Informationsethik und Bibliotheksethik : Grundlagen und Praxis / Hermann Rösch. – Berlin, Boston: De Gruyter Saur, 2021. – XV, 584 Seiten. – (Bibliotheks- und Informationspraxis ; Band 68). – ISBN 978-3-11-051959-4 : EUR 69.95

Mit „Informationsethik und Bibliotheksethik“ legt Hermann Rösch eine umfassende Monografie vor, die das Thema Bibliotheksethik in den weiteren Kontext der Informationsethik und der allgemeinen Ethik einbettet. Der Autor war von 1997 bis 2019 Professor für Informationsdienstleistungen und Informationsmittel an der Technischen Hochschule Köln. Er hat sich bereits in zahlreichen Publikationen mit Fragen vor allem der Bibliotheksethik beschäftigt; mit dem vorliegenden Werk liegt nun quasi die Zusammenfassung und Systematisierung all dessen vor, was bislang verstreut publiziert wurde.

Was hat nun Ethik „in der Bibliothek zu suchen“? Sie soll einen Orientierungs- und Reflexionsrahmen geben, in dem Entscheidungen getroffen werden. Das Buch enthält eine Vielzahl von Fragen aus der Berufspraxis, die sich nicht – oder nur vermeintlich – eindeutig oder gar mit rechtlichen Regelungen beantworten lassen. Dies reicht von der Frage, ob Bibliotheken Filtersoftware auf ihren öffentlich zugänglichen Rechnern einsetzen sollen bis hin zu den großen Fragen der Informationsethik wie dem gerechten Zugang zu Informationen für alle Menschen.

Inhalt und Gliederung

Das Werk gliedert sich in die drei Teile „Ethik“ (ca. 50 Seiten), „Informationsethik“ (ca. 175 Seiten) und „Bibliotheksethik“ (ca. 260 Seiten). Mit dieser Gewichtung ist der Schwerpunkt des Werks schon gesetzt: Es geht vor allem um die Bibliotheksethik, die der Autor als Teilmenge der Informationsethik betrachtet, aus dieser herleitet und sehr ausführlich behandelt.

Der erste Teil des Buchs gibt eine allgemeine Einführung in die Funktion, die Aufgaben und die Bedeutung der Ethik, stellt sie in den Kontext der Moral und des Rechts, und führt grundlegend in ethische Theorien ein.

Im zweiten Teil wird dann die Informationsethik als angewandte Ethik genauer dargestellt und anhand der Themenfelder Freiheit, Gerechtigkeit, Privatheit, geistiges Eigentum und Open Access, Qualität und Ökologie ausgeführt. Neben den grundlegenden Erläuterungen zu diesen Gebieten wird dann besonders auf „informationsethisch sensible Techniken, Strategien und soziale Phänomene der digitalen Gesellschaft“ (so der Titel des entsprechenden Abschnitts) eingegangen. Darunter finden sich Suchmaschinen, Soziale Netzwerke, Personalisierung, Big Data, Algorithmen und künstliche Intelligenz sowie Cyberkriminalität. An dieser Aufzählung wird schon die Breite der behandelten Themen und Anwendungsfälle sichtbar.

Der dritte Teil diskutiert, ausgehend von einer Einbettung der Bibliotheksethik in die Informationsethik, ethische Fragestellungen in Bezug auf die bibliothekarischen Handlungsfelder: Auswahl, Erwerbung (Bestandsmanagement), Lizenzierung; Erschließung; Überlieferung; Benutzung; Informationsvermittlung, Vermittlung von Informationskompetenz und weitere Dienstleistungen; Management und Personal. Abschließend werden bibliothekarische Ethikkodizes diskutiert und es wird ein Blick auf die Bibliotheksethik in der Praxis geworfen. Das Buch schließt mit einem knappen Ausblick; im Anhang finden sich wichtige bibliothekarische Ethikkodizes zum Nachlesen.

