Historisches Erbe und zeitgemäße Informationsinfra-strukturen : Bibliotheken am Anfang des 21. Jahrhunderts : Festschrift für Axel Halle / Matthias Schulze (Hrsg.). – Kassel: Kassel University Press, 2021. – 532 Seiten : Illustrationen. – ISBN 978-3-7376-0909-8 : EUR: 39.80 (auch als E-Book im Open Access verfügbar)

Erschlagen – von der Dicke des Bandes, von der Fülle der Themen, von der Vielzahl der Autorinnen und Autoren. So ging es der Rezensentin, als sie den Band in Händen hielt, um ihn der bibliothekarischen Fachwelt vorzustellen. Aber – zugesagt ist zugesagt! Nach eingehender Beschäftigung muss vorab konstatiert werden, dass es ein Jammer wäre, die vielfältigen und spannenden Informationen bibliothekarischer Kolleginnen und Kollegen sowie die Ausflüge in die Geschichte von Beständen seitens der Wissenschaft nicht einem großen Kreis eindringlich ans Herz zu legen.

Beginnen wir mit den „harten Fakten“: Matthias Schulze, stellvertretender Bibliotheksdirektor, hat das Werk herausgegeben und es geschafft, 26 Beiträge von Autorinnen und Autoren unterschiedlichster Provenienz in einer Festschrift zu vereinigen. Es hatten mehr als diese ihr Mittun zugesagt – vielleicht ist es ein Glück, dass der ein oder andere seine Zusage aus zeitlichen Gründen zurückziehen musste, die Festschrift hätte sonst zweibändig werden müssen! Der Präsident der Kasseler Universität Reiner Finkeldey ließ es sich nicht nehmen, im Geleitwort nicht nur die Leistungen des langjährigen Leiters der Universitätsbibliothek Kassel – Landes- und Murhardschen Bibliothek der Stadt Kassel zu würdigen, sondern Bibliotheken (wenn sie denn so geführt werden wie in den letzten 20 Jahren in Kassel) als Herzkammern von Universitäten in ungewohnt deutlicher Form zu adeln. Es folgt eine längere Einführung des Herausgebers, die zum einen auf den Gefeierten, zum anderen auf die in der Festschrift versammelten Aufsätze eingeht. Den 26 Beiträgen folgen ein Schriftenverzeichnis des Geehrten (in Auswahl) und das Verzeichnis der Autorinnen und Autoren. Rezensiert wurde anhand des gedruckten Exemplars, das vom Universitätsverlag Kassel mit festem Einband, einer Fadenheftung und einem Lesebändchen (!) versehen wurde.1 Die Festschrift erhielt Axel Halle anlässlich seiner Verabschiedung – die leider aufgrund der Corona-Pandemie per Videokonferenz stattfinden musste.

Um den Leserinnen und Lesern ein wenig den Einstieg zu erleichtern, wurden die Beiträge zunächst in drei Kapitel gegliedert: Als erstes (das freut die Landesbibliothekarin in mir besonders) finden sich „Historische Sammlungen und moderne Bürger*innenbibliothek“ – mit fast 250 Seiten auch der größte Abschnitt. Es folgen „Universitäre und bibliothekarische Informationsinfrastrukturen“ und „Literarisches und Persönliches“. Die Beiträge zu den Historischen Sammlungen und den Informationsinfrastrukturen sind wiederum jeweils in Abschnitte unterteilt: „Programmatisches“, „Forschung am Bestand“, „Brüder Grimm“, „Murhardsche Bibliothek“ lauten die Überschriften bei den Historischen Sammlungen; die Informationsinfrastrukturen trennen sich in die „universitären“ und die „bibliothekarischen“ Informationsinfrastrukturen.

Den Auftakt im ersten Kapitel übernimmt Friedrich Frh. Waitz von Eschen. Sein Beitrag sei allen (Neu-)Kasselern ans Herz gelegt: Wer einen kompakten Einstieg in die Geschichte der Bibliothek mit dem kompliziertesten Namen einer deutschen Bibliothek sucht, findet ihn hier. Aber – und das ist die wichtige Essenz dieses Beitrags – es ist nicht damit getan, sich der Herkunft und der Quellen zu vergewissern, sondern es bleibt noch verlässlich zu klären, dass und wie es mit dem historischen Erbe weitergeht. Wirklich programmatisch übernimmt es Thomas Stäcker, der Direktor der Darmstädter Universitäts- und Landesbibliothek, „Ideen zur Rolle und Aufgabe von Landesbibliotheken bei der Digitalisierung des schriftkulturellen Erbes“ fundiert darzulegen. Leider ist zu konstatieren, dass Landesbibliotheken gerne all dies machen würden, was von ihnen erwartet wird. Jedoch braucht es dazu eine ausreichende ressourcielle Ausstattung – nicht alles Frühere kann man weglassen, um Neues zu etablieren!

