Lernwelt Wissenschaftliche Bibliothek : pädagogische und raumtheoretische Facetten / Olaf Eigenbrodt. – Berlin, Boston: De Gruyter Saur, 2021 (Lernwelten). – XIII, 219 Seiten : Diagramme. – ISBN 978-3-11-037934-1 : EUR 99.95 (auch als E-Book verfügbar)

Ein weiterer Band in der Reihe „Lernwelten“ widmet sich der Lernwelt Wissenschaftliche Bibliothek, verfasst von Olaf Eigenbrodt, selber auch Mitglied des Editorial Board der Reihe, sodann stellvertretender Direktor der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky, zugleich dort verantwortlich für die Bereiche Bibliothekssystem, Benutzungsdienste und Bau. Auf letzterem Gebiet war er an der Planung des Grimm-Zentrums der Universitätsbibliothek an der Humboldt-Universität zu Berlin beteiligt. Eigenbrodt kennt sich also bestens mit allen wesentlichen Aspekten der baulichen Konzeption und Gestaltung von modernen Hochschulbibliotheken aus, bringt diese Expertise in dem vorliegenden Werk auch nachdrücklich zur Geltung, denn die raumtheoretischen Facetten bilden neben den pädagogischen Überlegungen die zweite Säule des Buchs.

Gleich zu Beginn machen der Reihenherausgeber Richard Stang und der Autor (dieser auch am Schluss nochmals) deutlich, dass es in der Abhandlung nicht um die verschiedenen Aktivitäten zur Förderung von Informations- und Medienkompetenz gehe, sondern dieser Sektor des Lernens in der Wissenschaftlichen Bibliothek bewusst ausgeklammert werde zugunsten der Fokussierung auf die Funktionen von Hochschulbibliotheken als Lernorte, Lernräume und Lernzentren. Als weiterer Grund für die Schwerpunktsetzung wird genannt, dass Themen der aktiven Vermittlung verschiedener studien- und forschungsrelevanter Kompetenzen den Rahmen des Bandes sprengen würden. Lesende werden also in dem Buch von Olaf Eigenbrodt nicht fündig, wenn sie erwarten, dass die an den Hochschulbibliotheken verbreiteten Lernangebote wie beispielsweise Kurse und Workshops zur Informationsrecherche, zur Literaturverwaltung, zum Publizieren und zu Forschungsdaten, auch zum Urheberrecht, Beratungsservices, Coffee Lectures oder E-Learning-Einheiten zu verschiedenen Themen des Umgangs mit Informationsressourcen (Bücher, Zeitschriften, Datenbanken, Volltextsammlungen usw.) ausführlich einbezogen werden. Wenn allerdings dieser Aspekt des aktiven Förderns und Vermittelns von Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten für den Umgang mit Medien- und Informationsressourcen in Studium und Forschung, die Wissenschaftliche Bibliotheken in einer enormen Vielfalt und Breite verfügbar halten, außen vor gelassen wird, dann hätten Lesende trotzdem zumindest erwarten können, dass hier ein konzentrierter Überblick über die entsprechende Fachliteratur gegeben wird.1

Das Buch ist sodann nicht für Lesende geeignet, die theoretisch-reflektierenden Darlegungen skeptisch gegenüberstehen, weil diese einen großen Anteil an dem Werk ausmachen. Wer allerdings mit der Konzeption und Planung von zukunftsorientierten Lernwelten in Wissenschaftlichen Bibliotheken befasst ist, kann dem Band vielfältige und hilfreiche Darlegungen entnehmen und von ihnen profitieren – insbesondere hinsichtlich der raumtheoretischen bzw. raumpädagogischen Ausführungen.

