, nicht nur „die Entschlossenheit der russischen Angreifer, weder Ansammlungen von Schutz suchenden Zivilisten noch Kultureinrichtungen schonen zu wollen“. Er sah darin auch Anlass für die „begründete Befürchtung, dass auch die Auslöschung von Kulturgütern und der kulturellen Überlieferung in der Ukraine“ auf der Agenda des russischen Militärs stehe. Inzwischen ist ersichtlich, dass viele Kulturgüter der Ukraine zerstört und beschädigt wurden.

Regionalbibliotheken zählen zu den besonderen Stätten kultureller Überlieferung. Sie sind Orte der kulturellen Identität, weisen zumeist bedeutende regionale Sammlungen auf und nehmen wichtige Funktionen in der Bibliotheksarbeit in der Region wahr. Die AG Regionalbibliotheken hat im öffentlichen Teil ihrer Arbeitssitzung am 1. Juni 2022 im Kontext des 8. Bibliothekskongresses in Leipzig 2022 die Situation des Bibliothekswesens in der Ukraine aufgegriffen. Dabei konnte sie drei Stimmen zum Umgang mit dem im Kriegsgeschehen gefährdeten ukrainischen Kulturgut einen Raum zum Gespräch geben.

Den ersten Beitrag übernahm Valentyna Iaroshchuk. Sie leitet die Rivne Regional Universal Scientific Library. Riwne ist eine Großstadt im Nordwesten der Ukraine. Ihr in ukrainischer Sprache und simultanübersetzter Vortrag zeigte eindrücklich die massiven Schädigungen und Zerstörungen, denen Bibliotheken in den Kriegsgebieten in der Ukraine ausgesetzt sind. Zugleich berichtete sie ausführlich über die Maßnahmen und neuen Aufgaben, denen sich das Bibliothekswesen der Ukraine im Angesicht der Kriegskatastrophe gegenüber sieht. Bibliotheken sind hierbei nicht nur Bewahrer bedeutender historischer Zeugnisse und wichtiger Sammlungen, sondern entwickeln neue Funktionen des sozialen Raumes und werden Zentren der Kommunikation in den Fluchtbewegungen der Ukraine. Der Bericht bewies zugleich die herausragende Motivation der ukrainischen Kolleg*innen, den ihnen anvertrauten bibliothekarischen Auftrag als Sammlungs- und Informationseinrichtung auch unter widrigsten Bedingungen gerecht zu werden.

Im Anschluss berichtete Olaf Hamann von der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz aus dem Netzwerk Kulturgutschutz. Er koordiniert zusammen mit der Deutschen Nationalbibliothek die Hilfegesuche ukrainischer und die Hilfsangebote deutscher Bibliotheken. Sein Bericht zeigte sehr praktische Elemente der Schwierigkeiten der Hilfe: Neben der Komplexität, Hilfsgüter in Kriegssituation über die Grenzen zu befördern und an Ort und Stelle zu bringen, stehen hier derart elementare Praxisfragen, z.B. welche Mengen und Formate von Paletten überhaupt in einzelne Transporter beigeladen werden können. Gleichwohl konnte er von unterschiedlichen Erfolgen berichten, darunter der erfolgreichen Beschaffung von IT-Infrastruktur für ukrainische Bibliotheken. Deren Bedarf an Scan-, aber auch an Kommunikationstechnik (insbesondere Laptops) ist stark gestiegen. Im Falle der Kommunikationstechnik liegt dieses Bedarfswachstum auch an der zunehmenden Zahl an Flüchtlingen, die in den Bibliotheken in Regionen, die vom unmittelbaren Kriegsgeschehen bisher unberücksichtigt blieben, die Kommunikationstechnik nutzen, um Kontakte aufrecht erhalten zu können. Olaf Hamann zeigte in seinem Bericht zugleich, mit welcher Hartnäckigkeit und Ausdauer die Beteiligten daran arbeiten, rechtliche Vorgaben (Haushaltsrecht, Einfuhrbestimmungen etc.), Dauer der Bürokratie und die dringenden Bedarfe der ukrainischen Hilfegesuche in Einklang zu bringen.

