Themenschwerpunkt

Framework for Information Literacy for Higher Education

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

in unregelmäßigen Abständen werden in o-bib Themenschwerpunkte veröffentlicht. Die vorliegende Ausgabe ist dem aus der US-amerikanischen Bibliothekswelt stammenden Framework for Information Literacy for Higher Education gewidmet.1 In der Geschichte unserer Zeitschrift ist dies bereits der zweite Themenschwerpunkt zum Komplex Informationskompetenz: Heft 1/2017 versammelte zwölf Beiträge, die Impulse zur Förderung von Informationskompetenz geben sollten. Sowohl der damalige als auch der aktuelle Themenschwerpunkt wurden auf Anregung von und in enger Zusammenarbeit mit der Gemeinsamen Kommission Informationskompetenz von VDB und dbv erarbeitet, aus deren Feder auch der größte Teil dieses Editorials stammt. Die Herausgeber*innen bedanken sich für das große Engagement der Kommissionsmitglieder und das konstruktive Miteinander.

Zentraler Bestandteil des aktuellen Themenschwerpunkts ist die Übersetzung des Framework for Information Literacy for Higher Education. Der deutschsprachige Diskurs zum Thema wird durch sie hoffentlich neue Impulse erfahren. Im Sinne des englischen Originals regt die Kommission an, diese erste deutsche Übersetzung, die in vielen Fällen nur eine Übertragung sein kann,2 als „living document”3 zu verstehen. Möge der Text zu neuem Leben erwachen, in neuen Kontexten weiterleben und neue Texte anregen. Und möge für die hier publizierte erste deutsche Gesamtübersetzung des Framework gelten, was als Appell im englischen Original eindringlich formuliert wird: „As a first step, ACRL encourages librarians to read through the entire Framework and discuss the implications of this new approach for the information literacy program at their institution.”4

Aber warum ist überhaupt eine Übersetzung nötig? Alles ist im Fluss. Und dies gilt insbesondere für die sich im beständigen Wandel befindenden Informationsumgebungen und die hierauf reagierenden Angebote der Bibliotheken und Informationseinrichtungen zur Förderung der Informations- und Medienkompetenz. Das vorliegende Heft erscheint fast exakt zehn Jahre nach dem ersten Auftrag der Association of College and Research Libraries (ACRL) an eine eigens eingerichtete Task Force im Juli 2011. Deren Mission war es, die Information Literacy Competency Standards for Higher Education5 des Jahres 2000 auf ihre Zukunftsfähigkeit zu prüfen. Im Ergebnis und nach breiter Diskussion innerhalb der US-amerikanischen Fachcommunity sprach sich diese Task Force für eine umfassende Überarbeitung der Standards aus: Diese sollten aktualisiert werden, „so they reflect the current thinking on such things as the creation and dissemination of knowledge, the changing global higher education and learning environment, the shift from information literacy to information fluency, and the expanding definition of information literacy to include multiple literacies, for example, transliteracy, media literacy, digital literacy, etc.“ 6

Aus deutscher und europäischer bibliothekarischer Sicht bemerkenswert ist der in der gesamten Breite der Gremienstruktur der ACRL und darüber hinaus geführte Diskurs über die unterschiedlichen Entwürfe des Framework bis hin zu seiner finalen Fassung, die im Jahr 2015 von der ACRL verabschiedet und anschließend publiziert wurde.7 Getragen wurde dieser Diskurs gleichermaßen von Wissenschaftler*innen der Library and Information Sciences und von Bibliotheken und Informationseinrichtungen.

Mit der hier vorgelegten Übersetzung des Framework verbindet die Gemeinsame Kommission Informationskompetenz von VDB und dbv die Hoffnung, die Diskussion über eine zeitgemäße Förderung von Informationskompetenz durch Bibliotheken im deutschen Sprachraum, die auch internationalen Standards und Vergleichen standhält, neu anzustoßen. In ihrem Call for papers für o-bib wurde dazu aufgerufen, „die unterschiedlichen Facetten des Framework durch praxisbezogene, innovative, aber auch provokative Beiträge [zu] beleuchten“.8 Die Kommission wurde durch vielfältige Beiträge belohnt, die zeigen, mit welchem Anspruch in bibliothekarischer Praxis und theoretischer Reflexion das Framework inzwischen Teil unseres Fachdiskurses geworden ist.

Eröffnet wird die Reihe der Aufsätze rund um die Übersetzung des Framework durch den Versuch seiner Verortung innerhalb des bibliothekarischen Diskurses. In „Making of oder Lost in translation? Das Framework for Information Literacy for Higher Education: Herausforderungen bei der Übersetzung ins Deutsche und der bibliothekarischen Anwendung“ gehen Oliver Schoenbeck, Marcus Schröter und Naoka Werr nicht nur der Frage nach, inwieweit bereits die Rezeptionsgeschichte der Information Literacy Competency Standards durch die Geschichte ihrer Übersetzung geprägt wurde, sondern rekapitulieren auch Meilensteine der bisherigen Rezeption des Framework. Anschließend präsentieren sie die dem Framework zugrundeliegenden theoretischen Kernideen „in a nutshell“ und geben einen Einblick in die Übersetzungswerkstatt.