Das Buch ist in vier Hauptkapitel gegliedert. Das erste Kapitel zur Lernwelt Wissenschaftliche Bibliothek im Wandel kommt etwas disparat daher. Es geht hier um Begriffliches, sodann um die Abgrenzung von Wissens- und Kompetenzerwerb – der Kompetenzbegriff wird als unscharf kritisiert – auf der Basis selbstorganisierten Lernens, danach um Wissensgesellschaften und Wissensräume, um informelle Lernorte an Hochschulen, um Lernarchitekturen und um den Unterschied von Lehren und Lernen sowie von formell/informell. Eigenbrodt plädiert für ein „Ausbalancieren formaler und informeller Lernräume“ (S. 58) und für eine Verschränkung beider anstelle der Dichotomie von lehren/lernen, von formal/informell. Lernen müsse also auch außerhalb formaler Lernräume bedacht werden, „zugunsten von vernetzten, jederzeit von überall zugänglichen digitalen Lernumgebungen einerseits und technisch vorbereiteten Räumen, die eine Konvergenz digitaler und physischer Umgebungen ermöglichen“ (S. 60). Somit könnte für Studierende in einer entsprechend konzipierten Lernwelt orts- und zeitunabhängig in den physischen Räumen auch eine digitale Vernetzung unterschiedlicher Akteur*innen erreicht werden, unabhängig von ihrer physischen Präsenz.

Wie definiert der Autor das Konstrukt Lernwelt? Er sieht sie als Teilmenge von Wissensräumen, in denen „Menschen Informationen in nachvollziehbarer Weise strukturieren und diese Strukturen sich in der räumlichen Anordnung, dem Spacing, spiegeln“ (S. 28). In Anlehnung an Richard Stangs „Lernwelten im Wandel“ (2016) versteht Olaf Eigenbrodt Lernwelten im Sinne der Ermöglichung von Lernen in einem beschreibbaren Rahmen. Die Hochschulbibliothek bestehe aus mehreren Lernwelten, die sich sogar überlagerten, innerhalb derer nun selbstorganisiertes Lernen ermöglicht werden solle, mithilfe einer Ermöglichungsdidaktik. Er betont, dass sich selbstorganisierte Lernprozesse – in Abhängigkeit von den jeweiligen Lernarrangements bzw. Lernraumkonstellationen (wie Stang sie nennt) – aus multiplen Lehrstrategien zusammensetzten. Förderlich seien flexible Seminarräume und offene Lernlandschaften, um im Kontext verschiedener Methoden nicht nur für sich allein zu lernen, sondern vornehmlich auch in Interaktion mit anderen Lernenden. Bevor er die Lernwelt Hochschulbibliothek genauer beschreibt, widmet Eigenbrodt sich den Wissensräumen und der Wissensgesellschaft. In diesem Kapitel rekurriert er auf einige schon ältere soziologische Konzepte, u.a. von Bell (1985), Stehr (1994) und Bittlingmayer (2005).

Die Wissenschaftliche Bibliothek selbst kommt erst ab der Mitte der Darstellung im zweiten Kapitel über theoretische Annäherungen an hochschulische Lernwelten deutlicher in den Blick, im Zusammenhang mit dem Wissensraum Hochschule. Davor wird die Wissenschaftliche Bibliothek eher en passant thematisiert, denn im Wesentlichen stellt Eigenbrodt allgemeine Überlegungen zu Lernräumen bzw. zum Wissensraum Hochschule und zu lerntheoretischen Ansätzen an; er folgt vor allem der konstruktivistischen Lernauffassung in Abgrenzung von der Ermöglichungsdidaktik (Anknüpfung auch an Stangs Buch von 2016). Dem informellen, also nicht-intentionalen und selbstorganisierten Lernen gilt deutlich seine Sympathie, d.h. Teaching Librarians und Bibliothekspädagog*innen, also unterrichtende Bibliothekar*innen, hätten in solchen Lernarrangements keinen zentralen Platz. Der Pädagoge sei vielmehr der Raum selbst (S. 156ff.). Eigenbrodt spricht explizit von „Raumpädagogik“, von einer „Didaktik des Arrangements“. Diese erfordere zwangsläufig eine Ermöglichungsdidaktik, um die raumbezogene Aneignung zu erleichtern und das selbstorganisierte Lernen im Kontext dieser lernräumlichen Gestaltungen anzuregen und voranzutreiben.2 Später wird angesprochen, dass Lehrende dennoch eine Aufgabe in dem vorgeschlagenen Lernweltkonzept erhalten.