Neben dem Bericht aus dem Netzwerk Kulturgutschutz Ukraine und dem Bericht aus dem Konfliktgebiet konnte dabei auch die Arbeit von Blue Shield Deutschland vorgestellt werden, in dem der Deutsche Bibliotheksverband (dbv) als konstitutives Mitglied im Vorstand vertreten ist. Der vorliegende Beitrag gibt einen kleinen Überblick über Blue Shield Deutschland sowie über erste Maßnahmen und Vernetzungsarbeiten im Kontext des Ukraine-Krieges.

Was ist und was macht Blue Shield?

Da Blue Shield im Bibliothekswesen verhältnismäßig unbekannt ist und das deutsche Nationalkomitee erst seit 2017 existiert, soll zuerst ein kleiner Überblick zu Blue Shield erfolgen. Blue Shield International wurde 1996 von den vier großen internationalen Dachverbänden für Archive (International Council on Archives – ICA), Bibliotheken (International Federation of Library Associations and Institutions – IFLA), Denkmalschutz (International Council on Monuments and Sites - ICOMOS) und Museen (International Council of Museums – ICOM) gegründet, damals unter dem Namen Internationales Komitee vom Blauen Schild (International Committee of the Blue Shield – ICBS).2 Blue Shield fußt auf der Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten von 1954 sowie den beiden Zusatzprotokollen von 1954 und 1999 und hat das Ziel, bei der Umsetzung der Konvention zu unterstützen. Entsprechend hat Blue Shield als Logo und Namen das blau-weiße Schild übernommen, das seit der Haager Konvention in unterschiedlicher Ausführung zur Kennzeichnung von schutzwürdigem Kulturgut etabliert ist. Eine Besonderheit von Blue Shield ist die spartenübergreifende Zusammenarbeit mit einem internationalen, weltweiten Netz im Hintergrund. Am Tisch sitzen nicht nur Bibliothekarinnen und Bibliothekare, sondern auch Fachleute aus Museen, der Bestandserhaltung, dem baukulturellen Erbe, der Lobbyarbeit und der wissenschaftlichen Forschung. Dies ist in Kombination mit dem thematischen Gegenstand das Alleinstellungsmerkmal von Blue Shield und ermöglicht oftmals kurze Wege bei der gegenseitigen Unterstützung und Informationsweitergabe quer durch die komplexe Welt der Kulturgüter. Agenda von Blue Shield ist im Wesentlichen die Förderung des Schutzes von materiellem und immateriellem Kulturgut bei Konflikten, Katastrophen und Notfallsituationen, mit einem besonderen Schwerpunkt auf den Schutz von Kulturgut in militärischen Konflikten. Insofern liegt ein Hauptaugenmerk des Vereins auf der Förderung von Kultur, Forschung und Bildung im Bereich des nationalen und internationalen Kulturgutschutzes auf der Grundlage des Völkerrechts. Grundlegend folgt Blue Shield den Prinzipien Kooperation, Unabhängigkeit, Neutralität und Professionalität. Zentral ist der Respekt vor der kulturellen Identität in aller Vielfalt sowie die Arbeit auf gemeinnütziger Basis.

Dazu organisiert sich Blue Shield in Nationalkomitees. Das deutsche Nationalkomitee wurde nach ersten Bemühungen seit 2006 im Jahr 2017 gegründet und weist sechs konstituierende Mitglieder auf:

Die konstituierenden Mitglieder sind mit je einem Mitglied im Vorstand von Blue Shield Deutschland vertreten, der zusammen mit sechs weiteren natürlichen Mitgliedern den Verein leitet. Dabei werden Funktionen wie (Vize-)Präsident*in, Schatzmeister*in und Schriftführer*in aus Mitgliedern per Vorstandswahl besetzt. Blue Shield Deutschland versteht sich als ein Netzwerk aus Fachleuchten aus dem Sammlungswesen und Kulturgutschutz mit dem Ziel, sich „auf nationaler und internationaler Ebene für den Schutz von kulturellem Erbe vor allem in Konflikt-, Katastrophen und Notfallsituationen“3 einzusetzen. Entsprechend arbeiten die beteiligten Mitglieder in Arbeitsgruppen zu Themen des Schutzes von Kulturgut im Konfliktfall sowie spontan in Form von Hilfestellung bei Notfällen. Im Ukraine-Konflikt engagieren sich beispielsweise Mitglieder von Blue Shield bei der Unterstützung des für Materiallieferungen (Verpackungs- und Schutzmaterialien, Brandmeldeanlagen, IT-Infrastruktur) zuständigen Ukraine-Netzwerkes. Die Mitgliedschaft von Fachpersonen erfolgt bei Interesse an dem beschriebenen ehrenamtlichen Engagement auf Eigenantrag. Für das Bibliothekswesen lässt sich festhalten, dass das ehrenamtliche Engagement seitens der Kolleg*innen aus dem Bereich der Bestandserhaltung und der Betreuung historischer Sammlungen noch gesteigert werden könnte. Blue Shield Deutschland muss offensichtlich aufgrund seines jungen Alters erst noch im Bewusstsein der Fachleute ankommen.