Unter der Überschrift „Forschung am Bestand“ sind die nächsten fünf Beiträge zusammengefasst – und hier hat man leider die Qual der Wahl, worauf man besonders hinweisen soll. Dass „Geschichte und Geschichten“ rund um den Willehalmkodex von Claudia Brinker-von der Heyde erzählt werden, verwundert ebenso wenig wie die Ausführungen von Jürgen Wolf über die „Fürstlich Waldeckische Hofbibliothek Arolsen nach 1816“ – die jahrzehntelangen engen Beziehung zwischen Arolsen und Kassel sind als positives Beispiel einer Partnerschaft unterschiedlicher Träger seit langem bekannt.2 Im Gegensatz zu den gerade benannten Beständen hat der Nachlass Dirichlet noch nicht deren Bekanntheitsgrad erreicht, obwohl er sich seit 1934 im Besitz der Landesbibliothek befindet. Erst 2019 wurde die Universität per Vertrag Eigentümerin – und die Leiterin der Abteilung Landesbibliothek und Sondersammlungen, Brigitte Pfeil, lässt uns teilhaben am Leben der Rebecka Dirichlet, einer geborenen Mendelssohn-Bartholdy, die eher unwillig nach Göttingen umziehen musste und dies in Briefen treffend und anschaulich kommentierte. Nach wenigen Jahren hat sie sich mit Göttingen arrangiert – dies wird auch Axel Halle gerne gelesen haben. Jedenfalls machen diese Einblicke unbedingt Lust auf mehr!

Die Beiträge von Andrea Linnebach über Briefe aus dem Bestand der Landesbibliothek zwischen „Gertrud Elisabeth Mara und Rudolf Erich Raspe“ sowie die Ausführungen von Timo Kirschberger über die „Kasseler Hofgärtnerdynastie Stumpfeld im 18. und 19. Jahrhundert“ belegen, dass es wohl in all unseren Bibliotheken „Zufallsbegegnungen“ gibt, die sich mitunter als wichtige, neue Quellen herausstellen.

Gleich drei Beiträge sind unter „Brüder Grimm“ subsumiert. Holger Ehrhardt rekonstruiert die „alte Kasseler Grimm-Sammlung“ u.a. durch Zuhilfenahme von Manuskripten, alphabetischen Katalogen und den Fragmenten einer Zettelkartei. Welches Wissen geht uns heute durch unsere digitale Welt perspektivisch verloren ...! Susanne Völkers Ausführungen ist zu entnehmen, welchen Einsatz Bibliothekschefs und -chefinnen zu leisten haben – auch abseits ihrer eigentlichen Profession. Beate Nagel führt uns noch ein in die Welt der Illustrationen zu Grimms Kinder- und Hausmärchen in Gerlachs Jugendbücherei. Einziger kleiner Wermutstropfen: Die Abbildungen hätten gerne größer sein dürfen.

Mit dem Abschnitt „Murhardsche Bibliothek“ endet das erste Kapitel. Helmut Bernert erzählt die Gründung und Entwicklung „der Murhardschen“ bis zu ihrem Einzug in das jetzige Gebäude am
1. April 1905. Martin Reymer unternimmt es im Anschluss, über das Bauen im laufenden Betrieb zu berichten. Ein Umstand, der jeden Bibliothekar zur Verzweiflung bringen kann – aber für den es doch so oft keine andere Lösung gibt. Dieses Schicksal durchleidet auch das Murhardgebäude. Vom Antrag auf Finanzierung eines „Umbaus, Sanierung und Erweiterungsbau“ in 2009 über den Baubeginn 2017 hofft man Stand heute auf die Fertigstellung im April 2022. Schade, dass Axel Halle diese Fertigstellung in seiner Amtszeit nicht erleben konnte – aber: „am Ende wird sich die Mühe gelohnt haben“.