Davon unberührt bleibt Eigenbrodts These, dass Lernen stets situiert in einem sozialräumlichen Kontext stattfinde, der „Erwerb von Wissen immer in soziale Zusammenhänge eingebettet“ (S. 80) und nur als Produkt sozialer Interaktion denkbar sei. Selbst wenn Studierende scheinbar für sich allein im Lesesaal arbeiteten und läsen, seien sie noch Teil des sozialen Systems Wissenschaft. Lernen sei zwar ein autopoietischer, also sich selbst erschaffender Prozess, doch werde – so die Schlussfolgerung aus neurowissenschaftlichen Erkenntnissen, die Eigenbrodt auswertet – die Verankerung des Wissens im Langzeitgedächtnis nicht nur von internen Prozessen im Gehirn des Einzelnen beeinflusst. Die sozialen Interaktionen und die physische Umgebung, also der Raum einer Bibliothek, spielten dabei ebenfalls eine Rolle, mehr noch: Das System Wissenschaft sei strukturell über die Sprache mit dem individuellen Bewusstsein verbunden, ohne dass man mit den Verfasser:innen eines Werks direkt interagieren müsse. „Die Bibliothek ist hier als Teil der kommunikativen Infrastruktur [Hervorhebung im Original] zu sehen (…) und gleichzeitig konstituiert die strukturelle Koppelung von Bewusstsein und durch Sprache vermitteltem Wissen dieses System“ (S. 80). Die bloße Präsenz anderer Individuen im Raum wirke sich ebenfalls auf das Lernen und die Wissensbildung aus. Wissen und Wissens­aneignung seien also stets sozial gebunden. Lernwelten, wie Eigenbrodt sie versteht, schaffen erst diesen räumlichen und sozialen Kontext, den „Ermöglichungsraum“ für strukturelle Koppelungen zwischen dem Individuum und weiteren Systemen. In dieser Sichtweise könne Lernen durchaus selbstorganisiert ablaufen, fänden auch Lehrende oder Expert*innen für instruierende Prozesse zur Unterstützung der Wissensbildung ihren Platz, im Sinne einer „Praxisgemeinschaft“. Auch technische Fertigkeiten bzw. Techniken des wissenschaftlichen Arbeitens könnten im Rahmen des ursprünglich für handwerkliche und künstlerische Bildungsbiografien vorgeschlagenen Modells einer „Legitimate Peripheral Participation“ ihren Platz finden.

Der Begriff des informellen Lernens, auf den Eigenbrodt sich wesentlich stützt, ist durchaus nicht unstrittig, wie der Rezensent, selbst Erziehungswissenschaftler und Mitverfasser eines Lehrbuchs zur Bibliotheksdidaktik,3 weiß, denn eine explizit als Lernraum oder Lernzentrum gekennzeichnete Hochschulbibliothek ist primär ein Ort bewussten und gezielten, nicht aber des beiläufigen Lernens. Dies betont auch Eigenbrodt, er sieht die Konzentration auf das instruktionale Lehren jedoch kritisch, meint wohl vielmehr, dass Lernen weitestgehend selbstorganisiert und selbstbestimmt stattfände. Jedoch wäre hier einzuwenden, dass diese Lernform vor allem den Lernstärkeren entgegenkommt, während Lernschwächere (die es auch unter Studierenden gibt, wie verschiedene Untersuchungen und Beobachtungen Lehrender gezeigt haben) Probleme bekommen, wenn sie keine aktive Unterstützung durch Lehrende erhalten. Das Buch befasst sich nicht intensiv mit den heterogenen Lernvoraussetzungen und -erwartungen Studierender – etwas verwunderlich, weil der Verfasser seinen Lernweltansatz ausdrücklich als lernendenzentriert versteht.

