Bibliotheken als Orte kuratorischer Praxis / herausgegeben von Klaus Ulrich Werner. – Berlin, Boston: De Gruyter Saur 2021. – VI, 259 Seiten : Illustrationen. – (Bibliotheks- und Informationspraxis 67). – ISBN 978-3-11-067358-6 : EUR 69.95 (auch als E-Book verfügbar)

Der lesenswerte Band greift das Thema „Kuratieren in Bibliotheken“ aus unterschiedlichen Perspektiven auf. Dabei bleiben, wie Herausgeber Klaus Ulrich Werner einleitend ausführt, Ausstellungen als traditionelle Vermittlungsform sowie data curation als zeitgemäße IT-getriebene Tätigkeit in Bibliotheken ausgeklammert. Vielmehr geht es um eine Erweiterung des klassischen Begriffs des „Kuratierens“ – des „sich Kümmerns“ im Sinne des Bewahrens, Auswählens, Erschließens, Vermittelns und Verknüpfens von Kunst – sowie dessen Übertragung auf die bibliothekarische Praxis. Ein leitendes Motiv sind dabei partizipative Ansätze, die die Nutzer*innen nicht nur einbeziehen, sondern zu Akteur*innen und Partner*innen der Wissensproduktion machen.

Jan-Tillmann Rierl führt in seinem konzisen theoretischen Beitrag den „erweiterten Kuratierungsbegriff“ ein, der eine „durchdachte oder geschmackssichere Auswahl vor dem Hintergrund eines überbordenden Gesamtangebots betont“ (S. 7). Sodann arbeitet er, ausgehend vom ursprünglichen Begriff, die Charakteristika erweiterten Kuratierens in der Kunst heraus, verortet dieses in gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen und macht es schließlich im Kontext von Bibliotheken fruchtbar. In der Kunst lasse, so Rierl mit Berufung auf Hans-Ulrich Obrist,1 die Funktion der Ausstellungsmacher*innen die übrigen traditionellen Aufgabengebiete der Kurator*innen, insbesondere das Bewahren, zunehmend verblassen. Die Tätigkeit des Kuratierens verdränge die Person des Kurators bzw. der Kuratorin. Dabei zeichne sich anspruchsvolles Kuratieren durch „intendierte Relationalität (…) mit dem Ziel der Bedeutungsproduktion“ (S. 16) aus. Eingebettet in Andreas Reckwitz’ Theorie der Spätmoderne,2 die in der Vorherrschaft der sozialen Logik des Besonderen (statt des Allgemeinen) das Signum der Epoche sieht, entwickelt Rierl den Begriff des erweiterten Kuratierens als Praktik der Singularisierung und Valorisierung (S. 22f.). Gerade weil kuratierende Praktiken den Werten und dem Lebensstil der „neuen Mittelklasse“ entsprechen, sollte – so das programmatische Fazit Rierls – „Kuratierung ein Angebot unter vielen bleiben“, wenn Bibliotheken „ihren gesamtgesellschaftlichen Auftrag nicht aufgeben“ (S. 36) und für andere Milieus relevant bleiben wollen.

