Lauer, Gerhard: Lesen im digitalen Zeitalter / Gerhard Lauer. – Darmstadt: wbg Academic 2020. - 262 Seiten. – (Geisteswissenschaften im digitalen Zeitalter 1). – ISBN 978-3-534-26854-2 : EUR 25.00 (auch als E-Book im Open Access verfügbar)

Dieses Sachbuch über die Veränderungen des Lesens im Zuge der Digitalisierung eröffnet eine neue Buchreihe der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, die sich mit den Geisteswissenschaften beschäftigen wird. Im Zentrum des Bandes, den es sowohl gedruckt als auch in einer Open-Access-Version gibt,1 stehen die Lesekultur mit einem Schwerpunkt auf der sogenannten schönen Literatur, das textbasierte Lesen insgesamt sowie all die Veränderungen, die sich im Zuge einer stärkeren Digitalisierung abzeichnen. Für wissenschaftliche Bibliotheken ist die Neuerscheinung interessant, weil auch Entwicklungen und Projekte, die das Lesen im Rahmen der wissenschaftlichen Arbeit und im Beruf betreffen, ausführlich zur Sprache kommen.

Der Autor Gerhard Lauer war viele Jahre als Germanist in Göttingen tätig und wechselte 2017 auf eine Professur für Digital Humanities an der Universität Basel. Rasch wird deutlich, dass er sehr aufwendige Recherchen geleistet hat, um seine Leser*innen auf diese Tour zu den vielfältigen Formen des Lesens mitzunehmen. Die erste Station des Bandes, der in acht Kapitel gegliedert ist, startet mit dem „Unbehagen in der digitalen Welt“. Bemerkungen zum „Hunger nach Geschichten“, der das Internet mit am Leben erhält, schließen sich an. Ein historischer Rückblick arbeitet die Kritik am Lesen auf. Dann schildern drei Hauptkapitel die Ergebnisse empirischer Studien über die Veränderungen in den Lesegewohnheiten der jungen Generation. Ihnen folgt ein Abschnitt mit „Mutmaßungen über die Zukunft von Buch und Lesen“, bevor das kurze Schlusskapitel die Hauptthesen zusammenfasst.

Schon im Vorwort liest man, dass hier nicht ein weiteres Mal über das bevorstehende Ende der Buchkultur geklagt werden soll. Stattdessen verspricht der Autor zu zeigen, „warum wir auch im digitalen Zeitalter mehr denn je lesen, warum wir unverändert auf eine spezifisch moderne Weise lesen, warum und wie wir das Lesen fördern sollten und sich doch vieles verändert hat und sich wohl auch noch weiter verändern wird“ (S. 7). Er bekennt, er habe auch wegen seiner Kinder so viel Arbeitszeit in das Thema des Buches investiert. Denn durch sie erlebe er, „warum Erziehung notwendig ist, auch wenn das Ergebnis dann ein ganz anderes ist, als es sich Professoren ausdenken mögen“ (S. 8).

Computer und Internet sind längst unentbehrlich. Heute breitet sich ein anderes Unbehagen aus als in früheren Jahrzehnten, als viele den Fernsehkonsum kritisch sahen. Das Netzangebot übertrifft heute an Schnelligkeit jede Weltaneignung durch Bücher und macht das Buch dadurch scheinbar unaufhaltsam überflüssig. Aber: „Solche und ähnliche Diagnosen sind nicht unbedingt das Ergebnis gründlicher Untersuchungen, sondern Symptom einer Verunsicherung über die digitale Leserevolution. Es ist die Stunde der Kulturkritik“ (S. 10). In der Verunsicherung durch die Digitalisierung verfallen Kritiker*innen leicht in eingefahrene alte Denkschablonen. Dann bringen sie wieder einmal den Computer gegen das Buch in Stellung oder eine vermeintlich böse Technik gegen eine vermeintlich gute Errungenschaft der Kultur. Lauer weist solche Kritik in vielen, aber nicht in allen Punkten ab. Als positiven Ansatz vermerkt er, dass die Kritiker*innen auf die Bedeutung des Lesens für das Funktio­nieren der Gesellschaft hinweisen.