Das selbstregulierte Lernen spielt im Übrigen vor allem beim E-Learning eine große Rolle, jedoch kommt dieses merkwürdigerweise nur am Rande zur Sprache. Eigenbrodt konzentriert sich fast ausschließlich auf die physische Lernumgebung und widmet sich dem E-Learning (Distanzlernen) nicht im Detail; das Stichwort E-Learning fehlt im Index genauso wie der digitale Lernraum. Da Lernräume in der Hochschule jedoch nicht mehr als getrennte Einheiten, sondern als Netzwerk betrachtet werden, durchdringen sich in dieser Sichtweise ohnehin physische und digitale Lernräume. Das Lernen in digitalen Räumen sei, so der Verfasser, grundsätzlich von denselben Einflussfaktoren geprägt wie das Lernen in physischen Räumen.

Als ein Kernstück des Buchs kann das Kap. 3.4 (Wissensraum Hochschule – Lernwelt Wissenschaftliche Bibliothek), insbesondere darin die Darstellung eines raumbezogenen Modells der Lernwelt Wissenschaftliche Bibliothek gelesen werden. Hochschulbibliotheken seien ein interdisziplinär angelegter Teil des Beziehungsgeflechts der Wissensräume, Speicher für Verbreitungsmedien und Lernwelt zugleich. Vermittlung von Wissen und Aneignung von übergreifenden akademischen wie fachbezogenen Kompetenzen liefen gleichzeitig ab. Zur akademischen Kompetenz gehöre auch die Fähigkeit, Wissensräume in ihrer Relevanz und ihrem spezifischen Nutzen in jeweils individuell geprägter Wahrnehmung für sich zu erschließen. Von Bedeutung sei dabei, die Situiertheit allen Lernens zu berücksichtigen. Lernen im Hochschulkontext sei gleichzeitig erkenntnis- und nutzungsorientiert; letzteres sei mit dem situierten Lernen in engem Zusammenhang zu verstehen. Individuum und Gemeinschaft sieht Eigenbrodt dabei als eng aufeinander bezogen. Das autonome selbstorganisierte Lernen sei dabei aber nicht gefährdet, denn in Anlehnung an Siebert (2005) verbinde das situierte Lernen stets individuelle und gruppenbezogene Aspekte miteinander, mehr noch: „Lernwelten im Hochschulbereich zeichnen sich dadurch aus, dass sie erkenntnisorientiertes, also theoretisches und nutzungsorientiertes, also situiertes, Lernen gleichzeitig ermöglichen müssen“ (Eigenbrodt, S. 116). Nur unter diesen Voraussetzungen gehe die Aneignung von Wissen und von Räumen mit der Aneignung von raum- und wissensbezogenen Kompetenzen einher. Jedoch müssten dazu die überkommenen Typologien für die Konzeption der Lernwelt Wissenschaftliche Bibliothek zugunsten einer „Perspektive multipler, fraktaler Wissensräume“ (ebd.) aufgegeben werden.

Eigenbrodt spricht von multifacettierten Räumen, die in Verbindung mit einer didaktischen Erweiterung des Lernens von der Input- zur Outputorientierung wirksam würden. Lernprozesse würden dann nicht mehr nur fremd-, sondern zunehmend auch selbstgesteuert – durch entsprechende Phasen der Wissensverarbeitung bzw. Kompetenz-Lernphasen im Zuge eines Blended-Learning-Modells. Lernprozesse seien dann nicht mehr geradlinig, sondern durchlässig und fraktal. Hier wird es nun spannend, hier bringt er auf den Punkt, was er meint: Es geht um die Vermischung unterschiedlicher Lernformen, die damit einhergehende Schaffung multipler Lernräume, „welche zunehmend durchlässig und entgrenzt, (…) also fraktal werden“ (S. 119). Auf medial vermittelte instruktive Lehrinhalte könne von überall zugegriffen werden, auch auf digitalisierte Informationen, um neues Wissen bilden zu können. Online-Lernen hebe „die institutionelle Bindung von Ressource und Vermittlung an die Wissensräume der jeweiligen Hochschule auf“ (ebd.), E-Learning und Digitalisierung veränderten zudem die Beziehungsgeflechte, Rollenzuweisungen und Aneignungsformen in Lernwelten. Insofern wird hier auch deutlich, dass eine Trennung in digitale und physische Räume unter den Bedingungen der multiplen, fraktalen Lernräume nicht mehr möglich ist.

