Mythos Lesen : Buchkultur und Geisteswissenschaften im Informationszeitalter / Klaus Benesch. – Bielefeld: transcript, 2021. – 94 Seiten. – (Wie wir lesen – zur Geschichte, Praxis und Zukunft einer Kulturtechnik 2). – ISBN 978-3-837-5655-8 : EUR 15.00 (auch als E-Book verfügbar)

Das vorliegende Bändchen von Klaus Benesch, in fünf Essays gegliedert, entstand aus einer Tagung im Literaturhaus München, wo 2018 unter dem Thema „Wie wir lesen: Zur Geschichte, Praxis und Zukunft einer Kulturtechnik“ u.a. Fragen zur Wertschätzung des Buches diskutiert wurden. Der titelgebende „Mythos Lesen“ hat sich nach Benesch wesentlich im 19. Jahrhundert „um das Buch und seine sittlich-moralische Kraft gebildet“ (S. 9, vgl. S. 47–58). Nach Benesch befinden sich die Literatur- und Geisteswissenschaften an der Schwelle zum digitalen Zeitalter in einer Krise (S. 19–32). Diese korrespondiere zugleich mit einer Krise des Buches und der Art und Weise, wie gelesen wird. In der genannten Fächergruppe herrsche immer noch eine Technophobie, die Abgrenzungstendenzen zu den Digital Humanities befördere (S. 22). Er plädiert entsprechend für methodische Öffnung und für jeweils fachinterne strukturelle Veränderungen, um Ängste vor digitalen Medien abzubauen (S. 31). So soll dem Reputationsverlust der analogen Buchkultur und ihrem Abdrängen in eine Nische entgegengewirkt werden. Als Basis dienen Benesch Erkenntnisse aus Leseforschung, Literaturwissenschaften und Gesellschafts- wie Wissenschaftspolitik der letzten zwanzig Jahre des digitalen Kulturwandels (S. 16), die aber nicht genauer analysiert werden.

Der Autor vertritt eine vermittelnde Position und ist weder Apologet des analogen Buches noch votiert er für ein unkritisches Ersetzen der analogen Buchkultur durch digitale Leseformate. Gedruckte Bücher werden eingangs als „Instrumente der Entschleunigung“ verstanden und als Mittel, „dem hektischen, reizüberfluteten Alltag für einige Stunden zu entkommen“ (S. 14) – ein bildungsbürgerlich-eskapistischer Topos, der hier ohne weiteres vom 19. ins 21. Jahrhundert übertragen wird. Das traditionelle Buch wird auch als zentrale Wissensressource der „Geisteswissenschaften“ charakterisiert; die kritische Lektüre stelle deren basale Kompetenz dar (S. 17). Wegen der nach wie vor engen Verflechtung von Buchmarkt, Lesen und Buchkultur wirke sich eine Krise auf diesen Sektoren unvermeidlich auf die universitären Fächer und ihre Reputation aus (S. 18). Hier spricht der Literaturwissenschaftler, der im gesamten Band die Geisteswissenschaften wie z.B. Philosophie und Theologie vergleichsweise unkritisch mit in die Verantwortung nimmt, ohne zu bedenken, dass diese sich gemeinhin weder mit Unterhaltungsliteratur beschäftigen noch selbige produzieren. Eine akademische Lesekultur und ihre Transformation, zu der die Verlagsmonopolisierung, die Debatten um Open Source und Urheberrecht sowie die Anschaffungspolitik von Universitätsbibliotheken gehören, werden jedoch von Benesch kaum gewürdigt. Dabei gäbe es gerade hier modernisierende Effekte durch die Digital Humanities zu berichten, z.B. durch digitale Editionen mit Hyperlinks und Metadaten.

Die Einbeziehung digitaler Informationsformate versteht Benesch als Lösungsweg zur Krisenbewältigung, wodurch deutlich wird, dass für ihn offenbar auch die Zurückgezogenheit der geisteswissenschaftlichen Eliten zum Krisenphänomen beiträgt. Denn er favorisiert nach US-amerikanischem Vorbild die „public humanities“ (S. 77–79) mit ihrem Fokus auf die Wechselwirkungen von Wissenschaft und Öffentlichkeit, denen er erkennbar positiv und unkritisch gegenübersteht. Die Antwort darauf, inwieweit die „public humanities“ dazu beitragen sollen, die offene Frage nach der „Ethik des Lesens“ mit neuem Leben zu erfüllen, bleibt der Autor aber ebenso schuldig wie die des dafür notwendigen Formats für einen öffentlichen Intellektuellen in sozialen Medien, von denen die meisten eine solche Figur bislang doch eher mit Shitstorms überziehen anstatt dialogische Formate anzubieten.

