Libraries and their architecture in the 21st century/edited by Ines Miersch-Süß. – Berlin, Boston: De Gruyter Saur 2021. – VI, 230 Seiten : Illustrationen, Pläne. – ISBN 978-3-11-068943-3 : EUR 79.95 (auch als E-Book verfügbar)

Die 14 Beiträge dieses Sammelbands gehen auf den ersten „International Library Summit“ zurück, der im Oktober 2019 in Venedig im Rahmen der Kunst-Biennale stattgefunden hat. Veranstaltet wurde dieses Diskussionsforum mit Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus mehr als 20 Nationen von der erst 2017 gegründeten Stiftung der Miersch-Süß Architectural Offices (Dresden). Deren Ziel war es, wichtige Protagonistinnen und Protagonisten des Bibliotheksmanagements zusammenzubringen mit erfahrenen und renommierten Architektinnen und Architekten, die aufsehenerregende Biblio-theksbauten geplant und errichtet haben. Im Zentrum der Tagung stand dabei die Frage, wie sich die gesellschaftliche Rolle der Bibliotheken im Zuge der digitalen Revolution verändert und welche Konsequenzen daraus für den Bau und die Gestaltung von Bibliotheksgebäuden resultieren.

Aus bibliothekswissenschaftlicher Sicht ragen die beiden Überblicksartikel von Achim Bonte und Claudia Lux heraus. Achim Bonte präsentiert eher theoretisch ausgerichtete Überlegungen, bezieht jedoch gleichwohl die Erfahrungen und Entwicklungen an der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek (SLUB) Dresden mit ein. Er identifiziert einen Paradigmenwechsel, demzufolge Bibliotheken sich von Orten, an denen man Dinge erhält, zu Orten wandeln, an denen man Dinge tut. Durch digitale Medien ist nicht nur eine neue Kultur des Lernens und der Kommunikation entstanden, der die Bibliotheken konzeptionell, in ihren Dienstleistungsangeboten, mit ihren Gebäuden und bei der räumlichen Gestaltung Rechnung tragen müssen. Bibliotheken stärken darüber hinaus ihre Stellung im demokratischen System in erheblichem Umfang: Sie unterstützen die Partizipationsfähigkeiten der Menschen, sorgen für Transparenz und fördern kulturelle Diversität und Chancengleichheit. Indem sie wesentlich zur Informations- und zur Meinungsfreiheit beitragen, werden sie zu Garanten des demokratischen Ideals, das von einer verantwortungsvollen, gut informierten Bürgerschaft getragen wird. Am Dresdener Beispiel wird erläutert, wie durch Makerspaces, Text Labs und Open Science Labs auch Formen des nicht-textuellen Wissenserwerbs in das Portfolio einbezogen wurden. Dabei sind aktivierende und animierende Szenarien entstanden, die zudem kollaborative Arbeitsformen unterstützen. Durch attraktive Angebote für „Citizen Scientists“ leistet die Bibliothek außerdem einen Beitrag zur Intensivierung des Austauschs zwischen Hochschule und Gesellschaft. Um diese Ansprüche umsetzen zu können, mussten Teile des vorhandenen Bibliotheksgebäudes umorganisiert werden. Dabei ging es nicht nur um eine Umwidmung etwa des Kartenlesesaals zum Makerspace, sondern auch darum, eine Aufenthaltsqualität zu schaffen, welche so einladend und stimulierend wirkt, dass Nutzerinnen und Nutzer sie als Alleinstellungsmerkmal der Bibliothek erkennen und schätzen.

Claudia Lux liefert in ihrem Beitrag einen interessanten Überblick über die Entwicklung der Bibliotheksarchitektur der letzten Jahrzehnte. Demnach zeichnet sich die Bibliothek der Moderne dadurch aus, dass sie Literatur und Information frei zugänglich macht und so einen neuen demokratischen Zugang zum Wissen eröffnet. Architektonisch schlägt sich dies in einer Abkehr vom Grundsatz der Kontrolle und in der strikten Trennung der Arbeits- und Funktionsbereiche zugunsten offener, transparenter Landschaften nieder. In diesem Konzept der Offenheit zeigt sich eine veränderte Haltung gegenüber Nutzerinnen und Nutzern. Grundlage des neuen Raumprogramms ist das Leitbild aktiver Nutzerinnen und Nutzer geworden, die zwischen isolierter Einzelbetätigung und kollaborativem Engagement wählen können. Bibliotheksräume sind nun offener, flexibler, bieten zahlreiche Begegnungsmöglichkeiten, Aktivitätszonen und Experimentierzonen. Als Paradebeispiele verweist Lux auf die Seattle Public Library und auf das Aarhus Dokk 1. Die amerikanische Bibliothek hat bereits 2004 mit dem sensationellen Neubau Maßstäbe gesetzt. Trotz großzügiger, offener Raumgestaltung entsteht beim Aufenthalt der Eindruck, ein Wohnzimmer mitten in der Stadt betreten zu haben. Dafür sorgt die attraktive Innenausstattung, die den emotionalen Erwartungen der Nutzerinnen und Nutzer entgegenkommt. Gleichzeitig aber werden auch die Ansprüche erfüllt, die durch die Integration digitaler Technologien entstanden sind. Auch die dänische Bibliothek hat seit 2015 für Schlagzeilen gesorgt. Als Bibliothek und Kulturzentrum will Dokk 1 weiterhin ein Ort des Lernens und der Forschung im digitalen Zeitalter sein, will sich zugleich aber als Ort der Aktivität, der Krea-tivität und Innovation sowie als sozialer Treffpunkt profilieren. Verwiesen wird auch auf Andrew Mc Donalds „The Ten Commandments Revisited: the qualities of good library space“. Ein modernes Bibliotheksgebäude muss demnach funktionsgerecht, anpassungsfähig, zugänglich, abwechslungsreich, interaktiv, unterstützend, umweltverträglich, zuverlässig und sicher sowie effizient sein. Zu fordern ist außerdem „the oomph surprising or iconical factor“. Abschließend kommt Claudia Lux zu dem Befund, dass die Entwicklung der gegenwärtigen Bibliotheksarchitektur den Veränderungen der modernen bibliothekarischen Arbeit Rechnung trägt.