Ein raumbezogenes Modell der Lernwelt Wissenschaftliche Bibliothek wird in Kap. 3.4.3 entwickelt, mit individuellen, lernprozessbezogenen, raumbezogenen und kontextbezogenen Facetten. Das lernende Individuum steht demzufolge im Zentrum und eignet sich auf der Grundlage seiner jeweiligen Vorerfahrungen, Wahrnehmungen und Ziele die Räume an. Dabei spielten auch Affekte und Emotionen eine Rolle, sodass sich nach Eigenbrodt folgende auf das Individuum bezogene Facetten für die Lernwelt ergeben: Autonomie, Identität, individuelle Ziele bzw. Motive, Wahrnehmungen, Vorlieben und Bedürfnisse, Emotionen und Affekte, sichtbare Formen der Aneignung sowie die Nutzung von Technik. Daneben werden die lernprozessbezogenen Facetten genannt: Lerntypen, curriculare Anforderungen, gruppenbezogene Prozesse und Verhaltensformen, individuelle/gemeinschaftliche und soziale Lernformen, das Lernen in digitalen bzw. sozialen Netzwerken sowie die tatsächlich stattfindenden Lernaktivitäten (S. 126). Hinzu kämen die raumbezogenen Facetten: Ordnungsfunktion/Vorstrukturierung von Lernprozessen, Verortung in einem städtebaulichen/institutionellen Raumgefüge, Binnenstruktur und Funktionsbeziehungen von Gebäuden, Spacing als Vorstrukturierung spezifischer Räume, Atmosphäre, raumbezogene Codes und Normen, soziale Beziehungen sowie die Konvergenz physischer und digitaler Räume. Als vierte Gruppe von Facetten gebe es kontextbezogene, also soziale Bedingungen; zu ihnen gehörten ökonomische Grundlagen, kulturelle Prägungen, Wissenschaft als System, Bibliotheken als dessen spezifische Ausprägung und die institutionellen Voraussetzungen. Diese Facettierungen werden in einem grafischen Modell, bezogen auf die Faktoren Individuum, Lernen, Raum und Kontext zur Anschauung gebracht – im Sinne eines vorläufigen Modells der Lernwelt Hochschulbibliothek (S. 131).

Im vierten Teil des Buchs unternimmt Eigenbrodt empirische Annäherungen, die den Rezensenten besonders interessiert haben, würden hier doch wahrscheinlich das konkrete Lernverhalten Studierender in Bibliotheken, die Lernangebote und die existierenden physischen wie digitalen Lernumgebungen, welche Hochschulbibliotheken in ihren unterschiedlichen, auch fachlich disparaten Schwerpunktsetzungen bieten, zur Sprache kommen. Dem ist aber leider nicht so. Eigenbrodt konzentriert sich vielmehr zum einen auf die HIS-Studien zum Selbststudium (2013 bzw. 2019), die bereits vielfach in der Fachliteratur thematisiert wurden, die er einer nochmaligen ausführlichen kritischen Betrachtung unterzieht, sodann auf einige Studien aus Großbritannien (mit seinen nur schwer mit Deutschland vergleichbaren Campusstrukturen) sowie auf Untersuchungen an der UB Rostock (2014 bzw. 2016) als Beispiel qualitativer empirischer Forschung zum Lernen in Hochschulbibliotheken. Außer der UB Rostock und (an anderer Stelle) dem LearnerLab an der Hochschule der Medien, Stuttgart, werden keine deutschen Hochschulbibliotheken im Zusammenhang mit der Lernwelt Hochschulbibliothek genannt.