Eine Vielzahl von anregenden Fragen durchzieht die gut lesbaren Essays: Verändert die Nutzung digitaler Medien die Struktur des Gehirns und damit auch die Art und Weise, in der insbesondere die Digital Natives lesen (S. 26f.)? Sind die Geisteswissenschaften per se unökonomisch, „not for profit“ (S. 33–46), oder sind sie grundsätzlich eingebunden in ökonomische Entscheidungsprozesse, etwa über eine Mitgestaltung von Verlagsprogrammen? Sind die geisteswissenschaftlichen Fächer unpolitisch, zuvorderst die Literaturwissenschaft (S. 51)? Gibt es so etwas wie „gutes“ Lesen und entsprechend „gute“ Leser*innen, und inwieweit trägt Lesen zur ethisch-moralischen Bildung der Mitglieder der Gesellschaft bei (S. 47–58)? Ist die postulierte Leseunlust (S. 68, 71) tatsächlich ein Symptom der Gegenwart oder nicht doch eine wellenförmige, historisch zu verstehende Bewegung? (Antwort des Rezensenten: durchaus.)

Zuzustimmen ist Benesch in dem Befund, dass die digitalen Medien aus dem Lese- wie Lehralltag an Universitäten nicht mehr wegzudenken sind. Auch dass mehr gesellschaftspolitischer Einfluss einiger universitärer Fächer Not tut, ist nicht zu bestreiten. Allerdings muss man dafür Geld in die Hand nehmen und darf nicht Wissenschaftler*innen, wie während der Pandemie gut zu beobachten, von ihren eigentlichen Dienstaufgaben durch übermäßige Medienpräsenz abhalten oder diese gewollte Serviceleistung nur als Freizeitvergnügen ansehen. Ebenso stellen die tendenzielle Verknappung der Zeitfenster für die Lektüre (medienunabhängig) und deren Folgen für das traditionelle, buchbasierte Lesen mit Recht namhaft gemachte Probleme dar, die einer Lösung im flexiblen Kapitalismus harren.

Was die Tragfähigkeit von Beneschs zentraler Schlussfolgerung aus Sarah Boxers Proust-Lektüre auf dem Smartphone angeht, so sind Zweifel angebracht. Sie beschrieb 2017 in „The Atlantic“ ihre Erfahrungen dabei, den voluminösen Text „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ des französischen Romanciers digital zu lesen, und beschrieb dies als „einzigartige Erfahrung“ (S. 72), die sie bereichert habe. Hier meint Benesch zu erkennen, dass selbst komplexe Texte mit den modernen medialen Systemen kompatibel sind (S. 74). Vielleicht trifft das auf sehr erfahrene, anderweitig geübte Leser*innen wie die US-amerikanische Buchautorin und Zeitungskolumnistin zu. Da Boxer aber kein Digital Native ist, bleibt Beneschs medienoptimistische Folgerung schon deshalb fragwürdig.

Benesch legt eine streitbare Schrift vor, die in ihrer Knappheit seine Empfehlung unterstreicht, kürzere Texte ergänzend zu langen, analog vorliegenden Klassikern in den Lesekanon aufzunehmen. Einen noch knapperen Eindruck vom Autor und seinen Thesen kann man in einem Interview auf Youtube gewinnen.1 Für eine Vertiefung der bei ihm nur angerissenen Fragestellungen empfiehlt sich etwa Gerhard Lauers Werk „Lesen im digitalen Zeitalter“ (Darmstadt 2020), das jüngst in o-bib besprochen wurde.2 Als ein angenehm zu lesender erster Einstieg in die Diskussion um die Zukunft des Lesens ist das Büchlein aber ganz nützlich.

Uwe Lammers, Technische Universität Braunschweig

Zitierfähiger Link (DOI): https://doi.org/10.5282/o-bib/5748

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1 „Mythos Lesen“ ‒ Interview mit Klaus Benesch über die Buchkultur im Informationszeitalter, Youtube. Online: <https://www.youtube.com/watch?v=RodO8TPa2eo>, Stand: 02.08.2021.

2 Hohoff, Ulrich: Rezension zu: Lesen im digitalen Zeitalter / Gerhard Lauer, in: o-bib 8 (2), 2021, S. 1–7. Online: <https://doi.org/10.5282/o-bib/5706>.