Karin Bärnreuther legt in ihrem Beitrag „IK-Vermittlung für Schulklassen mit Wikipedia und dem Framework for Information Literacy for Higher Education“ dar, warum sich gerade das Framework durch seine bewusst offene Konzeption und den starken Praxisbezug im Entstehungsprozess auch für die Zielgruppe Schüler*innen eignet, wenngleich es ursprünglich für den Bereich der Hochschulbildung von der ACRL entwickelt wurde. Dieses Aufbrechen des Fokus von der Zielgruppe Studierende auf Schüler*innen zeigt nicht nur die Bandbreite der Einsatzmöglichkeiten des Framework, sondern konkretisiert auch die methodisch-didaktische Verzahnung der Konzepte hinter dem Framework mit dem Portfolio, das Bibliotheken traditionellerweise in IK-Veranstaltungen für Schüler*innen verwenden. Für die Nachhaltigkeit der Schulungsangebote wird die Online-Enzyklopädie Wikipedia systematisch und im Hinblick auf die Anwendung aller sechs Frames des Framework herangezogen. Bärnreuther öffnet anhand dreier Aspekte im vorliegenden Beitrag ganz neue Perspektiven: durch die Öffnung des Framework für diese Zielgruppe, die Konzeption einer einzigen Schulungsveranstaltung, die alle sechs Frames adressiert, und durch die durchgehende Verwendung von Wikipedia als thematische Grundlage für diese Schulungsveranstaltung.

An der Universitätsbibliothek Basel werden die curricularen Kurse zur Informationskompetenz im Rahmen des Förderprogramms der swissuniversities und im Kontext des Projekts „Digital Literacies“ neu konzipiert und anhand des Framework auf eine neue methodische Basis sowie in einen eigens entwickelten Kompetenzrahmen gestellt. Orientierten sich die bisherigen Basler Veranstaltungen zur Förderung von Informationskompetenz an den Schweizer Standards, so wurde inzwischen eine Begriffserweiterung hin zur Informations-, Daten- und Medienkompetenz vorgenommen. Svetlana Melikov und Cornelia Eitel betten das Konzept des Storytelling in ihren frei zugänglichen Online-Kurs „Tale“ ein – eine Lerngeschichte mit multimedialen Elementen und dem Einsatz von mnemonischen Versen, die die Nachhaltigkeit der im Kurs erworbenen praktischen Handlungsorientierung gewährleisten sollen. Professionell erstellte Videos und Texte werden durch Übungen und Quizze ergänzt und von Selbstlernmaterialien flankiert. Durch die in Anlehnung an Benjamin S. Bloom (1956) in der Taxonomie von Lorin W. Anderson und David R. Krathwohl (2001) formulierten Lernziele jedes „Tale“ werden vor allem diejenigen Haltungen des Framework adressiert, die perspektivisch zu einem umfassenden, metakognitiven Verständnis von Informationskompetenz beitragen.

Einen Erfahrungsbericht aus der Universitätsbibliothek Würzburg mit dem Framework liefern Gabriele Blümig, Diana Klein und Simone Wolf mit der Neukonzeption eines Kurses für Erstsemesterstudierende der Medizin. Ein Ausgangspunkt der Überlegungen bei der Kurskonzeption ist die hervorragende Eigenschaft des Framework, die Funktionsweise von Wissenschaft und das Tun der Wissenschaftler*innen durch die inhärente Theorie der Schwellenkonzepte zu beschreiben. Den Studierenden kann so die eigene Fachkultur (im vorliegenden Beispiel die Medizin) und der Wissenschafts- und Forschungsprozess insgesamt in einem ganzheitlichen Ansatz illustriert werden. Die für alle Erstsemester der Medizin verpflichtende Lehrveranstaltung wurde im Zuge der Herausforderungen durch die Corona-Pandemie in ein genuin digitales Format überführt.

Cindy Leppla und Armin Wolf widmen sich der Frage des Zusammenspiels von Informationskompetenz und Forschungsdatenmanagement und betrachten vergleichend das Framework und den aktivitäts- und eigenschaftsorientierten Datenlebenszyklus. Daraus leiten sie ein integratives Modell der Informationskompetenzvermittlung (IMIK) ab, das durch den Datenlebenszyklus (DLZ) angereichert wird. Auf Basis des im Beitrag vorgelegten Konzepts des neuen IMIK-Modells können perspektivisch zielgruppenspezifische Schulungsangebote für die Bereiche Informationskompetenz und Datenkompetenz auf verschiedenen Niveaustufen entwickelt und durchgeführt werden.