Mehrere Beiträge beschäftigen sich mit Citizen Science in Bibliotheken. Zusammengehalten werden sie durch die Einschätzung, dass es sich bei Citizen Science um eine Form partizipativen Kuratierens handele, das Bibliotheksbestände betrifft und/oder in Räumen und mithilfe von IT-Infrastrukturen von Bibliotheken stattfindet. Jens Bemme und Martin Munke plädieren engagiert für „Open Citizen Science“. Darunter verstehen sie den „bürgerwissenschaftliche[n] Umgang mit offenen Kulturdaten und die zur Nachnutzung und weiteren Bearbeitung offene Präsentation der Ergebnisse“ (S. 167f.). Voraussetzung für eine erfolgreiche Kooperation von Bibliotheksmitarbeitenden, Citizen Scientists und weiteren Akteur*innen sei Openness im Sinne von institutionellen Open-GLAM3-Strategien, von offenen Schnittstellen und Linked-Open-Data-Infrastrukturen, aber auch als Geisteshaltung und handlungsleitendes Prinzip. An konkreten Beispielen aus der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden machen sie deutlich, wie wichtig die Verknüpfung von realen und digitalen Räumen für das Gelingen der Zusammenarbeit von Bibliotheken und Citizen Scientists ist. Eva Bunge kommt zum Ergebnis, dass eine bürgerwissenschaftliche Erschließung von Bibliotheksbeständen – Crowdsourcing als spezifische Form von Citizen Science – nicht unbedingt effizienter ist als die Erschließung durch eigenes Personal. Besteht jedoch in Bibliotheken die Bereitschaft, Kontrolle zugunsten von echter und nachhaltiger Partizipation der Freiwilligen abzugeben, können Bestände prägnant platziert werden. So wird die Relevanz bibliothekarischer Sammlungen im digitalen Zeitalter aufgezeigt. Letzteres unterstreicht auch Simone Waidmann mit Hinweis darauf, dass gerade Sonderbestände das Interesse einer weltweit verstreuten Community von Freiwilligen wecken, sodass Citizen-Science-Aktivitäten die internationale Visibilität einer Institution erhöhen. In ihrem Überblick über erfolgreiche Crowdsourcing-Projekte unterscheidet Waidmann zwischen der OPAC-Anreicherung durch die Benutzenden und der Sacherschließung durch social tagging einerseits und der Erschließung von Sonderbeständen durch die Crowd andererseits. Zu den Vorbildern, deren Erfahrungen in künftigen Projekten fruchtbar gemacht werden sollten, zählt sie die Korrektur der OCR-Ergebnisse im Australian Newspapers Digitisation Program,4 das Transkriptionstool der kooperativen Schweizer Plattform e-manuscripta,5 die Erschließung des Swissair Fotoarchivs in der ETH-Bibliothek, social tagging und Kommentierung urheberrechtsfreier Bildbestände auf The Commons6 sowie die Kuratierung einer Ausstellung des Brooklyn Museum durch die Crowd.

Auf die Frage, inwiefern Bibliotheken bei der Bestandsentwicklung und Sacherschließung im Sinne des vorliegenden Bandes „kuratieren“, gehen mehrere Beiträgerinnen und Beiträger eher am Rande ein und geben darauf unterschiedliche Antworten. Manuel Hora hingegen stellt die Sacherschließung ins Zentrum seiner Überlegungen. Eher skeptisch gegenüber social tagging und automatischer Sacherschließung, hebt er die Vorteile intellektueller Sacherschließung hervor, argumentiert aber zugleich, dass Bibliotheken ihre Aufwände von der Erschließung der Einzeltitel hin zum Kuratieren von Normdateien und der Pflege von Konkordanzen verschieben, die Modernisierung der RSWK vorantreiben und die Discovery-Systeme so weiterentwickeln sollten, dass auch die Über- und Unterbegriffe eines GND-Schlagworts in das Ranking einfließen.

Ein weiterer Themenkomplex des Bandes ist das Kuratieren von und in Räumen. Die Zentral- und Landesbibliothek Berlin macht am Standort Amerika-Gedenkbibliothek (AGB) aus dem arbeitsrechtlichen Verbot, das die Sonntagsöffnung von öffentlichen Bibliotheken verunmöglicht, eine Tugend: Ein Kollektiv aus der freien Berliner Kunst- und Kulturszene betreibt in den Räumen der AGB das sonntagsbureau und führt sonntags ohne Mitwirkung von Bibliothekspersonal ein Programm von Veranstaltungen durch, das partizipativ mit den Besucherinnen und Besuchern gemeinsam entwickelt und somit ko-kuratiert wird (Tim Leik). Klaus Ulrich Werner stellt zunächst klar, dass die Idee des Coworking Space aus der kommerziellen Arbeitswelt stammt und somit explizit nicht der Idee von der Bibliothek als Drittem Ort entspricht. Ausgehend von dieser Beobachtung analysiert er detailliert Raumkonzepte und einzelne Elemente räumlicher Gestaltung, die eine das Lernen unterstützende Aufenthaltsqualität fördern, eine inspirierende Arbeitsatmosphäre schaffen und kreative Zusammenarbeit sowie Vernetzung ermöglichen können. Neben ausführlichen theoretischen und konzeptionellen Überlegungen gibt er einen Einblick in drei Bibliotheken, die in jüngster Zeit neue Strategien der räumlichen Gestaltung umgesetzt haben: die Universitätsbibliothek Freiburg, die Hochschulbibliothek der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Winterthur und die Stadtteilbibliothek in Köln-Kalk.