Einige praktische Tätigkeiten mögen leichter erläutern, was Blue Shield konkret in einem Land in der Mitte Europas macht, das in den vergangenen Jahrzehnten keinen aktiven militärischen Konflikt im eigenen Territorialbereich aufwies. So konnte sich Blue Shield, in der Folge des Hochwassers am 13.-15. Juli 2021 in Nordrhein-Westphalen und Reinland-Pfalz, bei der Bergung der städtischen Museumssammlung Bad Neuenahr-Ahrweiler in der Bergungskoordination sowie beim Aufbau des Erstversorgungszentrums für die geborgenen Stücke engagieren. Ebenso konnte das vereinsgeführte Museum „Haus der Schützen“ durch Spendenmittel bei der fachgerechten Bergung von historischen Fahnen unterstützt werden. Für das Wahljahr 2021 wurden Wahlprüfsteine für die Themen (1.) Kulturgutschutz als Teil des Bevölkerungsschutzes, (2.) militärischer Kulturgutschutz und (3.) auswärtige Politik sowie illegaler Handel mit Kulturgut entwickelt. Als ein aktuelles Thema hat Blue Shield Deutschland 2021 in Kooperation mit dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), dem SicherheitsLeitfaden Kulturgut (SiLK) und der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina eine Umfrage zur Notfallvorsorge für Kulturgüter unter den Notfallverbünden durchgeführt (Ergebnispublikation soll 2022 erfolgen). Als Impuls für die Notfallvorsorge wurde der ICCROM- und UNESCO-Leitfaden Gefährdetes Erbe: Notfallevakuierung von Sammlungen4 durch Blue-Shield-Mitglieder ins Deutsche übersetzt. Neu entwickelt wurde das vom 30. Juni bis
1. Juli 2022 in Kooperation mit dem Historischen Archiv Köln und dem Institut für Restaurierungs- und Konservierungswissenschaft der TH Köln erstmalig durchgeführte Seminar Kulturgutschutz: der Notfall! Und nun?5 Das Seminar soll auch zukünftig einen festen Teil des jährlichen Veranstaltungsprogramms bilden. Angedacht für eine Förderung durch das Auswärtige Amt ist derzeit eine Kooperation mit den afrikanischen Nationalkomitees von Blue Shield in Mali, Senegal und Kamerun sowie den nationalen Korrespondenten in Niger und Mozambique.6 Ein erstes Ergebnis dieses Projekts ist die Informationsschrift Protecting Heritage in Crisis. Blue Shield in Africa.7 Ziel des Projektes ist die Stärkung der Nationalkomitees der westafrikanischen Länder, was angesichts der in der Region vorhandenen aktiven bewaffneten Konflikte und terroristischen, aktiv Kulturgut zerstörenden Vereinigungen sehr relevant ist. Im Verlauf des Projektes soll insbesondere die regionale und internationale Vernetzungsarbeit der afrikanischen Komitees und Nationale-Blue-Shield-Komitee-Gründungsinitiativen unterstützt und angeregt werden.

