Begegnungen schaffen – aber wie? Bibliotheken als gesellschaftliche Begegnungs- und Kooperationsorte

Bericht zur Podiumsdiskussion und zum Hands-On Lab auf dem 8. Bibliothekskongress in Leipzig

Wie können Bibliotheken dazu beitragen, die Demokratie zu stärken? Wie kann es gelingen, sie zu Orten des Zusammentreffens zu machen, an denen Menschen mit verschiedenen Wertfundamenten in den Austausch kommen? Und wie können Bibliotheken zu diesem Zweck auch Menschen erreichen, die von ihrem Angebot bislang nicht angesprochen werden? Diese Fragen wurden auf dem 8. Bibliothekskongress in Leipzig diskutiert. Als gemeinsame Veranstaltungen der Zentral- und Landesbibliothek Berlin und der Organisation More in Common fanden am 1. Juni 2022 eine Podiumsdiskussion und ein Hands-on Lab zum Thema Bibliotheken als gesellschaftliche Begegnungs- und Kooperationsorte statt.

Begegnung und gesellschaftlicher Zusammenhalt

More in Common ist eine Organisation, die sich der Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts verpflichtet hat. Ein zentrales Thema ist dabei Begegnung gerade zwischen Menschen, die verschiedene Werte und Überzeugungen haben. Begegnung, die „gelingt“ und gesellschaftliche Trennlinien überwindet, kann dazu beitragen, dass Menschen andere Perspektiven verstehen, Vorurteile abbauen und Vertrauen aufbauen. Dies sind Grundbedingungen für das Gelingen des gesellschaftlichen Miteinanders, das in den letzten Jahren zunehmend gelitten hat. Schon vor der Corona-Pandemie war die Gesellschaft in Deutschland diesbezüglich nicht im besten Zustand. Viele Menschen hatten den Eindruck, dass das politische System seinen Aufgaben nicht mehr voll nachkommt und dass politische Akteure die wichtigen Probleme im Land nicht angehen. Zudem wurde auf der zwischenmenschlichen Ebene wachsender Egoismus konstatiert.1 Die Pandemie hat bestehende Gräben noch vertieft. Viele Menschen in Deutschland empfinden die Gesellschaft selbst als gespalten, den Ton der öffentlichen Debatte erleben sie als hasserfüllt und sie ziehen sich in der Folge zunehmend in ihr persönliches Umfeld zurück.2

Um diese Dynamiken aufzubrechen, braucht es neue Ansätze und Akteur*innen. Auf dem Bibliothekskongress hat More in Common aktuelle Daten zur Nutzung öffentlicher Orte und deren Potenzial für Begegnung präsentiert. Im Fokus stand die Frage, wo und wie Menschen mit verschiedenen Werten und Überzeugungen erreicht und in den Austausch miteinander gebracht werden können. Zentral war hierbei die Überlegung, welche Rolle Bibliotheken in diesem Zusammenhang einnehmen und wie sie noch stärker zu Orten der Gemeinschaft werden können. Grundlage für die Forschung waren sechs von More in Common identifizierte Bevölkerungssegmente, die sich jeweils unterschiedlich in der Gesellschaft positionieren.

Die sechs gesellschaftlichen Typen

In der 2019 veröffentlichten Studie „Die andere deutsche Teilung“ hat More in Common anhand eines sozialpsychologischen Forschungsansatzes die folgenden sechs gesellschaftlichen Typen3 innerhalb der Bevölkerung identifiziert, die aufgrund ihrer Werte und Grundüberzeugungen jeweils eine eigene charakteristische Sichtweise auf Gesellschaft haben: Den Offenen (16 Prozent) sind Selbstentfaltung, Weltoffenheit und kritisches Denken besonders wichtig. Die Involvierten (17 Prozent) legen Wert auf Bürgersinn, Miteinander und die Verteidigung von Errungenschaften. Die Etablierten (17 Prozent) zeichnen sich durch Zufriedenheit aus, zentral für sie sind Verlässlichkeit und gesellschaftlicher Frieden. Die Pragmatischen (16 Prozent) legen ihren Fokus auf Erfolg und privates Fortkommen, ihnen geht Kontrolle vor Vertrauen. Die Enttäuschten (14 Prozent) beklagen (verlorene) Gemeinschaft und (fehlende) Wertschätzung, ihnen liegt das Thema Gerechtigkeit besonders am Herzen. Die Wütenden (19 Prozent) setzen sich ein für nationale Ordnung, charakteristisch für sie ist Systemschelte und Misstrauen.