So konzentriert sich dieser Teil wiederum vornehmlich auf methodisch-konzeptionelle Ansätze eines „Forschungsdesigns für die Lernwelt Wissenschaftliche Bibliothek“ (S. 154) – zum Erstaunen des Rezensenten, hatte er doch von Eigenbrodts Buch selbst die Realisierung eines solchen Forschungsdesigns auf empirischer wie theoretischer Grundlage erwartet. Am Schluss heißt es bei Eigenbrodt folgerichtig: „Zukünftige Forschung auf dem Gebiet Lernwelt Wissenschaftliche Bibliothek kann sich neben der erwähnten empirischen und theoretischen Diskussion der hier vorgeschlagenen Modelle auch mit der tieferen soziologischen und bildungswissenschaftlichen Durchdringung der Zusammenhänge von Raum, Lernen und Individuum im Kontext der Wissenschaftlichen Bibliothek [Hervorhebung im Original] auseinandersetzen“ (S. 205). Leider ist die Chance zu einer solchen vielschichtigen Untersuchung im vorliegenden Buch nicht wirklich genutzt worden. Es bleibt bei pädagogischen und raumtheoretischen „Facetten“, die für die weitere Ausgestaltung der Lernumgebungen in Wissenschaftlichen Bibliotheken zweifellos anregend und hilfreich sind. Jedoch steht in der Tat eine umfassende Darstellung zum Lernen in Wissenschaftlichen Bibliotheken immer noch aus.

In der Zielperspektive geht es Eigenbrodt um die Planung und Konzeption der Lernwelt Wissenschaftliche Bibliothek in Anschluss an den Ansatz offener gesellschaftlicher Innovation, demzufolge die Partizipation und die Lernendenzentrierung, also die Partizipation der „Stakeholder“, wie Eigenbrodt die an der Planung von Hochschulbibliotheken beteiligten Gruppen nennt, wesentliche Voraussetzungen für Innovationen seien. Hier schöpft er offensichtlich aus seinen Erfahrungen bei der Planung des Grimm-Zentrums an der Humboldt-Universität zu Berlin, ohne explizit darauf Bezug zu nehmen. Das ursprünglich betriebswirtschaftliche Konzept der offenen Innovation könne auch auf Non-Profit-Unternehmen wie Hochschulbibliotheken ohne Weiteres angewendet werden, mit gewissen Einschränkungen jedoch in Richtung auf den Ansatz der offenen sozialen Innovation. Der Verfasser führt Open Access und Open Science, ferner das Engagement für Open-Source-Produkte als Belege dafür an, dass Bibliotheken bereits seit längerem Teil einer weltweit zu verstehenden Open-Innovation-Strategie seien. Eigenbrodt verweist bezüglich des Konzepts der für den öffentlichen Sektor relevanten Open Social Innovation auf ein Projekt der Zeppelin University Friedrichshafen, in dem eine Offenheit der Inhalte, Ergebnisse und Prozesse für alle Phasen eines offenen Innovationsprojekts gefordert wurde. Er überträgt in seinem Buch das Modell der Open Social Innovation in ein eigenes Modell, das mithilfe einer Grafik veranschaulicht wird. Besonders wichtig ist ihm dabei der Informationsfluss, sowohl „inbound“ – nach innen gerichtet – als auch „outbound“ – nach außen gerichtet. Beide Richtungen seien in Innovationsprozessen wichtig. Externe Informationen müssten aufgenommen, aber mit der Community geteilt werden.

Das alles klingt charmant, verkennt eventuell aber die Tatsache, dass Beteiligte nicht selten zu Informationsmonopolen neigen, auch aus Gründen privilegierter Einflussnahme und Machtausübung. Dahinter stehen meistens hierarchische Strukturen, die auch in der Hochschule und in den Wissenschaftlichen Bibliotheken noch nicht überwunden sind, die Eigenbrodt indes in dem von ihm favorisierten Modell der Open Social Innovation nicht gebrauchen kann. Vielmehr gehe es darum, die Impulse aller Beteiligten und möglicherweise Betroffenen zu berücksichtigen, also der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einer Institution genauso wie der Kundinnen und Kunden. Bezogen auf die Hochschule sind es die Interessen der Entscheider, der primären und der sekundären Stakeholder. Der Autor fordert, dass die Hochschulbibliotheken bei der Entwicklung und dem Management hochschulischer Lernwelten eine zentrale Rolle spielen sollen, allerdings müssten hierfür beim „Spacing“ traditionelle Machtstrukturen zugunsten von „partizipativen Prozessen der Schaffung von Ermöglichungsräumen aufgegeben werden“ (S. 194).