Blue Shield Deutschland im Ukraine-Krieg

Bedauerlicherweise hatte sich in der Ukraine vor dem Kriegsgeschehen ab dem 24. Februar 2022 noch kein Blue Shield Nationalkomitee entwickelt, trotz erster Kontakte und Bemühungen auf ukrainischer Seite. Das hätte wohlmöglich helfen können, die problematische Informationslage um die Zerstörung von Kulturgütern zu beheben. Einer Statistik von Blue Shield Deutschland gemäß sind derzeit (Stand: 08.07.2022) 13 von 24 Regionen der Ukraine von der Zerstörung von Kulturgut betroffen.8 Im baukulturellen Erbe wurden zum jetzigen Zeitpunkt nachweisbar mehr als 130 Sakralbauten in Kriegshandlungen beschädigt oder zerstört, 80 repräsentative und öffentliche Gebäude, über 40 überregional bedeutende historische Wohngebäude sowie über 50 Gedenkstätten. Zu mehr als dreißig Bibliotheken liegen Schadensmeldungen vor,9 Museen und Archive scheint es etwas weniger stark getroffen zu haben. Eine besondere Herausforderung der Statistik sind kleinere Museen und Bibliotheken, die in historischen Gebäuden mit Mehrzweckfunktionen (Gemeindehäuser etc.) bestehen. Sie werden häufig in der Statistik nicht berücksichtigt, während die historischen Gebäude, in denen sie untergebracht sind, statistisch erfasst werden und in der Statistik nur auftauchen, insofern die Beschädigung des Gebäudes genannt wurde.

Allerdings kann diese Statistik nur im Ansatz das Ausmaß der Zerstörung zeigen. Sie beruht auf einem Monitoring von Blue Shield Deutschland, das zum 1. März 2022 begonnen wurde, und unterschiedliche Quellen zur Schadenserhebung befragt. Neben Meldungen der Medien werden Datenpools genutzt, die zum Teil auf Crowdsourcing beruhen, aber auch die Schadensmeldungen des ukrainischen Ministeriums für Kultur und Informationspolitik sowie Kontakte zu Akteur*innen im Kontext ukrainischer Netzwerke. Dennoch müssen diese Daten zwangsläufig unvollständig bleiben. Valentyna Iaroshchuk von der Rivne Regional Universal Scientific Library hatte in ihrem Vortrag im Rahmen der öffentlichen Arbeitssitzung der AG Regionalbibliotheken am 1. Juni 2022 von einer dreistelligen Zahl zerstörter oder beschädigter Bibliotheken gesprochen.

Zeitgleich hat das Kriegsgesehen nachweislich einen erhöhten Bedarf in den Kulturgut betreuenden Einrichtungen gezeitigt. Neben zunehmenden Verpackungsanstrengungen und den damit einhergehenden Materialbedarfen besteht ein erheblicher technischer Bedarf: Rechner, Scanner, Speicherplatz oder Drohnen für die Digitalisierung von baulichem Kulturerbe. Ein Spezialfall dieses technischen Bedarfs sind mobile Einbruch- und Brandmeldeanlagen, für die Blue Shield Deutschland die Spendenakquise übernommen hat. Sie werden im Kontext der Ukraine-internen Verlagerungen von Kulturgütern oder der Sicherung in Kriegsgebieten eingesetzt, um zu Magazinräume umfunktionierte Lagerflächen im Sinne des Bestandsschutzes auf- bzw. nachzurüsten. Zwei mobile Brandmeldeanlagen, ausgestattet mit Rauchmeldern, wurden bereits beschafft und auf den Weg in die Ukraine gebracht.