Die Kritik am Lesen ist uralt, wie man im Kapitel „Eine kurze Geschichte der Lesekritik“ liest (S. 23-40). Sozusagen die Urszene der Lesekritik findet sich in der Antike in Platons berühmtem Dialog „Phaidros“. Darin kritisiert der Philosoph Sokrates die Einführung der Schrift im alten Ägypten. Sein Argument lautet, die Schrift fördere das Vergessen, weil sie die menschliche Erinnerung in die Schriftzeichen auslagere. Seit dieser Erfindung müsse der Mensch sich nicht mehr selbst und unmittelbar erinnern, weil er den Speicher der Schrift nutzen könne. Wer aber nur aus Geschriebenem lerne, sei in Gefahr, sich fälschlich für weise zu halten, denn Lesende nähmen nur Äußerliches (die durch das Medium vermittelte Realität) in sich auf, nicht aber die Sache selbst.

Die Medienkritik des Mittelalters und der Renaissance dagegen arbeitete sich an der Streitfrage ab, wer berechtigt sei, auf das Bücherwissen zuzugreifen. Spuren davon finden sich auch noch im 19. Jahrhundert, als Kritiker*innen die negativen Folgen der neuen „Lesesucht“ in der einfachen Bevölkerung beklagten. Im 18. Jahrhundert trat dann ein neues Objekt für Lesekritik auf den Plan: das private stille Lesen. Es machte das Buch zu einer Art von persönlichem Begleiter. Damals fasste eine Form des Lesens Fuß, die heute als „identifikatorisch“ bezeichnet wird, und breitete sich aus. Die Lesenden verwandelten sich durch ihre Lektüre quasi in Fans der Hauptfigur, wie Dokumente über Lektüren etwa von Goethes „Werther“ oder Flauberts „Madame Bovary“ zeigen. Dieses immersive, also sich versenkende, „tiefe“ Lesen stieß auf Kritik, weil es angeblich die Lesenden zu stark von der Wirklichkeit entferne. Dasselbe Standardargument verwenden heute viele Eltern gegen eine zu lange Internetnutzung der Kinder. Aus all dem ergibt sich, dass sich das Lesen erst in der Neuzeit zu jener Schlüsseltechnik für das Leben entwickelte, die sie heute ist, „weil sich moderne Gesellschaft nicht anders verstehen kann, als dass ihre Bürger immer auch lesende Bürger sind“ (S. 37f.). Mit diesem gewaltigen Zuwachs an Bedeutung baute sich nach Lauer allerdings auch ein gewaltiger Erwartungsdruck auf, der seitdem auf dem Buch und auf der Lesetätigkeit lastet.

Das nächste Kapitel führt in die Gegenwart zurück. Es fragt danach, ob den Argumenten der Lese­kritik bzw. Medienkritik überhaupt Fakten zugrunde liegen, und wenn ja, welche Fakten. Antworten auf diese Frage findet Gerhard Lauer, indem er den kaum bekannten und nur verstreut publizierten Stand der Leseforschung der letzten 10 bis 15 Jahre durcharbeitet und zusammenfasst, beginnend in Kap. 4, dessen Überschrift eine Formulierung des Publizisten Theodor Lessing aufgreift: „Die medialen Aufpulverungen des Lebens“ (S. 40-87). Hier räumt Lauer gleich auf den ersten Seiten einige Vorurteile der Medienkritik ab, etwa die Thesen vom Verfall der Intelligenz durch Computernutzung oder von der Zunahme jugendlicher Gewalttaten als Folge von zuviel Medienkonsum. Das Problem sei nicht der Medienkonsum, sondern die soziale Verwahrlosung vieler Jugendlicher.

Die Änderungen im Leseverhalten sind an anderer Stelle sichtbar: Die Zahl der genutzten Medienformen ist heute viel größer geworden, und Lesende kommen nicht mehr darum herum, die Informationen selbst zu bewerten und reflektieren. Diese Fähigkeit, in der Psychologie als Metakognition bezeichnet, fehlt aber vielen Internetnutzer*innen, auch wenn sie ganz leicht laufend zwischen den Medien hin- und herwechseln. Wichtig wäre es, dass sie lernten, aktiv Strategien für den Medienwechsel einzusetzen. Beim Aufbau dieser Kompetenzen können Bibliothekarinnen und Bibliothekare sie entscheidend unterstützen – obwohl Lauer unseren Beruf in diesem Zusammenhang nicht erwähnt. Der Zugriff auf jederzeit verfügbare Medien hat bewirkt, dass die Medienforschung Jugendliche, die nach dem Jahr 2000 sozialisiert wurden, gerne als „digital natives“ bezeichnet. Gerhard Lauer lehnt das ab, weil Jugendliche tatsächlich über die Strukturen des Internets und die Logik von Computern in der Regel kaum informiert seien: „Die Kenntnis der digitalen Welt ist fast vollständig auf die Nutzung der Geräte und ihrer populärsten Programme beschränkt“ (S. 54). Daher spreche das Prädikat „digital natives“ einer Generation Sachkunde zu, die sie gar nicht besitze.