Bewertung des Aufbaus und der einzelnen Teile

Zunächst einmal ist es eine große Leistung, die Themen der Informations- und der Bibliotheksethik systematisch in einem Band zusammenzufassen und eine auch für Laien auf dem Gebiet der Ethik sehr gut lesbare Zusammenstellung der in der Berufspraxis relevanten Problembereiche in ihrer ganzen Breite zu liefern.

Die allgemeine Ethikeinführung ist gut lesbar, erreicht aber nicht die didaktische Qualität der gängigen Einführungsbücher. In Anbetracht dessen, dass das Werk in einer Reihe erschienen ist, die sich an die bibliothekarische Berufspraxis wendet, wäre es aus Sicht des Rezensenten sehr wichtig gewesen, diesen Teil besonders für „Ethik-Laien“ aufzubereiten.

Rösch folgt einem weiten Verständnis von Informationsethik und begründet dies damit, dass „nur so alle ethisch relevanten Phänomene unabhängig von Technik, Trägermedien und Kommunikationskanälen in die Überlegungen einbezogen werden“ können (S. 63). Entsprechend breit erfolgt die Darstellung im zweiten Teil des Buchs. Dies ist auf der einen Seite zu begrüßen, da in diesem Teil sowohl zentrale Werte als auch zentrale Anwendungsfälle wie Suchmaschinen und Soziale Netzwerke diskutiert werden. Auf der anderen Seite fragt man sich beim Lesen doch, ob das Thema nicht zu weit
„ausfranst“ und damit die Grenzen der Informationsethik – auch in Abgrenzung zu anderen Bereichs­ethiken wie Medienethik, Computerethik, Datenethik usw. – zu weit gefasst werden. Aber dies mag ein allgemeines Problem der „Informationsfächer“ sein; nämlich, dass ihre Grenzen zunehmend unklar werden, wenn sich ein ganzes Spektrum von Fächern mit dem Thema Information beschäftigt.

Der stärkste Teil des Buchs ist sicherlich der zur Bibliotheksethik, die anhand einer Systematisierung der typischen Aufgaben im bibliothekarischen Bereich dargestellt wird. Die einzelnen Abschnitte decken alle relevanten Tätigkeiten ab und zeigen auf, an welchen Stellen überall Ethik eine Rolle spielt oder spielen sollte. Hierbei spielen sowohl berufsethische, also auf das Handeln von Personen eines Berufsstands bezogene, als auch institutionenethische Fragen eine Rolle. Auch die kritische Diskussion der bibliothekarischen Ethikkodizes im letzten Teil des Buchs ist für die Praxis von großer Bedeutung. Der ausführliche Abschnitt zu den ethischen Grundsätzen von Bibliothek und Information Deutschland (BID) ist allerdings leider keine vollständige Vorstellung dieses Kodex, sondern vor allem ein Vergleich kritischer Punkte der aktuellen mit einer älteren Fassung.

Zentrales Problem des Buchs: Wer ist die Zielgruppe?

Ein Kernproblem des Buchs ist, dass unklar bleibt, welche Zielgruppe angesprochen werden soll. Für ein einführendes Werk oder gar Lehrbuch fehlt die didaktische Aufbereitung, für die Zielgruppe der Praktiker*innen ist das Werk mit fast 500 Seiten Text wohl doch etwas zu umfangreich geraten, und für die wissenschaftlich Tätigen ist es dann doch zu sehr an den Praxisfällen orientiert und lässt sowohl in der theoretischen Fundierung als auch in der Strukturierung Wünsche offen. Es ist verwunderlich, dass die Frage nach der Zielgruppe im ganzen Buch nicht auftaucht. Zwar spricht der Autor davon, dass das Werk eine „Kombination von theoretischem Aufriss und Beispielen aus der Praxis“ (S. 6) bieten soll; für wen diese Kombination denn aber in der vorliegenden Form besonders wertvoll ist, bleibt unklar.