Einerseits der Bedarf an Materialien und die offensichtliche Not in den Kriegsgebieten, andererseits das Bedürfnis, zu unterstützen und mehr zu helfen, haben zu einer großen Anzahl von Initiativen weltweit geführt. Die wohl bekannteste Initiative ist das SUCHO-Projekt, bei dem das digitale kulturelle Erbe der Ukraine durch Abzug und Sammlung der Daten und digitalen Inhalte gesichert werden soll. Inzwischen beteiligen sich an diesem Projekt über 1.300 „cultural heritage professionals – librarians, archivists, researchers, programmers“11. Mit Stand 11. Juli 2022 hat das Projekt über 50 TB gescannte Dokumente per Datenabzug sowie Inhalte von mehr als 5.000 ukrainischen Websites aus dem musealen, bibliothekarischen und archivalischen Kontext sichern können. Neben einer Vielzahl von Initiativen hat auch das deutsche Bibliothekswesen diverse Angebote aufbauen können: Die Nationalbibliothek bietet vier Stipendien für Bibliotheksmitarbeiter*innen aus der Ukraine an und hat diese bereits vergeben, die Stiftung Preußischer Kulturbesitz hat insgesamt 20 Stipendien für Wissenschaftler*innen und Bibliothekar*innen bereitgestellt.12 Das Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der HU Berlin hat zusammen mit dem Berufsverband Bibliothek und Information e. V. und der Stadtbibliothek Pankow Berlin den Online-Kurs „Ankommen in der Bibliotheksarbeit in Deutschland“ eingerichtet, der am 12. September 2022 startet. Im ukrainischen Bibliothekswesen ist insbesondere die Einstellung der Gehaltszahlungen in den Konfliktgebieten ein Problem sozialer Not. Der ukrainische Bibliotheksverband und die Wohltätigkeitsstiftung Library Country haben aus diesem Grund einen Fonds eingerichtet und sammeln Spenden. Das Goethe-Institut hat zusammen mit der Kulturstiftung des Bundes einen Ukraine-Hilfsfonds in Form von Stipendien zur Unterstützung von Partnern und Kulturschaffenden im Exil und vor Ort in Höhe von 500.000 Euro aufgelegt. Weitere Initiativen bestehen in allen Sparten des Sammlungswesens.13 Blue Shield Deutschland hatte bereits in den ersten Wochen des Krieges über die Vereinigung MitOst e.V. Kontakt zu Netzwerken in der Ukraine erhalten, bei denen insbesondere private Archive von Künstler*innen verlagert und gesichert wurden. In einem Schreiben an die deutsche Außenministerin hat Blue Shield auf die Notwendigkeit ines stärkeren Kulturgutschutzes in den diplomatischen Bemühungen hingewiesen. Ebenso haben Mitglieder von Blue Shield bei einer umfangreichen Berichtserstattung der Kulturgutgefährdung durch Presseinterviews mitgewirkt. Die bereits erwähnte AG Monitoring von Blue Shield hat darüber hinaus zusammen mit dem Open Science LAB der Technischen Informationsbibliothek überlegt, wie ukrainische Professionals bei der automatisierten Datensichtung und Aufbereitung im Kontext frei zugänglicher Datenbestände (Wikidata etc.) eingesetzt werden können, um das Monitoring der Schäden automatisiert durchführen zu können. Ziel des Projektgedankens wäre die Entwicklung eines Prototyps zur Sicherung, Kartierung und Bündelung historischer Schäden auf Grundlage verschiedener offener Datenbestände. Die Ukraine weist ein technisch hoch entwickeltes Sammlungswesen mit weitreichenden relevanten, automatisiert auswertbaren Datenbeständen auf. Aus diesem Grund wäre eine derartige technische Dateninitiative erstmalig in einem Kriegsgeschehen im Kontext der Dokumentation der Kulturgutzerstörung umsetzbar. Blue Shield und Open Science Lab haben einen diesbezüglichen Antrag formuliert und ihn verschiedenen Stiftungen und Förderern zur Prüfung vorgelegt.

Aufgrund der Vielfalt der Initiativen, bei denen viele Kulturinstitutionen ihr jeweiliges Netzwerk nutzten, um ukrainische Kolleg*innen in ihren Bemühungen um die Sicherung bedrohter Kulturgüter zu unterstützen, hat die Beauftrage der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) ins Zusammenwirken mit dem Auswärtigen Amt das Netzwerk Kulturgutschutz Ukraine aufgebaut, das die verschiedenen Sammlungsverbände, bedeutende Institutionen des Sammlungswesens und der Forschung aus Deutschland zu einem regelmäßigen Austausch zusammenführt, um die Hilfsbedarfe und -angebote zu sammeln und zu koordinieren. Teilnehmende des Netzwerks sind Vertreter*innen von ICOM, der deutschen UNESCO-Kommission, Blue Shield, dem Deutschen Archäologischen Institut (DAI), den KulturGutRettern, dem deutschen Nationalkomitee von ICOMOS, der Kulturstiftung der Länder, SiLK, dem Verband deutscher Archivarinnen und Archivare e.V., dem Bundesarchiv, der Deutschen Nationalbibliothek, der Staatsbibliothek zu Berlin sowie der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, des dbv, des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste, der Deutschen Gesellschaft für Kulturgutschutz e.V., der Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts (KEK) und einigen weiteren Institutionen. Organisatorisch übernimmt die Funktion der Spitze dieses Netzwerkes ICOM Deutschland, auch als Schaltstelle der Sparte Museum. Für die Bibliotheken hat diese Aufgabe die Deutsche Nationalbibliothek in enger Zusammenarbeit mit der Staatsbibliothek zu Berlin und der KEK übernommen. Dabei werden Hilfegesuche ukrainischer Kultureinrichtungen gebündelt bearbeitet. Mit Stand 11. Juli 2022 werden beispielsweise im Bibliothekswesen internetfähige gebrauchte PCs und Laptops sowie für die Nationalbibliothek der Ukraine in Kiew dringend benötigte gebrauchte Digitalisierungstechnik gesucht.14 Zeitgleich wird eine Materialliste geführt. Das Einsammeln von etwaigen Sachspenden erfolgt über dezentrale Sammelstellen, derzeit in Berlin, Dresden, Halle/Saale, Köln, München und Stuttgart, organisiert von den Notfallverbünden.15 Geldspenden für Materialankäufe werden von Blue Shield Deutschland entgegengenommen. Das hat einen einfachen Grund: Der Verein ist nicht in jenem Maße an das Vergaberecht gebunden wie die am Netzwerk beteiligten Einrichtungen des öffentlichen Dienstes und ermöglicht damit, bei allen Geboten der Spar- und Wirtschaftlichkeit, einen schnelleren und flexibleren Abfluss der Mittel.