Da Jugendliche ihr soziales Leben weitgehend in die sozialen Medien auslagern, wählt auch Lauer die Redewendung vom Internet als „Dorf der modernen Gesellschaften“ (S. 56). Soziale Medien umgäben junge Menschen „wie eine zweite Haut“ (S. 56). Die Ursache dafür sieht er aber nicht etwa in einer Unbeholfenheit gegenüber der Umwelt oder gar in einem Technikwahn. Nein, es gehe um nicht weniger als „ein anthropologisches Grundanliegen, das Teilen von Geschichten, um soziale Bindungen herzustellen“ (S. 64) – egal, ob das eigene Erlebnisse oder You-Tube-Videos von Dritten betrifft. Psychologische Studien haben ergeben, dass das Teilen von Geschichten einen „erhöhten Erregungszustand“ (S. 65) herbeiführt, und diesen Kick steuern Jugendliche gezielt an. Andererseits, so Lauer weiter, halte das Versprechen von Internetgiganten wie Facebook, durch soziale Medien könne man seine sozialen Kontakte steigern, der Überprüfung nicht stand. Denn nach neueren Studien stelle es gar kein sinnvolles Ziel dar, jene 100 bis 200 engeren oder loseren sozialen Kontakte, die mental gesunde Menschen haben, noch zu vermehren (S. 80f.). Ein wichtiges Ergebnis der in diesem Kapitel referierten Untersuchungen lautet: Digitale Medien machen Eltern, Lehrer*innen und Freund*innen ebenso wenig überflüssig wie eine Selbstkontrolle durch die Nutzenden.

Im nächsten Kapitel „Der Computer ist dem Buch sein Tod und andere Falschmeldungen“ (S. 88-124) erfahren wir von Studien aus den USA, wonach das Lesen und die Aktivität in der Gesellschaft dort direkt zusammenhängen: Personen, die Bücher lesen, ob gedruckt oder online, engagieren sich eher in Gesellschaft und Politik. Sie sind auch in Ehrenämtern und bei weiteren bürgerschaftlichen Engagements häufiger anzutreffen als Nichtlesende. Gerhard Lauer erklärt das so: „Lesen lohnt sich, aber nicht deshalb, weil das Lesen Menschen engagierter macht, sondern wohl eher, weil diejenigen, die sich in die Gesellschaft einbringen, auch lesen. (...) Lesen und Verbürgerlichung sind zwei Seiten einer Medaille“ (S. 98f.). Der Rezensent vermutet, dass eine Untersuchung dieser Zusammenhänge sich auch für Deutschland lohnen dürfte.

Eine weitere Studie beschäftigte sich mit der Smartphone-Nutzung bei Jugendlichen. Im Gegensatz zu Älteren und Jüngeren verwenden Jugendliche, die online sind, täglich das längste Zeitkontingent auf den sozialen Austausch; erst danach folgt Medienzeit für die Unterhaltung und an dritter Stelle das Lernen. Allerdings ist bei diesem Punkt zu berücksichtigen, dass das besprochene Buch noch vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie entstand. In jedem Fall wird am Bildschirm sehr viel gelesen und die Leseeindrücke werden digital geteilt. „Lesen wird Teil dieser digitalen Öffentlichkeit, ohne dass das Lesen selbst digital wird. Nicht das Lesen wird digital, sondern die digitalen Medien nehmen das Buch in sich auf“ (S. 109). Diese Integration des Lesens als Rezeptionsakt in die digitale Welt ist ein neues Phänomen.