Ethische Schlüsse und Bewertungen in den einzelnen Abschnitten

Ein besonderes Anliegen des Autors ist es, zu zeigen, dass ethische Bewertungen aus Werten (und ggf. Gegenwerten) abgeleitet werden können. Dies bedeutet, dass man, ausgerichtet am Prinzip, zwischen verschiedenen Werten abwägt und aus dieser Abwägung heraus zu beständigen Urteilen kommt. Dies würde dazu führen, dass solche Urteile erstens in sich konsistent sind (der gleiche Fall würde zu einem späteren Zeitpunkt gleich bewertet werden) und zweitens über Themengrenzen hinweg konsistent sind (vergleichbare Fälle werden gleich beurteilt). Dies ist die Grundlage jedes ethisch fundierten Urteils. Wenn man sich also auf klare Werte und eine klare Gewichtung dieser Werte bezieht, dann ist die ethische Bewertung von Einzelfällen „nur noch“ ein Ableiten der Handlungsempfehlung aus dem ethischen Gerüst. Wenn nun aber, wie Rösch es macht, mit einem Set von zentralen Werten argumentiert wird, die in jedem Einzelfall ohne klare Wertehierarchie gegeneinander abgewogen werden müssen, so ergibt sich eben keine eindeutige Bewertung der Einzelfälle, und der einzige Ausweg bleibt die Einigung im Diskurs, die dann allerdings nicht mehr auf Prinzipien beruhen muss. Damit stellt sich letztendlich die Frage, was der Wertebezug bei Rösch für das ethische Handeln leisten kann – abgesehen von einer besseren und expliziten Reflexion der Bewertung durch die bewertende Person.

Was vermag das Buch nun in Hinblick auf die Lösung der vorgestellten Probleme/Einzelfälle zu leisten? Die abschließenden Empfehlungen in den Kapiteln reichen von der lapidaren Aussage, man müsse das Thema informationsethisch ausgewogen diskutieren, bis hin zu Aussagen wie „unter ethischen Gesichtspunkten völlig inakzeptabel“ (bspw. S. 373) oder, dass ein Konflikt „durch ethische Reflexion eindeutig zu lösen war“ (bspw. S. 359). Alle diese Schlüsse mögen auf der Basis eines konsistenten ethischen Rahmens bzw. einer ethischen Theorie zu ziehen sein, nur findet sich ein solcher Rahmen in diesem Buch eben nicht. Das macht die Diskussionen zu den Themenfeldern – so spannend und detailreich sie im Einzelfall auch sind – eher zu einer Sammlung von Pro- und Contra-Argumenten, die nicht zu einem Schluss geführt werden kann, der auf mehr beruht als auf einer irgendwie gearteten Abwägung der Argumente.

Fazit

Das Thema Ethik hat auch für die Berufspraxis eine entscheidende Bedeutung. Ohne ethische Reflexion ist man in Bezug auf Wertentscheidungen seinen eigenen Launen, Forderungen von außen oder momentanen Einflüssen durch Einzelfälle mehr oder minder ausgeliefert. Das große Verdienst von Hermann Röschs Buch ist, für den Bereich der Informationsethik und der Bibliotheksethik die zentralen Werte auf die Praxis zu beziehen und sie im Bereich der Bibliotheksethik anhand von konkret auf die Berufspraxis bezogenen Fällen ausführlich zu diskutieren. Dem gegenüber stehen zwei zentrale Schwächen: zum einen die fehlende Aufbereitung für eine explizite Zielgruppe und zum anderen das Fehlen eines expliziten ethischen Rahmens, aus dem sich die Bewertungen in den Praxisfällen konkret ableiten ließen. Insgesamt ist die Lektüre des Buchs trotzdem gewinnbringend.

Dirk Lewandowski, Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg

Zitierfähiger Link (DOI): https://doi.org/10.5282/o-bib/5825

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