250 Jahre öffentlich : die Badische Landesbibliothek 1771–2021 / herausgegeben von Julia Freifrau Hiller von Gaertringen in Verbindung mit Veit Probst, Annika Stello und Ludger Syré. – Bretten: Lindemanns GmbH, 2021. – 240 Seiten : Illustrationen. – ISBN 978-3-96308-134-7 : EUR 24.90 (auch als E-Book im Open Access verfügbar)

Am 31. Dezember 1770 erließ Markgraf Karl Friedrich von Baden die erste Benutzungsordnung für seine Hofbibliothek. Die in lateinischer Sprache abgefassten Bestimmungen wurden an der Bibliothekstür im Karlsruher Schloss angeschlagen und regelten in acht Paragraphen den Nutzungszweck, die Öffnungszeiten, das Verhalten bei der Benutzung in den Bibliotheksräumen, die Ausleih- und Bestellmodalitäten, die Nichtverleihbarkeit von Handschriften und seltenen Drucken, die Fürsorge- und Schadensersatzpflicht für beschädigtes oder verlorenes Bibliotheksgut, die Verlängerung von Leihfristen und die Bestrafung bei Entwendung oder Diebstahl. Die Sammlung war fortan öffentlich zu nutzen. De facto hieß das, wie es die Sprache des Statuts bereits signalisierte: einzelne Gelehrte, z.B. Lehrer des Gymnasium illustre, konnten Gebrauch von ihr machen. Karlsruhe war damals ein größeres Dorf, hatte 4.500 Einwohner und besaß keine Akademie der Wissenschaften wie die konkurrierende Residenzstadt Mannheim. Erst 1825 wurde das Polytechnikum gegründet, aus dem sich später die Universität entwickelte.

Unter dem Titel 250 Jahre öffentlich feiert die Badische Landesbibliothek Karlsruhe den Zeitpunkt ihrer ersten öffentlichen Zugänglichkeit – ein Jubiläumsanlass, den bisher wohl keine andere Bibliothek groß gewürdigt hat. Gezeigt wird eine – coranabedingt etwas verspätet eröffnete – reale und virtuelle Ausstellung,1 die von einem reich bebilderten Katalog mit sieben Aufsätzen begleitet wird.2 Tatsächlich ist das historische Ereignis jeder Hervorhebung wert, markiert es doch den eigentlichen Gründungsakt der Karlsruher Bibliothek. Denn die ersten 250 Jahre des markgräflichen Bücherbesitzes sind durch häufige Dislozierungen und Erbteilungen geprägt und können nur als „Vorgeschichte“ der Bibliothek betrachtet werden. Erst 1772 wird auch ein hauptamtlicher Bibliothekar bestellt.

Das Begleitbuch enthält mehrere instruktive Beiträge. Veit Probst beleuchtet Leben und Wirken des ersten Bibliothekars Friedrich Valentin Molter (1722–1808) näher und bietet sowohl eine Übersetzung der lateinischen Benutzungsordnung von 1770 als auch von Molters Betrachtungen über die Bildung in Deutschland (De Germania literata commentatur, 1770). Julia Freifrau Hiller von Gaertringen ediert den deutschsprachigen Text Molters über die Hofbibliothek, der 1786 im Hof- und Staatskalender veröffentlicht wurde und das wichtigste Zeugnis über die Räumlichkeit und die Aufstellung der Bibliothek im Apothekenflügel des Schlosses darstellt.

Ludger Syré ordnet die Benutzungsordnung von 1770 in die badische Bibliotheksgeschichte ein. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte der Fürst nur ausnahmsweise einmal ein Buch zum gelehrten Studium zur Verfügung gestellt. Im Jahr 1843 wurde die alte, von freisinnigem Geist geprägte Ordnung durch ein kleinlich-bürokratisches neues Statut von 15 Seiten Umfang abgelöst. Jetzt waren Privatleute nur noch „in seltenen Ausnahmen“ zur Benutzung zugelassen. Erst dreißig Jahre später unter ihrem Direktor Wilhelm Brambach wandelten sich Selbstverständnis, Aufgabenstellung und bauliche Unterbringung der „Großherzoglichen Hof- und Landesbibliothek“ grundlegend. Ziel war es jetzt, sie „allen Landesangehörigen in freiester Weise“ zugänglich zu machen. Das bedeutete, die Zielgruppe auf die gesamte Einwohnerschaft Badens auszuweiten und die Dienstleistungen über die Grenzen der Residenzstadt hinaus verfügbar zu machen, sofern sich der Wunsch nicht gerade auf belletristische Werke erstreckte. Jetzt wurden Bücher „jedem Gebildeten“, wenn er in einem Schwarzwalddorf oder einer Kleinstadt am Bodensee wohnte, auch per Post nach Hause geliefert.

Welche Werke im Einzelnen gegen Ende des 18. Jahrhunderts überhaupt zur Verfügung standen, untersucht Annika Stello in einem Beitrag. Angesichts der weitgehenden Zerstörung des Bibliotheksbestandes durch einen Bombenangriff im Jahr 1942 ist die Klärung dieser Frage schwierig. Voraussetzung wäre die Analyse der vorhandenen Bandkataloge und gegebenenfalls ein Abgleich mit dem heutigen Bestand. Da dies aber noch nicht geschehen ist, kann Stello nur von einzelnen Feststellungen berichten.