Ein paralleles Geschehen findet in der Verlagswelt bei der Buchproduktion und im Vertrieb statt. Auch hier gilt das Ziel, sich schrittweise in die digitale Welt zu integrieren. Damit sind wir beim nächsten Kapitel „Das Ende des Literaturbetriebs, wie wir ihn kannten“ (S. 125-158). Es bringt einen guten Überblick, der jedoch für Bibliothekar*innen unter Umständen wenig Neues enthält. Wichtig ist der Hinweis, dass nicht das elektronische Buch, sondern in erster Linie der Online-Handel die Verlagswelt verändert. Aller Verlagsrhetorik, die die Druckkultur weiter hochhält, zum Trotz „sind Verlage auf fast allen Ebenen Teil eines durchdigitalisierten Betriebs geworden, das ist annähernd unvermeidlich“ (S. 137). Deutschland, Österreich und die Schweiz sind der drittgrößte Buchmarkt weltweit und deshalb dürfte sich das Verlagswesen dieser Länder auch nach der Transformation behaupten. Lauer vermutet, dass eine stärkere Verlagskonzentration zu Oligopolen führen wird. Gleichzeitig könnte eine ähnliche Entwicklung wie in der Popindustrie eintreten. Dann würden Bestseller noch stärker für den Ertrag entscheidend, und das übrige Verlagsprogramm wäre von deren Ertrag abhängig.

Die zweite entscheidende Entwicklungslinie in der Digitalisierung des Literaturbetriebs ist dessen Demokratisierung durch internetbasierte Medien. Mittlerweile kann jedermann und jede Frau sich als Autor*in in den Markt einbringen. Daneben ziehen experimentelle Plattformen neue Autorinnen und Autoren an. Das hat zu einer zuvor nie erreichten Vielfalt an Publikationsformen geführt. Sie reichen von digitalen Editionen, die unterschiedliche Medienformate kombinieren, bis hin zum gedruckten Buch mit einer „Auflage“ von nur einem Exemplar. In den letzten Jahren wird zudem immer deutlicher, dass die Internetgiganten Facebook und Amazon sich bemühen, nach und nach alle Rollen im Literaturbetrieb selbst anzubieten, ob für Selfpublisher oder als Dienstleister für herkömmliche Verlage.

Das nächste Kapitel beschäftigt sich mit „Mutmaßungen über die Zukunft von Buch und Lesen“ (S. 159-221). Hier geht es eher um eine Trendanalyse als um eine Prognose. Nur kurz geht Gerhard Lauer hier auch auf den internationalen Publikationsmarkt der Wissenschaften ein. „Die ganz überwiegend von den Steuerzahlern finanzierten Daten der Forschung gehören damit drei oder fünf Weltfirmen, je nachdem, wie man zählt“ (S. 168). Im Gegensatz zum Teilen von Daten in sozialen Netzwerken erlaube der Wissenschaftsmarkt es nicht, Daten zu teilen. Als Ergänzung zu dieser Aussage vermisst der Rezensent einen Hinweis auf das wachsende Volumen wissenschaftlicher Publikationen im kostenfreien Zugang per Open Access. Das Oligopol des Expertenwissens der Wissenschaft, so fährt Lauer fort, sei auf wenige Marktteilnehmer konzentriert. Es habe sich zu einem Problem entwickelt, das über die Wissenschaft hinausreiche. Er spitzt diese Beobachtung gesellschaftspolitisch zu: „Das Wissen gehört damit immer weniger der Gesellschaft, die es bezahlt und erbringt. Eine offene Gesellschaft sieht anders aus“ (S. 168).

Bevor der Autor die Zukunft des Lesens beschreibt, wirft er einige Seitenblicke auf die begonnene Diskussion über das sogenannte zweite bzw. digitale Maschinenzeitalter und auf Projekte, die mit künstlicher Intelligenz arbeiten. Lauer ruft hier mehrere Themen auf und weist etwa auf die Gefahr der digitalen Spaltung hin, bei der wenige profitieren, aber viele ihren Arbeitsplatz verlieren können. Im zweiten Maschinenzeitalter dürfte dieser Verlust auch bisher nicht bedrohte Berufe betreffen, darunter Rechtsanwält*innen, Ärzt*innen oder Wirtschaftsprüfer*innen. Ob es auch uns Bibliothekar*innen treffen kann? Sie sind nicht erwähnt.