Erste Lehren aus der Kriegskatastrophe

Der Krieg in der Ukraine ist eine riesige humanitäre Katastrophe. Zudem wird auf Ebene des Kulturguts die kulturelle Identität und Vielfalt nicht nur bedroht, sondern in vielen Fällen im Kriegsgeschehen vernichtet. Gleichwohl lassen sich aus dem Geschehen schon jetzt – neben verwaltungstechnischen Hürden – einige Lehren für den Kulturgutschutz und das Bibliothekswesen ziehen.

Zum einen verdeutlicht der Konflikt die herausragende Bedeutung von präventiven Maßnahmen der Schutzverpackung und Bestandssicherung. Auch beweist der Konflikt die Notwendigkeit der Digitalisierung, um im schlimmsten Katastrophenfall zumindest eine Sekundärform vorliegen zu haben. Die Beweglichkeit der ukrainischen Kolleg*innen, dies auch mit gebrauchter Technik organisatorisch und arbeitstechnisch umsetzen zu können, ist beeindruckend. Eine Lehre sollte es zugleich sein, die Schnittstellen zu den Daten leichter zugänglich zu halten. Hier bedienen Bibliotheken zwar häufig Standardschnittstellen, haben aber keine Dokumentation hierzu auf ihrer Homepage veröffentlicht.

Noch inmitten der Diskussion ist die Frage der Kennzeichnung des Kulturguts mit dem blauen Schild. Hier gibt es unterschiedliche Forderungen, von der Kennzeichnung aller relevanten Güter oder aber des bewussten Verzichts dieser Maßnahme, um möglichen Aggressoren nicht die Ziele zur Zerstörung kultureller Identität auszuweisen. Von Gewicht ist dabei die Erkenntnis, dass Kulturgutzerstörungen gemäß der Haager Konvention in anderen militärischen Konflikten bereits strafbar gemacht werden konnten. Ebenso relevant ist bei der Diskussion die Haltung einiger Länder, die blauen Schilder als Kennzeichnung zwar auszugeben, aber nur im Falle eines militärischen Konflikts anzubringen, sofern sichergestellt ist, keinen Konflikt vorliegen zu haben, der sich bewusster Identitätszerstörung als Waffe bedient. Die Arbeitsgruppe Zivile Verteidigung von Blue Shield befasst sich derzeit noch mit dieser Diskussion.

Der Konflikt zeigt aber auch die Hürde und die Sicherheit der rechtlichen und ethischen Situation des Kulturgutschutzes. Zum jetzigen Zeitpunkt liegt kein Hilfegesuch des ukrainischen Staates zur Ausfuhr von Kulturgütern vor, deren rechtliche Auflagen auch keine schnelle Lösung erwarten ließe, und angesichts des beeindruckenden Engagements des mit historischem Kulturgut betrauten Personals können selbst unter widrigsten Bedingungen Kulturgüter gesichert, dokumentiert und schutzverpackt werden. Zugleich gelingt den ukrainischen Kolleg*innen eine beeindruckende Öffentlichkeitsarbeit. Bei diesem Engagement in widrigsten Zeiten kann man sich nur beeindruckt vor den Kolleg*innen in der Ukraine verneigen.