Etwas überraschend enthält der Begleitband zur Ausstellung auch einen umfangreichen Aufsatz der Herausgeberin zum Pflichtexemplarrecht in Baden. Das hängt damit zusammen, dass in Paragraph 8 der Benutzungsordnung von 1770, die wohl besser Bibliotheksordnung genannt würde, auch die Verpflichtung der badischen Drucker zur Ablieferung von zwei Exemplaren jeder Auflage an die Hofbibliothek festgelegt wurde. Die aus den Quellen gearbeiteten Ausführungen über die Interessenkonflikte der Bibliothekare und Verleger und das entsprechende Hü und Hott erweitern den bisherigen Kenntnisstand über das badische Pflichtexemplar erheblich. Den Abschluss des Bandes bildet ein bereits einmal veröffentlichter,3 aber sehr lesenswerter Beitrag von Ludger Syré über die Lokalitäten der Hofbibliotheken in Mannheim und Karlsruhe.

Aus den anregenden Aufsätzen ergeben sich vielfältige Schlussfolgerungen. Ursprünglich war es der aufgeklärte Fürst, der seine geistigen Schätze aus eigenem – aufklärerischem? – Entschluss mit den Gelehrten im Umkreis des Hofes teilen wollte, aber wie üblich strenge Sanktionen für den Fall des materiellen Verlusts androhte. Im 19. Jahrhundert machen sich die Bildungsbedürfnisse bürgerlicher Schichten vehement bemerkbar. In der Bibliotheksordnung von 1843 wurden sie noch einmal schroff abgewehrt, um dann 1872 sehr entgegenkommend aufgenommen zu werden. So lässt sich auch an den Benutzungsordnungen der Prozess einer Transformation der Hofbibliothek in eine Landesbibliothek ablesen. Die Bibliotheksordnung aus der Zeit Brambachs begründet das Ansehen der Bibliothek als großzügige und liberale Bildungsanstalt – aber nur den Landeskindern gegenüber. Schon Jacob Grimm aus Kassel und Karl Lachmann aus Königsberg hatten bei ihrem Wunsch nach Ausleihe von Handschriften keine guten Erfahrungen gemacht. Auch heute wird zur Regelbenutzung der Badischen Landesbibliothek nur zugelassen, wer einen Wohnort im Bundesland nachweisen kann.4 Immerhin gehört die Einwohnerschaft des Landesteils Württemberg schon zu den Begünstigten, was, historisch betrachtet, wohl eine große Sache ist.

Über den Prozess der Öffentlichwerdung der deutschen Bibliotheken ist im Allgemeinen immer noch wenig bekannt. Daher fällt die Einordnung der in diesem Buch ausgebreiteten Erkenntnisse nicht leicht. Sicher gehört die Hofbibliothek Karlsruhe in die Reihe der Bibliotheken, die schon relativ früh ein kodifiziertes Recht auf Benutzung kennen. Die Königliche Bibliothek Berlin hat schon 1758 eine in deutscher Sprache abgefasste Bibliotheksordnung erhalten, die Herzogliche Bibliothek Stuttgart wurde im Jahr 1765 per detaillierter Stiftungsurkunde ins Leben gerufen, aber alle Fürstenbibliotheken wurden damals durch die Herzogliche Bibliothek Wolfenbüttel in den Schatten gestellt. Dort gab es längst einen intensiven Benutzungsbetrieb durch Gelehrte, wie dies sonst allenfalls noch an der Universität Göttingen Usus war. Welche Bibliotheken wurden in welcher Reihenfolge im 18. Jahrhundert öffentlich und worin unterschieden sich womöglich Statuten und Praxis? Im Grunde sind wir über die Befunde Karstedts und Plassmanns zu diesen Themen noch nicht hinausgekommen.5

Die Rekonstruktion des Anfangsbestandes der Hofbibliothek Karlsruhe wäre ein wünschenswertes Projekt, weil so der geistige Kosmos des Markgräflichen Hauses in der Zeit der Aufklärung anschaulich gemacht werden könnte. Generell wäre für bibliotheksgeschichtliche Fragestellungen viel gewonnen, wenn es zum Standard gehörte, bei der Erschließung von alten Drucken die Stempel in den Büchern systematisch zu erfassen und in den Katalogen nachzuweisen.

In der nicht sehr umfangreichen Literatur über die Benutzungsgeschichte von Bibliotheken sind Ausstellung und Buch ein Highlight.

Michael Knoche, Weimar

Zitierfähiger Link (DOI): https://doi.org/10.5282/o-bib/5801

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1 Website zu Ausstellung und Begleitband, <https://www.blb-karlsruhe.de/aktuelles/ausstellungen/aktuelle-ausstellungen#c13326>, Stand: 15.01.2022.

3 Syré, Ludger: Kurpfälzische Pracht und badische Bescheidenheit? Die Hofbibliotheken in Mannheim und Karlsruhe, in: Krimm, Konrad; Syré, Ludge (Hg.): Herrschaftswissen. Bibliotheken und Archive im Alten Reich, Ostfildern 2018 (Oberrheinische Studien 37), S. 49–68.

4 Dazu Knoche, Michael: Wie öffentlich sind wissenschaftliche Bibliotheken? Teil 1: Baden-württembergische Landesbibliotheken sind nur für Landeskinder da, Aus der Forschungsbibliothek Krekelborn, 09.11.2020, <https://biblio.hypotheses.org/2108>, Stand: 15.01.2022.

5 Karstedt, Peter: Studien zur Soziologie der Bibliothek. Wiesbaden 19652 (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 1); Plassmann, Engelbert: Geschichtliche Grundlagen des Benutzungsrechts der deutschen Bibliotheken. Vorstellungen der Bibliothekare und Normen der Benutzungsordnungen von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Bibliothek und Wissenschaft 8, 1972, S. 142-208.