Olaf Eigenbrodt richtet seinen Blick am Ende auf die Organisation und auf das Management der Lernwelt Wissenschaftliche Bibliothek. Hier formuliert er eine Reihe von Bedingungen, zum Beispiel zur Frage, wem die Lernwelt gehöre. Ownership und Verantwortung sind die Schlüsselbegriffe. Niedrigschwellige Zugänge zur Lernwelt seien unabdingbar, Bibliotheken könnten zu „Anwältinnen selbstorganisierten Lernens werden“ (S. 197). Das Verhältnis zwischen Lernenden und Bibliothekspersonal sei im Sinne von „Ownership“ neu auszutarieren. Hier bringt Eigenbrodt eine didaktisch-begleitende Komponente zur Geltung (neben der technisch-organisatorischen). Allerdings solle man nicht von „Auskunft“ oder „Aufsicht“ sprechen, sondern von Lernraummanagement, partiell getragen auch durch die Studierenden selbst. Aber dies sei nicht primäre Aufgabe von Lernenden. Diese sollten die gebotenen Möglichkeiten im Rahmen ihrer individuellen Motivation und Zielsetzung für den eigenen Lernprozess nutzen und sich so Wissen und Kompetenzen aneignen, im Sinne selbstorganisierten Lernens.

Einige kritische Anmerkungen zum Schluss: Lesende dieses Buches müssen die Bereitschaft aufbringen, den vielen Ausflügen in diverse Disziplinen und Konzeptionen zu folgen, sich auf sie einzulassen. Dann ergeben sich zweifellos neue Einsichten und Erkenntnisse zu einem sozialräumlich verorteten, erweiterten Lernbegriff, wie Eigenbrodt ihn als konstitutiv für die Lernwelt Wissenschaftliche Bibliothek ansieht. Man muss sich dafür strikt in dem geschilderten gedanklichen Horizont bewegen, der dadurch eigentümlich abgeschlossen (hermetisch) wirkt und kaum Öffnungen für alternative Ansätze anbietet. Die Ausführungen zu Erkenntnissen der allgemeinen Lernpsychologie und Didaktik hätten mit Verweis auf einschlägige Standardliteratur eventuell gestrafft werden können – zugunsten eines dezidierteren Bezugs auf die Lernbedingungen in Bibliotheken und die heterogenen Lernvoraussetzungen Studierender.

Das Buch befasst sich, wie angesprochen, nicht mit aktuellen räumlichen Problemen für das Lernen und das Arbeiten in Hochschulbibliotheken. Schon seit geraumer Zeit – also nicht beschränkt auf die Jahre der Pandemie – kämpfen viele Hochschulbibliotheken indes mit Platz- und Raumnot, engagieren sich bei der Suche nach Lernraumkapazitäten, sogar unter Einschluss von zeitweise ungenutzten, leerstehenden Seminarräumen.4 Unter diesen schwierigen Bedingungen lassen sich anspruchsvollere Lernraumideen, wie sie Eigenbrodt darlegt, nicht ohne Weiteres realisieren; das müsste bedacht werden. Das Buch bleibt über weite Strecken zu allgemein und abstrakt, man vermisst bisweilen Anschaulichkeit und Realitätsnähe. Der konkrete Lernort Bibliothek kommt teilweise nur wenig in den Blick. Bezüglich der pädagogischen Facetten erscheint der Horizont etwas verengt auf die Ermöglichungsdidaktik, unter Vernachlässigung weiterer didaktischer Konzeptionen, die sich ebenfalls für das Lernen in Bibliotheken anbieten.5