Aus der Dynamik dieser verschiedenen gesellschaftlichen Typen untereinander ergab sich darüber hinaus der Kernbefund einer derzeitigen Dreiteilung der Gesellschaft, die quer zu bis dato diskutierten Trennlinien in der Bevölkerung verläuft:

1. Die gesellschaftlichen Stabilisatoren, bestehend aus den Etablierten und den Involvierten (insgesamt 34 Prozent). Sie zeichnen sich insbesondere durch große Zufriedenheit, starke gesellschaftliche Einbindung und stabile Vertrauensbezüge aus.

2. Die gesellschaftlichen Pole, bestehend aus den Offenen und den Wütenden (insgesamt 35 Prozent). Sie bilden die Extreme des gesellschaftlichen Diskurses und sind mit ihren Positionen öffentlich überdurchschnittlich präsent.

3. Das unsichtbare Drittel, bestehend aus den Enttäuschten und den Pragmatischen (insgesamt 30 Pro­zent). Sie sind sowohl menschlich als auch politisch wesentlich schlechter eingebunden und legen ein hohes Maß an gesellschaftlicher Desorientierung an den Tag. Auf diese Weise fliegen sie „unter dem Radar“ der öffentlichen Aufmerksamkeit. In ihren Reihen finden sich viele Jüngere und auch Menschen mit Migrationshintergrund.

Bibliotheken als Begegnungsort

Aus der Forschung von More in Common geht hervor, dass alle genannten gesellschaftlichen Typen Bibliotheken nutzen – allerdings in unterschiedlichem Ausmaß. Es sind gerade die jüngeren Bevölkerungsgruppen der Offenen und Pragmatischen, häufig noch in Ausbildungsbezügen, die Bibliotheken überdurchschnittlich häufig nutzen. Auch die Involvierten, die gut in die Gesellschaft eingebunden sind und sich für sie engagieren, sind regelmäßige Bibliotheksbesucher*innen. Deutlich unterdurchschnittlich werden Bibliotheken hingegen von den Enttäuschten und Wütenden genutzt. Die Enttäuschten sind generell schwach in die Gesellschaft und ihre Institutionen integriert, sie bewegen sich überwiegend im engen privaten Umfeld. Die Wütenden stehen „dem System“ sehr kritisch gegenüber und wenden sich in der Folge auch häufig von öffentlichen Einrichtungen ab, die zu diesem System gehören.

Trotz dieser Unterschiede im Nutzungsverhalten von Bibliotheken machen die Daten aber auch deutlich: Bibliotheken sind ein öffentlicher Ort, der das Potenzial hat, viele verschiedene Menschen zu erreichen. Bibliotheken sind breit in der Fläche aufgestellt, sie haben niedrige Zugangshürden und werden von den meisten Menschen als neutrale Institutionen wahrgenommen. Hier bieten sich viele Möglichkeiten, Begegnung zwischen Menschen gewinnbringend zu gestalten: Zwischen Menschen, die bereits Bibliotheken nutzen, oder indem mit neuen Angeboten auch andere Zielgruppen erreicht werden. Entscheidend ist dabei die Art der Ansprache. Wie auf dem Bibliothekskongress präsentiert, sind Menschen sehr unterschiedlich für zivilgesellschaftliche Angebote im Allgemeinen empfänglich. Gerade das unsichtbare Drittel, also Menschen, die generell schlechter in die Gesellschaft eingebunden sind, fühlen sich beispielsweise besonders unwohl und unsicher unter neuen Personen. Sie interessieren sich auch weniger für gesellschaftspolitische Themen, ihr Fokus liegt auf persönlichen Hobbies und Interessen. Will man diese Menschen erreichen, müssen Inhalte, Begegnungsformate und Kommunikationsformen besonders sorgsam gewählt werden.4