Matthias Wehry, Vertreter des Deutschen Bibliotheksverbandes e.V. (dbv) im Vorstand von Blue Shield Deutschland, Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek – Niedersächsische Landesbibliothek (GWLB), Hannover

Zitierfähiger Link (DOI): https://doi.org/10.5282/o-bib/5870

Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 4.0 International.

1 Dieses und die beiden nachfolgenden Zitate: Knoche, Michael: Die Zerstörung der Nationalbibliothek in Sarajevo als Menetekel für die Ukraine. SUCHO versucht die kulturelle Überlieferung online zu sichern, Aus der Forschungsbibliothek Krekelborn, 21.03.2022, <https://biblio.hypotheses.org/3185>, Stand: 08.07. 2022.

2 Vgl. hierzu: Deutsches Nationalkomitee von Blue Shield: Blue Shield international, Blue Shield Deutschland, <https://www.blue-shield.de/blue-shield-international/>, Stand: 11.07.2022.

3 Deutsches Nationalkomitee von Blue Shield: Blue Shield, Blue Shield Deutschland <https://www.blue-shield.de/>, Stand: 11.07.2022.

4 Zugänglich unter: UNSECO; ICCROM; Deutsches Nationalkomitee Blue Shield e.V.: Gefährdetes Erbe. Notfallevakuierung von Sammlungen, Berlin 2021. Online: <https://unesdoc.unesco.org/ark:/48223/pf0000380324>, Stand: 11.07.2022.

5 Ziel des Seminars ist es, die Teilnehmer*innen theoretisch und praktisch in den Bereich der Notfallvorsorge einzuführen.

6 S. hierzu ausführlich: Jahresbericht 2021 des Deutschen Nationalkomitees Blue Shield e.V., Berlin 2022, S. 8–10. Online: <https://7866caa66f.clvaw-cdnwnd.com/520e9d0d215ba0936994e12aa7f7ecaf/200000194-1b3a81b3ab/2022_BerichtPub_ger-3.pdf?ph=7866caa66f>, Stand: 11.07.2022.

7 Zugänglich unter: Deutsches Nationalkomitee Blue Shield e.V.: Protecting Heritage in Crisis. Blue Shield in Africa, Berlin 2021, <https://7866caa66f.clvaw-cdnwnd.com/520e9d0d215ba0936994e12aa7f7ecaf/200000185-771a0771a2/ePaper_Brosch%C3%BCre-BS_Seiten-A4-2021.pdf?ph=7866caa66f>, Stand: 11.07.2022.

8 S. hierzu: Deutsches Nationalkomitee Blue Shield e.V.: Ukraine Monitor. Monitoring-Initiative zur Dokumentation und Bewertung von Schäden an Kulturgut in der Ukraine, Blue Shield Deutschland, 08.07.2022 <https://www.blue-shield.de/ukraine-monitor/>, Stand: 11.07.2022.

9 Mit Stand 28.08.2022 liegen weitere Zahlen hierzu vor bei der UNESCO. Vgl. hierzu: Damaged cultural sites in Ukraine verified by UNESCO, UNESCO, 28.08.2022, <https://www.unesco.org/en/articles/damaged-cultural-sites-ukraine-verified-unesco?hub=66116>, Stand: 28.08.2022.

10 Vgl. Deutsches Nationalkomitee Blue Shield e.V.: Ukraine Monitor, 2022 <https://www.blue-shield.de/ukraine-monitor/>, Stand: 11.07.2022.

11 Saving Ukrainian Cultural Heritage Online, SUCHO, <https://www.sucho.org/>, Stand: 11.07.2022.

12 Vgl. hierzu: Deutscher Bibliotheksverband e.V. (dbv): Ukraine, dbv, 2022, <https://www.bibliotheksverband.de/ukraine>, Stand: 11.07.2022.

13 Eine sehr gute Übersicht für das Bibliothekswesen, aber auch darüber hinaus, gibt der dbv ebd.

14 Vgl. hierzu: Deutsche Nationalbibliothek: Wir für die Ukraine, <https://www.dnb.de/DE/Ueber-uns/Ukraine/ukraine_node.html>, Stand 11.07.2022

15 Informationen zu den Sammelstellen unter: Notfallverbünde in Deutschland, <http://notfallverbund.de/>, Stand: 11.07.2022.