Zur Erinnerung an Dr. Hermann Leskien

23. Dezember 1939 – 19. April 2021

Wer mit dem bayerischen Bibliothekswesen vertraut die große Treppe der Bayerischen Staatsbibliothek hinaufsteigt und den Blick nach links richtet, sieht zwar die Statue des Bibliotheksgründers, des Wittelsbacher Herzogs Albrecht V., denkt aber sofort an Dr. Hermann Leskien. Er gehörte von 1992 bis 2004 in die lange Reihe derer, die dieser 1558 von dem Renaissancefürsten ins Leben gerufenen Gedächtnis-, Forschungs- und Repräsentations-Einrichtung vorstanden – zuerst als Direktor, seit 1. Juli 1999 auch als Generaldirektor – und sie nachhaltig prägten. Da ist nicht nur die faszinierende Ähnlichkeit mit dem Gründungsvater, seinem Blick, Bart und Denkergestus. Leskien leitete die Bibliothek zu einer einschneidenden Neubeginn-, Wende- und Umbruchszeit: um die Jahrtausendwende, als die Ablösung des Gutenbergzeitalters durch digitale Welten gerade die Bibliotheken vor neue Herausforderungen stellte, in denen sie die zeitlosen Aufgaben des Erwerbens, Erschließens, Erhaltens und Benutzens neu denken und erfüllen mussten.

1939 in Königsberg geboren, studierte Leskien Germanistik, Geschichte und Geografie an der Universität Würzburg und promovierte 1967 mit einer Arbeit zu Johann Georg von Eckhart (1674–1730) – ein biografischer Konnex zu seinem späteren Einsatz für die moderne Konzeption des natio­nalbibliografischen VD 17 lässt sich hieraus aber nicht unbedingt ableiten. 1965 begann er das Referendariat für den höheren Bibliotheksdienst an der Bayerischen Staatsbibliothek München, das er 1967 mit Platzziffer eins abschloss – einer Leistung, der er stets mit angemessener Skepsis begegnete.

Leskien wuchs in die Aufbau- und Expansionszeit des modernen deutschen, ja international vernetzten Bibliothekswesens hinein. Modern hieß für ihn effizient, kundenorientiert, kooperativ, strategisch mit dem für ihn typischen Blick auf betriebswirtschaftlich orientiertes Handeln, den Markt, für den eine Dienstleistung im konzertierten Zusammenwirken mit anderen zu erbringen ist. Zuerst in der Erwerbungsabteilung der UB Würzburg tätig (und im Nebenamt Leiter der Hofbibliothek Aschaffenburg) wurde er 1973 Gründungsdirektor der Gesamthochschul-, später Universitätsbibliothek Bamberg. Der fränkische Hintergrund ist für die Direktoren und Generaldirektoren der Bayerischen Staatsbibliothek der Nachkriegsjahrzehnte eine gewisse Konstante.

1979 kam auch Leskien nach München und wurde Direktor der größten bayerischen Universitätsbibliothek. Hier galt es, die fest etablierten Strukturen des zweischichtigen Systems an der Ludwig-Maximilians-Universität in eine zukunftsorientierte Synergie, ja Synthese zu lenken und zugleich jene inhaltlich noch nicht vorgegebenen Wege zu beschreiten, die neue Informationsmedien und die sich im Bibliothekswesen frühzeitig etablierende EDV erforderten und ermöglichten. Kooperation und Netzwerken waren gefragt und wurden durch die Verbundkatalogisierung zum Alltag im wissenschaftlichen Bibliothekswesen. Als ich 1984 in der UB München als Referendarin begann, beeindruckte mich neben einer top-modern ausgerichteten Informationsvermittlung ein selbstbewusstes Videoreferat. 1985/86 erlebte ich Leskien als Dozenten an der Bibliotheksschule. Von ihm habe ich die Bedeutung betriebswirtschaftlicher Analysen, die Relevanz von Positions- und Strategiepapieren, von Planung und Weitsicht, von Vernetzung und Kooperation in und außerhalb des Bibliothekswesens gelernt. Er verstand es, auf die Forderungen der Zeit zu hören, Neues auszuprobieren, aber auch das, was sich nicht bewährte, wieder loszulassen. Die Zukunftsdynamik des 1990 von Leskien zusammen mit seinem Stellvertreter und Leiter der Handschriftenabteilung bei Harrassowitz Wiesbaden veröffentlichten Werks „Elektronisches Publizieren mit Hilfe des Arbeitsplatzrechners (PC): ein Praxisbericht der Universitätsbibliothek München“ spricht für sich. Aber auch der Blick über die Straße gehörte zu seinem Tagesgeschäft: Er wusste um den Unmut seiner universitären Nutzerinnen und Nutzer, die nur in einem aufwendig verzahnten Verfahren bei hinlänglichem Bedarf und entsprechender Würde „gegenüber“ vorstellig werden durften.