Unter konzeptionellen Gesichtspunkten interessant ist auch der Beitrag von Catherine Lau über die Entwicklung und Umsetzung des Masterplans „Libraries for the Future“ am Beispiel der 2017 eröffneten Tampines Regional Library in Singapur. Die Bibliothek ist Teil eines vielfältigen Kultur- und Gemeindezentrums, in dessen Mitte sich ein Fußballfeld befindet. Bibliotheksnutzerinnen und –nutzer können damit wie auf Logenplätzen auf mehreren Etagen das sportliche Geschehen verfolgen. Großen Wert hat man auf die Verzahnung von theoretischem Wissen und praktischem Tun gelegt. So befinden sich z.B. Kochstudios in der Nähe der entsprechenden Bibliotheksbestände. Die Innenräume sind umfassend begrünt und soweit möglich von Tageslicht durchflutet.

In den weiteren Beiträgen des Bandes kommen renommierte Architekturbüros zu Wort, die in der jüngeren Vergangenheit durch die Planung bzw. Errichtung moderner Bibliotheksgebäude hervorgetreten sind. Im Einzelnen sind dies Max Dudler (u.a. Jacob und Wilhelm Grimm Zentrum, Berlin; Stadtbibliothek Heidenheim; Diözesanbibliothek Münster; Staats- und Stadtbibliothek Augsburg), Henning Larsen (u.a. Roskilde Universitetsbibliotek, Dänemark; Universitätsbibliothek Rostock; Albertslund Public Library, Dänemark), Ines Miersch-Süß (Bibliothek des Bauhausarchivs, Berlin; Museum und Bibliothek des Domschatzes Minden), Schmidt/Hammer/Lassen (Dokk 1, Aarhus, Dänemark; University of Bristol Library, Großbritannien; State Library of Victoria, Australien), Snøhetta Arkitektur og Landskab (Bibliotheca Alexandrina, Alexandria; Calgary New Central Library, Kanada; James Hunt Jr. Library, Raleigh, North Carolina; King Abdulaziz Centre for World Culture, Dhahran, Saudi-Arabien), Alterstudio Partners (Stadtbibliothek Melzo, Mailand; Stadtbibliothek Comano Terme, Trento; Medateca, Meda, Lombardei) sowie Gerkan, Marg und Partner (Zentralbibliothek im Kulturpalast Dresden). Gemeinsam ist fast allen Beiträgen ein Mantra, das für Bibliotheken in der digitalen Gesellschaft eine erhebliche Aufwertung prognostiziert, wenn es ihnen gelingt, neue gesellschaftliche Aufgaben zu übernehmen. Schlüsselbegriffe sind in diesem Zusammenhang Nutzerzentriertheit, Interaktivität, Kreativität, Innovation, Experimentierort (Makerspace), Kollaboration, Flexibilität, Offenheit/Transparenz, bürgerschaftliches Engagement, Partizipation, Demokratieförderung, soziale Inklusion oder Diversität. Einig sind sich die Autorinnen und Autoren, dass das modernisierte Angebotsportfolio der Bibliothek veränderte Raumkonzepte erfordert. Auch das Raumdesign sollte die Bibliotheken optimal dabei unterstützen, ihr neues Potenzial zu entfalten und eine Atmosphäre zu schaffen, die dazu beiträgt, dass Nutzerinnen und Nutzer sich in der Bibliothek wohl fühlen und den Besuch auch unter emotionalen Gesichtspunkten als Bereicherung erfahren.

Seinen besonderen Wert erhält der vorliegende Band durch die opulente Bebilderung. Die teilweise recht knappen Projektberichte gewinnen dadurch erheblich an Anschaulichkeit. Hilfreich wäre ein Register der Personen, Institutionen und vor allem Bibliotheken gewesen, in das auch die Illustra-tionen einbezogen werden müssten. Zu wünschen ist ferner, dass diese Veranstaltungsreihe fortgesetzt wird. In den so wichtigen transdisziplinären Dialog könnten dann sicher auch Pädagoginnen und Pädagogen, Soziologinnen und Soziologen, Lernpsychologinnen und -psychologen, Stadtplanerinnen und -planer usw. einbezogen werden. Zielführend wäre darüber hinaus, die neuen Funktionszuschreibungen für Bibliotheken nicht nur politisch und gesellschaftlich zu motivieren, sondern auch informations- und bibliotheksethisch zu begründen.

Hermann Rösch, Bonn

Zitierfähiger Link (DOI): https://doi.org/10.5282/o-bib/5742

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