Im zweiten Kapitel werden zunächst „die universitären Informationsinfrastrukturen“ beleuchtet. Die Beiträge zeigen auf, wie sehr sich die Aufgaben, aber auch das Selbstverständnis von Universitätsbibliotheken verändert haben und noch verändern werden. Sie benennen aber auch all jene Themen, denen sich Axel Halle in den vergangenen Jahren mit seinem Team hat stellen müssen. Den Auftakt macht Helge Steenweg mit einer durchaus provokativen Frage zum Verhältnis von „Bibliothek und Rechenzentrum – Spannungsfeld, Entspannung oder nur gleiche Probleme?“. Peter Dräxler widmet sich dem in den letzten Jahren immer evidenter werdenden „Forschungsdatenmanagement als generische[m] Forschungsprozess“ in einem Zusammengehen von Bibliothek und Rechenzentrum. Wie sehr Forschungsdaten in den Alltag von Bibliotheken und Bibliothekar*innen Einzug gehalten haben, legt Arvid Deppe in „FAIR, CARE und mehr“ dar und fordert einen verantwortungsvollen Umgang mit Forschungsdaten. Die Leiterin des Servicecenters Lehre an der Universität Kassel, Christiane Borchard, resümiert mit ihren beiden Kollegen Pascal Fischer und Uwe Frommann „10 Jahre E-Klausuren an der Universität Kassel“. Mit DiGLL – dem Projekt elf hessischer Hochschulen zum digital gestützten Lehren und Lernen in Hessen – werden die hier gemachten Erfahrungen genutzt, um gemeinsam weitere innovative Konzepte zur digital gestützten Lehre zu entwickeln. Den Abschluss bei „universitäre Informationsinfrastrukturen“ übernimmt Alexander Roßnagel mit dem wohl nolens, volens aktuellsten Thema, nämlich „Corona, Video-Konferenz-Systeme und Datenschutz“. Der Beitrag ist ein dringender Appell an die Hochschulen, jetzt und nachhaltig darauf hinzuwirken, dass Video-Konferenz-Systeme die notwendigen Datenschutzeigenschaften erfüllen. Denn Corona wird hoffentlich einmal Geschichte sein – Videokonferenzen im gesamten Hochschulbereich aber werden bleiben. Gerade in diesem ersten Teil des zweiten Kapitels wird deutlich, wie sehr Axel Halle die Bibliothek in ihrem universitären Umfeld vernetzt und sich den neuen Themen jeweils frühzeitig gestellt hat.

Der zweite Abschnitt in diesem zentralen Kapitel ist der „bibliothekarischen Informationsinfrastruktur“ gewidmet. Wilfried Enderle untersucht die „Literaturversorgung der Geisteswissenschaften im Spannungsfeld von Digitalisierung und Ökonomisierung“ am Beispiel der FIDs von 2015 bis 2020. Wie sehr eine Debatte noch aussteht, lässt sich an der doch langen Conclusio, die in (zunächst) vier Hauptfragen und der Aufforderung zur Diskussion mündet, ablesen. Während Enderle für die Geisteswissenschaften noch die Frage stellt, welche Rolle Open Access (OA) für das Publizieren einnehmen wird, widmen sich Tobias Pohlmann und Sarah Dellmann der nun schon langen Geschichte und Entwicklung des Open-Access-Gedankens an der Universität respektive der Universitätsbibliothek Kassel. OA ist bereits seit der Anfangszeit ein Thema in Kassel, sodass mittlerweile mehr als 17 Jahre Erfahrung zusammenkommen. Wesentlich scheint mir hier die Betonung der Autoren, OA nicht als Ziel, sondern als Strategie zu verstehen, um die Verfügbarkeit wissenschaftlicher Information mit begrenztem Budget zu sichern. In einen vollkommen anderen Bereich führt uns Andrea Wolff-Wölk mit dem Thema „Herausforderung Personenschutz – das Sicherheitskonzept der Universitätsbibliothek Marburg“. Klar und eindrücklich werden die Dimensionen des Neubaus geschildert – und damit auch die Anforderungen an Sicherheit in jedweder Hinsicht impliziert. Jedem, der die Verantwortung für eine Bibliothek hat und noch kein Sicherheitskonzept oder ein Notfallmanagement erarbeitet hat, jedem, der einen Neu- oder Umbau plant, sei dieser Aufsatz ans Herz gelegt – aber auch jedem, der denkt, die Bewirtschaftung einer Bibliothek beschränke sich auf Kosten für Strom, Heizung und Wasser!

Das dritte und letzte Kapitel ist überschrieben mit „Literarisches und Persönliches“. In den Bereich Literarisches sind die Ausführungen von Susanne Bach über „Gutenberg-Schakale, Buchvampire und tödliche Bibliotheken. Fantastische, metafiktionale und metaeleptische Perspektiven auf die Konzeption, Rezeption und Aufbewahrung von Literatur“ einzuordnen. Diese Perspektiven zeigt sie auf anhand von Jasper Ffordes Der Fall Jane Eyre, Ann-Marie MacDonalds Goodnight Desdemona, Umberto Ecos Der Name der Rose und Arturo Perez-Revertes Der Club Dumas.