Viele erfolgversprechende Ansätze

Beispiele, wie dies gelingen kann, wurden sowohl im Rahmen der Podiumsdiskussion zum Thema als auch beim Hands-On Lab ausgetauscht. Auf dem Podium diskutierten Robert Löffler, Leiter der Landeszentrale für politische Bildung Sachsen, Beate Meinck, Bibliotheksleiterin der Stadtbibliothek Reutlingen, Robert Langer, Leiter der Landesfachstelle für Bibliotheken in Sachsen und Laura-Kristine Krause, Geschäftsführerin von More in Common; moderiert wurde die Veranstaltung von Volker Heller, Vorstand und Generaldirektor der Stiftung Zentral- und Landesbibliothek Berlin sowie Bundesvorsitzender des Deutschen Bibliotheksverbandes.

Deutlich wurde, wie schwierig es sein kann Menschen zu erreichen, die bislang noch kaum mit Bibliotheken in Berührung gekommen sind. Hier muss zunächst einmal generelles Interesse geweckt werden, an das angeknüpft werden kann. Zusätzliche Herausforderungen stellen sich in diesem Zusammenhang im ländlichen Raum, da neue Ideen und Formate nur im Einklang mit den kommunalen Trägern umgesetzt werden können. Zudem sind Bibliotheken gerade im ländlichen Raum häufig mit wenigen Ressourcen ausgestattet. Begegnung zu fördern und so über die eigentliche Bibliotheks­arbeit hinauszugehen kann hier nur bedingt geleistet werden.

Aber es wurden sowohl auf dem Podium als auch in vielen Publikumsbeiträgen Ansätze identifiziert, wie es gelingen kann, Bibliotheken verstärkt zu „sozialen Orten“ zu machen. Beispielsweise kann es hilfreich sein, den Fokus nicht explizit auf Begegnung und politische Bildung zu legen, sondern eine gewisse Offenheit mitzubringen „wohin die Reise geht“. Bei Angeboten zu persönlichen Hobbies, wie etwa Gärtnerei und Saatgut, können sich Begegnungen eher beiläufig ergeben, die dann langfristige Wirkung erzielen. Zudem kann es hilfreich sein, Kooperationen einzugehen – sei es bei der Bereitstellung von Flächen in der Bibliothek oder gemeinsamer Formatentwicklung. Dabei ist es jedoch entscheidend, je nach Zielsetzung Partnerinnen und Partner zu finden, die auch tatsächlich andere Menschen „außerhalb der Blase“ erreichen, die also andere Netzwerke und Kompetenzen als die Bibliotheken einbringen. Es wurde betont, dass es für gelingende Begegnung aber auch sinnvoll sein kann, mit den Menschen zu arbeiten, die Bibliotheken ohnehin bereits nutzen. Hier kann man etwa über Formate nachdenken, die diesen Menschen einen Perspektivwechsel anbieten und ihnen so die Sichtweise anderer nahebringen.