Die Arbeitsgruppe Informationskompetenz im Bibliotheksverbund Bayern (AGIK Bay) veröffentlichte im Oktober 2020 das interaktive E-Tutorial S.P.U.T.N.I.K. zur Förderung der Informationskompetenz von Schüler*innen der Oberstufe, das sich inhaltlich am Framework orientiert. Gabriele Blümig und Naoka Werr zeichnen die Entstehung des Tutorials in Kooperation mit Studierenden des Fachbereichs Archiv- und Bibliothekswesen der Hochschule für den öffentlichen Dienst in Bayern nach und erörtern die Herausforderungen bei der finalen Umsetzung durch die Universitätsbibliothek Würzburg.

Michaela Zemanek legt am Beispiel ihrer eigenen Lehrveranstaltung für Lehramtsstudierende der Psychologie und Philosophie an der Universität Wien dar, dass sich das Framework auch für „one-shot-Veranstaltungen“ im Sinne einer „Conceptual Change Strategy“ eignet. Durch die dem Framework zugrundeliegenden Schwellenkonzepte als Ausprägung der epistemischen Überzeugungen einer Fachdisziplin kann die konzeptionelle Veränderung bei den Lernenden durch fachwissenschaftliche Vorstellungen hervorgerufen werden. Gleichzeitig wird der diskurshafte Charakter der Wissenschaften augenfällig gemacht. Praktisch realisiert wird der konzeptionelle Wandel durch „Interventionen“ zu epistemischen Überzeugungen der Fachdisziplin, die zum Nachdenken anregen sollen und verschiedene Frames abrufen. Zur Illustration und zur Verdeutlichung der Unterschiede von Alltagswissen und Fachwissen wird auf Online-Tools und die „Millionenshow“ zurückgegriffen.

Einige Best-Practice-Beispiele zum Framework nutzen – wie gezeigt – auch heute schon dessen Impulse für Vermittlungsangebote außerhalb der Universitäten. Dabei beschreibt das Framework ausdrücklich den akademischen Diskurs. Oliver Schoenbeck hinterfragt in seinem Beitrag die Allgemeingültigkeit des Framework-Ansatzes. Dazu analysiert er die Argumentation und Sprache des Framework, indem er vor allem die beiden zentralen Begriffe „information“ und „literacy“ genauer betrachtet. Er stellt schließlich die Frage, ob es nicht eines differenzierteren Konzeptes von „information literacy“ und in der Folge auch Informationskompetenz braucht, um verschiedenen Diskursen in der digitalen Gesellschaft gerecht zu werden.

Zusätzlich zu den Beiträgen in der Rubrik „Themenschwerpunkt“ werden in diesem Heft von o-bib natürlich wie immer auch weitere Artikel unterschiedlichen Charakters veröffentlicht. In gewohnter Weise werden die Beiträge freigeschaltet, sobald sie fertig bearbeitet sind. Wir hoffen, dass die Lektüre dieses besonderen Heftes Sie in vielfältiger Weise anregt!

Für die Gemeinsame Kommission Informationskompetenz von VDB und dbv

Oliver Schoenbeck, Marcus Schröter und Naoka Werr

Für das o-bib-Team

Achim Oßwald und Heidrun Wiesenmüller

Zitierfähiger Link (DOI): https://doi.org/10.5282/o-bib/5704

Dieses Werk steht unter der Linzenz Creative Commons Namensnennung 4.0 International.

1 Association of College and Research Libraries: Framework for Information Literacy for Higher Education. Chicago 2015. Online: <http://www.ala.org/acrl/standards/ilframework>, Stand: 17.04.2021.

2 Vgl. dazu den Beitrag „Making of oder Lost in translation? Das Framework for Information Literacy for Higher Education: Herausforderungen bei der Übersetzung ins Deutsche und der bibliothekarischen Anwendung“ von Oliver Schoenbeck, Marcus Schröter und Naoka Werr im vorliegenden Heft.

3 Framework for Information Literacy for Higher Education, Appendix 1, S. 24.

4 ebd.

5 Association of College & Research Libraries: Information Literacy Competency Standards for Higher Education, Chicago 2005. Online: <https://alair.ala.org/bitstream/handle/11213/7668/ACRL%20Information%20Literacy%20Competency%20Standards%20for%20Higher%20Education.pdf>, Stand: 17.04.2021.

6 Framework for Information Literacy for Higher Education, Appendix 2, S. 29.

7 ebd., S. 29-31.

8 o-bib: Call for papers für den Themenschwerpunkt „Framework for Information Literacy for Higher Education“, VDBlog, 23.05.2020, https://www.vdb-online.org/2020/05/23/o-bib-call-for-papers-fuer-den-themenschwerpunkt-framework-for-information-literacy-for-higher-education/, Stand: 17.04.2020.