Was bringt das Werk den Lesenden? Es regt an, wirft Fragen auf, will in neue Richtungen weisen, was das Lernen in Wissenschaftlichen Bibliotheken betrifft. Außerdem gibt es dazu theoretisch-konzeptionelle Impulse, zeigt größere Zusammenhänge auf und bettet das Lernen in Hochschulbibliotheken sowie die Planung dazu geeigneter Lernumgebungen in den Gesamtkontext der Hochschule ein. Diese weit gespannte Sichtweise könnte angesichts der knappen Raumkapazitäten in den Hochschulbibliotheken durchaus zukunftsfähig sein, wie das Buch von Eigenbrodt überhaupt – und ungeachtet einiger kritischer Einwände – zahlreiche bedenkenswerte Ideen für die Lernwelt Wissenschaftliche Bibliothek des 21. Jahrhunderts vermittelt.

Wilfried Sühl-Strohmenger, Freiburg im Breisgau

Zitierfähiger Link (DOI): https://doi.org/10.5282/o-bib/5809

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1 Beispielsweise hätte pauschal verwiesen werden können auf eine Übersicht des Rezensenten zum Forschungsstand und Forschungsbedarf zur Förderung von Informationskompetenz durch Bibliotheken mit Sachstand vom Juni 2018 (in: Mainhardt, Heike; Tappenbeck, Inka (Hg.): Die Bibliothek im Spannungsfeld: Geschichte – Dienstleistungen – Werte. Festschrift für Hermann Rösch, Bad Honnef 2019, S. 163–192). Zahlreiche neuere Beiträge unterstreichen den hohen Stellenwert der Förderung von Informationskompetenz für den Lernort Hochschulbibliothek, u.a. (am Beispiel der UB Basel): Melikov, Svetlana; Eitel, Cornelia: Informationskompetenz. Eine Schlüsselkompetenz im Wandel, in: o-bib 8 (2), 2021, S. 1–13. Online: <https://doi.org/10.5282/o-bib/5654>.

2 In der Pädagogik ist dieser Ansatz, jenseits des informellen Lernens und der Ermöglichungsdidaktik, bereits bei Maria Montessori und dem Konzept der vorbereiteten Umgebung zu finden, denn auch hier steht die Eigenaktivität der Lernenden im Kontext eines mithilfe didaktischer Materialien gestalteten räumlichen Arrangements im Zentrum, während die Lehrperson sich auf beobachtende und gelegentliche stützende Handlungen beschränkt, das Lernen also (aufmerksam) begleitet. Aber bei Montessori hat der Raum für sich allein keine pädagogische Qualität, sondern es bedarf stets zusätzlich der Lernbegleitung, der Hilfe zur Selbsthilfe. Daher ist es fraglich, ob ein Raum für sich eine eigene Pädagogik oder Didaktik begründen kann. Vgl. dazu u.a.: Schumacher, Eva: Montessori-Pädagogik verstehen, anwenden und erleben. Eine Einführung. Weinheim, Basel 2016 (Pädagogik), insbes. Kap. 4.1.

3 Vgl. Hanke, Ulrike; Sühl-Strohmenger, Wilfried: Bibliotheksdidaktik. Grundlagen zur Förderung von Informationskompetenz, Berlin, Boston 2017 (Bibliotheks- und Informationspraxis 58).

4 Siehe dazu beispielsweise den aktuellen Bericht einer Studierenden: Kujak, Lina: „Alles ausgebucht“ – Platzmangel ist das neue Thema an der hybriden Uni der Pandemiezeit, in: FAZ vom 31.12.2021, S. C3.

5 Insofern wäre ergänzend auf den ebenfalls in der Reihe „Lernwelten“ erschienenen Band von Richard Stang: Lernwelten im Wandel. Entwicklungen und Anforderungen bei der Gestaltung zukünftiger Lernumgebungen, Berlin, Boston 2016 (Lernwelten) hinzuweisen, weil dort die pädagogisch-didaktischen Grundlagen differenzierter dargestellt werden als im vorliegenden Buch.