Persönlich im doppelten Sinne wird es bei den nachfolgenden Beiträgen aus Detmold; mit der dortigen Lippischen Landesbibliothek verbindet Axel Halle ja einige Jahre als stellvertretender Direktor Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre. Joachim Eberhardt schreibt sehr persönlich und darum sehr eindrücklich über den „Wert der Kultur. Über Leistung und Nutzen von Theater und Bibliothek im Vergleich“. Sachlich, und das ist ein Verdienst, legt er die als sehr schwierig zu bezeichnende Situation der Landesbibliothek dar, die dadurch verschärft wird, dass die Verantwortlichen offensichtlich Äpfel mit Birnen – pardon, Theater mit Bibliothek vergleichen, ohne dass Zahlen transparent verwendet werden, geschweige denn ein Vergleichskriterium überhaupt haltbar ist. In dieser Nüchternheit werden die Misere und die immer dramatischer werdende Lage greifbar. Die ganze Absurdität der Vorgabe, Theater und Bibliothek in ihrem Wert vergleichen zu wollen, findet sich im eingeschobenen Exkurs: Eberhardt beschreibt anhand der Leistung „Informationsvermittlung“ seine Suche nach einem Vergleichskriterium. Wenn man nicht wüsste, wie ernst die Situation ist, würde man laut lachen! Doch das bittere Fazit lautet, dass das Dilemma zwischen der Entsprechung der Lippischen Landesbibliothek mit den öffentlich erklärten Zielen ihres Trägers und der geringen Wertschätzung für und durch die Bibliothek nicht aufzulösen ist.

Auch der nachfolgende Beitrag hat einen engen Bezug zur Bibliothek in Lippe, denn Detlev Hellfaier verantwortete 30 Jahre die Geschicke der Detmolder Landesbibliothek. Sein Thema ist dennoch wieder dem Literarischen zuzuordnen, denn er fügt den bekannten Informationen über die Freundschaft Christian Dietrich Grabbes mit Karl Köchy weitere interessante Details hinzu.

Mit einem unikalen Künstlerbuch setzt sich Jutta Bendt auseinander. 2005 erwarb das Deutsche Literaturarchiv Marbach „Die Räuber von Schiller. Ein Hundeschauspiel von Burgi [Kühnemann]“. Die künstlerische Rezeption des Literarischen – im Anschluss daran, so Bendt, nimmt man „Die Räuber wieder zur Hand und liest fasziniert bis zum Ende“ (S. 495).

Den Abschluss bilden gleich zwei Aufsätze zu Hans Jürgen von der Wense, dem Schriftsteller und Universalgelehrten, dessen Nachlass sich dank des Einsatzes von Axel Halle heute in Kassel befindet. Zunächst philosophiert Ulrich Holbein darüber, „Wie Wense und ich zeitweise zueinander fanden“, tatsächlich munter undulierend zwischen „Literarischem“ und „Persönlichem“. Den letzten Beitrag übernimmt dann Karl-Heinz Nickel. Unter dem Titel „Begegnungen. Vom Zettelkatalog über die digitale Bibliothek zu Hans Jürgen von der Wense“ schildert er eigentlich seine Begegnungen mit Axel Halle. Auf diese Weise schafft er es auf wenigen Seiten, nahezu die gesamte Bandbreite des Wirkens des Gefeierten zu benennen, sei es als Kulturnetzwerker, als Vorantreiber im Bereich Digitalisierung, mit seinem Verhandlungsgeschick oder seiner Leidenschaft für alle Bauvorhaben. Man mag ihm nur in seiner leisen Kritik, Halle habe sich nicht genug für Arolsen interessiert, widersprechen – ein „Anhängsel“ wie die Hofbibliothek zu Arolsen zu haben ist oftmals nur Glück, wenn auch die finan­ziellen Ressourcen zur Pflege „angehängt“ werden.

Oftmals spiegeln Festschriften in erster Linie die Interessen und die Leistung der Beiträgerinnen und Beiträger. Hier ist es gelungen, dass zusätzlich implizit immer die Leistung des Gefeierten gewürdigt wird. Man zieht einen Gewinn – wenn nicht jeder aus allen, so doch alle aus einigen Beiträgen. Also: Lesen!

Marianne Riethmüller, Hochschul- und Landesbibliothek Fulda

Zitierfähiger Link (DOI): https://doi.org/10.5282/o-bib/5752

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1 Die frei zugängliche Online-Version ist unter <https://doi.org/doi:10.17170/kobra-202010131934> abrufbar.

2 Hartmut Broszinski, diese Anmerkung sei erlaubt, war allerdings nicht Leiter der Hochschul- und Landesbibliothek, sondern der damals noch selbständigen Hessischen Landesbibliothek Fulda. Zur Hochschule kam sie erst drei Jahre nach seiner Pensionierung.