Für das Lesen wird es in Zukunft entscheidend sein, dass Lesende in der Lage sind, sich an wechselnde Anforderungen mühelos anzupassen. Die Lesemodi zum Nachdenken über Sachverhalte, zur Vorbereitung einer Diskussion oder Präsentation oder zur Selbsterfahrung unterscheiden sich deutlich. „Es macht einen Unterschied, ob man sich von einem Roman treiben lassen will oder konzentriert einer bestimmten Fragestellung in vielen Veröffentlichungen nachgeht und dazu viele verschiedene Texte zügig durchsehen muss“ (S. 170). In einer digital geprägten Gesellschaft müssten Schulen und Bildungseinrichtungen es als zentrale Aufgabe ansehen, „diese Registerwechsel des Lesens einzuüben“ (S. 171). Zu erwarten sei, dass auch Maschinen das Lesen unterstützen und verstärken. Viel spricht dafür, dass virtuelle Realitäten auch im Bereich der Kultur neue attraktive Erkundungen und Erfahrungen ermöglichen; auch das rasche Hin- und Her-Switchen zwischen Digitalwelt und realer Lebenswelt wird maschinell unterstützt stattfinden. In der Medizin und im militärischen Bereich sind derartige Techniken schon erfolgreich im Einsatz. Wenn die Computer und Daten in Zukunft unser Leben und unsere Körper stärker durchdringen, dann braucht auch das Internet seine bisherige separate – Lauer formuliert: „sichtbare“ – Webstruktur gar nicht mehr. In diesem Setting dürfte das virtuell verstärkte Lesen ein wichtiger Baustein innerhalb der integrierten Infrastruktur für den Alltag werden. Dann könnten z.B. Maschinen Texte schreiben, was etwa im Journalismus erprobt wurde, und sie passend für den individuellen Bedarf anbieten. Maschinen dürften auch dabei helfen, virtuelle Realität und Lebenswirklichkeit gewissermaßen lautlos ineinander gleiten zu lassen. In Sachen Medienkompetenz ist, wie oben erwähnt, schon abzusehen, dass vervielfachte Lesewelten den Lesenden mehr metakognitive Fähigkeiten abverlangen.

Um die angekündigten „Mutmaßungen“ über das Lesen in einer stärker digitalisierten Gesellschaft zu schildern, nützt der Autor die Szenariotechnik. Er präsentiert uns drei Szenarien: ein eher dunkles, ein helles und ein sehr gemischtes (S. 182-221).

Im ersten, dem dunklen Szenario, befördert das Lesen nicht die Entwicklung einer offenen Gesellschaft, sondern es betoniert die jeweils eigene Weltsicht. Man liest das, was Algorithmen aufgrund verfügbarer Daten zur Lektüre vorschlagen. Das Affective Computing, das Emotionen zusätzlich auswertet, dürfte diese Entwicklung noch beschleunigen. „Persönlich werden sich die Leser frei fühlen, doch gewählt haben sie nicht selbst“ (S. 187). In diesem dunklen Szenario werden die Bürgerinnen und Bürger natürlich politisch manipulierbar. Sollte es so weit kommen, so könnte sich die Gleichsetzung des Lesens mit der Freiheit des Einzelnen, die heute noch gültig ist, auflösen.

Im Gegensatz dazu geht das helle, positive Szenario davon aus, dass die Digitalwelt uns künftig mehr Freiheit ermöglichen wird. Lesende tauchen hier in digital verstärkte Realitäten ein und können aus einem viel größeren Leseangebot auswählen. In der Frage, wie das zu organisieren sei, geht Lauer auf Beispiele für positive intelligente Netzlösungen wie die Organisation von Bitcoins und das Bitnation-Projekt ein; auch die Selbstorganisation durch das Netz wie in der politischen Bewegung Arabischer Frühling kommt hier ins Spiel. Nach Lauer werden intelligente maschinelle Helfer mehr Bedeutung im Alltag haben. Sie würden als Assistenzsysteme eingeführt, etwa zu Hause, im Altersheim sowie dank Deep Learning auch in Schulen. Was Bibliotheken anbelangt, so könnten wissenschaftliche Texte in diesem Szenario frei verfügbar und teilbar werden. Lauer wertet in dieser Hinsicht SciHub positiv, erwähnt den großen Beitrag des legalen Open Access aber leider nicht. Bestehende Zugangsschwellen zu Medieninhalten würden abgebaut. Ein spannender kleiner Projektbericht schildert das von Microsoft 2019 begonnene Projekt zur Holoportation (kabellose Übertragung von 3D-Modellen). Dabei wollte man bereits die Möglichkeit erproben, virtuelle Erinnerungsräume in 3D-Strukturen für einzelne Personen aufzubauen (S. 199). Das klingt noch utopisch. Eine Entwicklung in diese Richtung könnte jedoch, wie der Autor kurz und trocken anmerkt, Büchersammlungen in Bibliotheken tendenziell entbehrlich machen.