Ende 1992 wurde Leskien Nachfolger von Dr. Franz Georg Kaltwasser, der seit 1972 Direktor an der Bayerischen Staatsbibliothek gewesen war. Die Hoffnung des Ministeriums lag auf ihm. Ich erinnere mich an den eindringlich, fast drohend vorgetragenen Auftrag, die Sache der Studierenden an der BSB „in Ordnung zu bringen“. Er lieferte – tat aber weit mehr. Wie nachhaltig er die Bibliothek prägte, kann man etwa an den Weihnachtsbriefen erkennen, die er – und in seiner Nachfolge bis heute alle Generaldirektoren – jährlich an alle Mitarbeitenden schickte. 1993, nach dem ersten „Arbeitsjahr an der BSB“ hält er fest: „Vielmehr hatte ich erst den Boden zu inspizieren, um die verschiedenen vorhandenen Pflanzen kennenzulernen und die Bodengüte einzuschätzen. Am Ende bin ich guten Mutes.“ Weihnachten 2000 – unter dem Eindruck des Millenniums – betont er „lebenslanges Lernen, radikale Kundenorientierung“, Weihnachten 2003 angesichts erneuter Haushaltskürzungen „Vertrauen auf unsere eigene, oft bewiesene Gestaltungskraft“ – „Wir werden es schon schaffen“, schließlich in seiner Mail als Dank für das Abschiedsgeschenk: „Die Saat wird aufgehen, davon bin ich überzeugt“. Leskien hat sich als Sämann verstanden und erwiesen. Dazu passen seine persönliche Uneitelkeit, die auch die selbstbewusst-eitle Bayerische Staatsbibliothek mit ihrem inhärenten Machtpotenzial nicht überlagern konnte, seine ruhige Unaufgeregtheit auch Missständen und Rückschlägen gegenüber, die er in reicher Zahl erfahren musste. Das Abschiedsgeschenk bestand in einem Foto aller Mitarbeitenden auf der Freitreppe und einer Kassette voller individuell gestalteter Quartblätter, jedes mit einem Höhepunkt seiner Jahre von Ende 1992 bis 30. Juni 2004. Höchst erfreut sah er darin den Nukleus für die noch zu schreibende Geschichte der Bayerischen Staatsbibliothek. Es überraschte daher nicht, dass er dieses Geschenk bald wieder der Bibliothek übergab, damit sie die Geschichte der hier dokumentierten Initiativen bis heute weiterverfolgen kann. Bei vielem, was er zu seiner Zeit als „Forschung und Entwicklung“ sah (ihm stets ein zentrales Anliegen), ist ein reiches Aufgehen der Saat zu konstatieren. Ein besonders einschlägiges Beispiel, das ihn sicher besonders erfreut hätte, ist der Relaunch der digitalen Sammlungen am 21. April 2021. Am 19. April ist Dr. Hermann Leskien nach zweieinhalb besonders schweren Lebensjahren verstorben.

Leskien hat den Wandel der BSB zu einer digitalen Forschungsinfrastruktur und einem großzügigen Servicedienstleister vor Ort und weit darüber hinaus mit hervorragendem Wissen und organisatorischer Begabung betrieben. Sein Handeln bestimmte eine stete Reflexion genauso wie eine effiziente, modern ausgerichtete Kooperation und Kommunikation hausintern, aber auch mit Dritten innerhalb und außerhalb des Staatsdienstes. In der nationalen und internationalen Bibliothekswelt war er mit seiner souveränen, ruhigen Sachorientierung und exzellenten Fachkompetenz hoch geachtet. Das zeigen nicht zuletzt die Kondolenzbekundungen des Consortium of European Research Libraries, dessen offizielle Gründung er in Nachfolge von Kaltwasser betrieben und über die ersten Jahre als Direktor begleitet hatte. Er hatte u.a. den Vorsitz des Bibliotheksausschusses der Deutschen Forschungsgemeinschaft sowie des Beirats der Deutschen Nationalbibliothek und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz inne. Am 4. Oktober 2007 wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz erster Klasse ausgezeichnet.

Zwölf Jahre lang spielte sich meine Karriere an der BSB unter seiner Ägide ab; er ernannte mich 2000 zur Leiterin der Benutzungsabteilung und 2004 zur Leiterin der Abteilung Handschriften und Alte Drucke. Ich habe ihm beruflich sehr, sehr viel zu verdanken. Vor allem aber habe ich ihn immer ganz außerordentlich geschätzt, in seiner feinen, zurückhaltenden und im richtigen Moment klaren, mitunter auch leicht ironischen Art. Auch das Schweigen habe ich von ihm gelernt; eine Lektion, die ich heute besser verstehe als damals; eine Disziplin, in der er Meister war. Andere reden lassen, zuhören, schweigen – nicht überreden, nicht zum Schweigen bringen, aber durch die Macht des Faktischen oder das selbstverständlich Imponierende der Weisheit wirken. Distanz, Überblick und stete Reflexion prägen ihn in meiner Wahrnehmung. Ich habe ihn als feinen Beobachter, aber auch einfühlsamen Kenner der Menschen erlebt. Man konnte seine große Sensibilität erkennen, genauso wie seine stille, aber intensive Freude am Ästhetischen und Musischen. Kein Freund von Geselligkeit, verstand er es doch, die, auf die es ihm ankam, für sich zu gewinnen und allen mit Professionalität und Respekt zu begegnen. Seine unprätentiöse Zurückhaltung und der ihm ganz natürliche Verzicht auf Signale einer Erfahrungs- oder altersbedingten Überlegenheit machten Interesse und Zugewandtheit an der weiteren Entwicklung des Bibliothekswesens und „seiner“ Bibliotheken nur denen erfahrbar, die aktiv auf ihn zukamen. Ich habe ihn schon viele Jahre nicht mehr persönlich getroffen, erinnere mich aber noch gut an unser letztes Gespräch über Themen der Erschließung im Jahr 2012. Objektiv ist seither ein langer Zeitraum vergangen, doch blieb und bleibt mir Herr Leskien gegenwärtig, im Gespräch mit Kolleginnen und Kollegen immer wieder Referenzpunkt, in lebendiger Erinnerung als Vorbild und beeindruckender Mensch. Er möge ruhen in Frieden, wie er es sich gewünscht hat, und jene Erkenntnis der Ewigkeit genießen, die seinem Suchen und Fragen, Gestalten und Verbinden Erfüllung schenkt.

Claudia Fabian, Bayerische Staatsbibliothek München

Zitierfähiger Link (DOI): https://doi.org/10.5282/o-bib/5741

Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 4.0 International