Kürzere „Fallstudien“ stellen weitere konkrete Beispiele von kuratorischer Praxis in Bibliotheken vor. In der Kunstbibliothek Sitterwerk (St. Gallen) verändern die Benutzerinnen und Benutzer permanent die Aufstellungsordnung des Buchbestands gemäß ihren aktuellen Forschungsinteressen (Roland Früh). Dem Ziel, die Bibliothek enger an die Ausstellungstätigkeit der Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig anzubinden, dienen spezifische Verknüpfungen und Links im Bibliothekskatalog (Nicole Döll und Vera Lauf). Die Münchner Stadtbibliothek öffnet sich neuen Formen der Vermittlungsarbeit, indem sie die Kuratierung von Content in den Sozialen Medien dezentralisiert, mit niederschwelligen Formaten wie einer Pinnwand die Interaktion der Nutzerinnen und Nutzer untereinander sowie mit dem Bibliothekspersonal fördert und die Navigation der neuen Website in einem partizipativen Prozess erarbeitet (Karin Schuster). Ihre Teilnahme am Kultur-Hackathon „Coding Da Vinci“ lohnte sich sowohl für die Sichtbarkeit der bis dahin nicht erschlossenen Sammlung historischer Speisekarten als auch aus der Sicht der Personalentwicklung (Anke Buettner). Die New York Public Library (NYPL) hob in den letzten Jahren einzelne Medien aus ihrem Gesamtbestand heraus und vermarktete diese auf besondere Weise: Das Personal sprach auf verschiedenen Kanälen dafür Empfehlungen aus, der gesamte E-Book-Bestand wurde in einer einzigen App zusammengeführt und fünf gemeinfreie Werke wurden als sogenannte „Insta Novels“ grafisch aufbereitet und auf dem sozialen Netzwerk Instagram publiziert. Diese Aktivitäten hatten einen messbaren Einfluss auf das Leseverhalten und die Ausleihe, der statistisch signifikant ist. Die quantitativ auswertbaren Veränderungen seien dennoch zu klein, um eine Fortführung dieser Aktionen in der NYPL zu rechtfertigen. Wenn dies geschehen soll, sind strategische Überlegungen und der positive Einfluss auf die Reputation – das neuartige Format der Insta Novels zog internationale Medienaufmerksamkeit auf sich und wurde bald von anderen Institutionen nachgeahmt – dafür entscheidend (Johannes Neuer).

Zwei Interviews des Herausgebers mit der freien Kuratorin Friederike Hauffe und dem Initiator des „Salons für Kunstbuch“ in Wien, Bernhard Cella, komplettieren den anregenden Band, der Bibliotheken dazu einlädt, mit neuen Arbeitsformen und Vermittlungsformaten zu experimentieren.

Stefan Wiederkehr, Zentralbibliothek Zürich

Zitierfähiger Link (DOI): https://doi.org/10.5282/o-bib/5688

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1 Obrist, Hans Ulrich: Kuratieren!, München 2005.

2 Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017.

3 Das Akronym GLAM steht für Galleries, Libraries, Archives, Museums.

4 Trove: Text correction, <https://trove.nla.gov.au/help/become-voluntrove/text-correction>, Stand: 07.03.2021.

5 e-manuscripta, <https://www.e-manuscripta.ch/>, Stand: 07.03.2021.

6 The Commons, <https://www.flickr.com/commons>, Stand: 07.03.2021.