Dem dystopischen und dem utopischen Szenario zur Zukunft des Lesens folgt das dritte, gemischte Szenario, das der Autor als wahrscheinlich ansieht. In diesem Modell ist das Nutzungsverhalten der Bürgerinnen und Bürger die entscheidende Größe, nach der sich das Miteinander und Ineinander von Alt und Neu, von Modernisierung und Bewahrung richten wird. Dem Aufbau einer einheitlichen Weltbibliothek sind auch hier weiterhin vor allem juristische Grenzen gesetzt. Die Strukturelemente für eine viel stärker vernetzte Zukunft des Lesens sind, wie in den anderen Szenarien, mehr Medienformate, mehr Publikationen in mehr Genres sowie Lesende, die besser als heute navigieren können. Lauer erwartet einerseits sehr viel mehr neue Publikationen, die unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle eines größeren Publikums verbleiben werden, andererseits rechnet er auch für gewohnte Verlagspublikationen mit Zugriffsformen, die ähnlich wie Streaming-Angebote für den Abruf von Filmen gestaltet sein werden. Die Bücherwelt könnte sich in diesem Punkt also nach dem Muster der Filmindustrie umorganisieren – mit positiven wie negativen Folgen. Ein Satz Lauers zum Angebot an Jugendliteratur lässt sich durchaus verallgemeinern: „Diese Lesewelt eine Buchkultur zu nennen, ist vielleicht ein Anachronismus, aber nicht weil die Bücher verschwinden, sondern weil die Leser gar keine Mühe haben, ihre Geschichten in allen Formaten zu finden und zu lesen, von denen das klassische Buch nur noch eines unter vielen ist“ (S. 214). Anzumerken ist noch, dass auch die vor einigen Jahren oft gehörte Kritik, längere Artikel und Bücher würden am Smartphone kaum gelesen, inzwischen als widerlegt gilt.

Im Ganzen wird aus der Lektüre deutlich, dass der Autor ein leicht optimistisches Szenario zur Zukunft des Lesens bevorzugt. Immer wieder neu bietet er in diesem Band faszinierende Geschichten „vom Anfang des neuen Lesens neuer Bücher“ (S. 224) an. Ein großer Pluspunkt des Buches ist die allgemeinverständliche Darstellung der vielfältigen internationalen Forschung über das Lesen. Die Bücher (hier im umfassenden Sinn) der Zukunft werden aufgrund ihrer Grundstruktur in Dateiform in vielfältigen Formen verfügbar sein und können im Prinzip geteilt werden. Lauer geht auf das ganze Spektrum neuer Perspektiven für das Lesen ein. Auf vielen Seiten werden die Leser*innen dazu angeregt, über das Lesen in einer stärker digitalisierten Gesellschaft nachzudenken. Seine anschauliche Darstellung weist viele prägnante Formulierungen auf, die man zitieren möchte. Gelegentlich hält der Autor kurz inne und wirft einen Blick in die Vergangenheit, etwa um die Entwicklung des Buches zum Medium individueller Freiheit und zu einer der Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft zu schildern.

Am Ende des Bandes sind unvermeidlich die Gefahren von Filterblasen für die Demokratie noch einmal anzusprechen. Der Autor hält fest, dass der künftige Nutzen des Lesens als Medium zur Selbstverständigung in der Gesellschaft sich an der Frage entscheiden könnte, „ob die digitalen Lesewelten die bürgerliche Gesellschaft befördern oder zu ihrer Fragmentierung beitragen“ (S. 233). Das Angebot auf allen Feldern der Literaturproduktion wird sich vervielfachen und alle werden mehr lesen als zuvor. Ob die Bürgerinnen und Bürger aber jene Vielzahl an Perspektiven auf ihre Welt, wie Lesestoffe sie anbieten, auch in Zukunft noch wertschätzen, wird sich zeigen.

Ulrich Hohoff, Universitätsbibliothek Augsburg

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1 Abzurufen von der Website des Verlags unter <https://www.wbg-wissenverbindet.de/shop/30811/lesen-im-digitalen-zeitalter>, Stand: 17.04.2021. Ein DOI oder anderer Persistent Identifier scheint leider nicht vergeben worden zu sein.