Tatortabende in der Bibliothek – Ideenentwicklung im Hands-On Lab

Im vollbesetzten Hands-On Lab zu Bibliotheken als gesellschaftliche Kooperationsorte – moderiert von Sarah Wohlfeld, Senior Projektmanagerin bei More in Common, und Kim Farah Giuliani, Vorstandsreferentin in der Zentral- und Landesbibliothek Berlin – wurde noch einmal deutlich, wie viel im Bereich Begegnung in Bibliotheken in ganz Deutschland bereits passiert und wie viele Ideen schon umgesetzt werden. In einer interaktiven Übung in Kleingruppen wurden dann gemeinsam die Fragen beantwortet, wer bereits mit der Bibliotheksarbeit erreicht wird und wen die Teilnehmenden gerne darüber hinaus erreichen würden und warum. Grundlage waren hier die sechs von More in Common identifizierten Bevölkerungssegmente. Je nach Bibliotheksart und Ort wurde die Reichweite der Angebote sehr unterschiedlich eingeschätzt. Besonders groß war jedoch der Wunsch einen Weg zu finden, verstärkt das unsichtbare Drittel und gegebenenfalls auch die Wütenden zu erreichen und für Begegnungsformate zu gewinnen.

Wiederum in Kleingruppen wurden erste Ideen entwickelt, was Bibliotheken verändern können (in Hinblick auf Kommunikation, Inhalte und Formate) um andere Bevölkerungsgruppen als bislang einzubinden. Die zentrale Frage war, welche Angebote Begegnung fördern könnten – sei es mit neuen Zielgruppen oder mit Menschen, die Bibliotheken bereits nutzen; es sollte dabei explizit frei gedacht werden. Entsprechend divers waren erste Ideen, die gesammelt und aus den bereits gesammelten Erfahrungen geteilt wurden: Eine andere Gestaltung des Eingangsbereich, Formate an neuen Orten wie Drogeriemärkten, Angebote zu verbindenden Themen wie Verbraucherinformationen, die Möglichkeit der Ausleihe nicht nur von Büchern, sondern auch von Dingen des täglichen Gebrauchs (z.B. Werkzeuge) und ein Tatortabend mit einem Glas Wein und begleitender Kommentierung durch Polizeipersonal waren nur einige Vorschläge, die diskutiert wurden.

Aufgabe für die Zukunft

Das gemeinsame Nachdenken zum Thema Bibliotheken als Begegnungsort hat gezeigt, wieviel Potenzial es hier gibt, wieviel Begegnung schon jetzt täglich stattfindet und wie viele inspirierende Ideen es für die Zukunft gibt. Bibliotheken sind ein Ort, an dem bereits viele verschiedene Menschen aufeinandertreffen. Sie haben ideale Ausgangsbedingungen, um noch mehr Menschen zu erreichen, gesellschaftliche Aushandlungsprozesse zu ermöglichen und den Austausch von Perspektiven zu moderieren. Bibliotheken als Orte der Begegnung weiter zu gestalten und einen Beitrag zur Stärkung der Demokratie zu leisten kann eine spannende Aufgabe für die Zukunft sein.

Sarah Wohlfeld, More in Common Deutschland, Berlin

Zitierfähiger Link (DOI): https://doi.org/10.5282/o-bib/5839

Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 4.0 International.

1 Vgl. Krause, Laura-Kristine; Gagné, Jérémie: Die andere deutsche Teilung. Zustand und Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft, More in Common, 2019, <https://www.dieandereteilung.de/media/nthptlnv/moreincommon_dieandereteilung_studie_v1-0-2.pdf>, Stand: 01.08.2022.

2 Vgl. o.A.: Navigieren im Ungewissen: Impulse zur Zukunft der Gesellschaft. #1 Was macht die Pandemie mit dem gesellschaftlichen Zusammenhalt?, More in Common, 2022, <https://www.moreincommon.de/media/loceahag/moreincommon_navigierenimungewissen_1.pdf>, Stand: 01.08.2022.

3 Nähere Informationen zu den gesellschaftlichen Typen und der dahinterstehenden Forschungsmethode sind unter folgender Webseite abrufbar: <https://www.dieandereteilung.de/>.

4 Vgl. Wohlfeld, Sarah; Krause, Laura-Kristine: Begegnung und Zusammenhalt. Wo und wie Zivilgesellschaft wirken kann, More in Common, 2021, <https://www.moreincommon.de/media/0vbnyicu/begegnung_und_zusammenhalt_moreincommon_orte.pdf>, Stand: 01.08.2022.