„Information Literacy“ im Framework

Ein universelles Verständnis von Informationskompetenz?

Oliver Schoenbeck, Bibliotheks- und Informationssystem der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.

Zusammenfassung

Das Framework for Information Literacy for Higher Education entwirft ein spezifisches Verständnis von Informationskompetenz als Grundlage für die Teilnahme am akademischen Diskurs. Über die Frage nach dem impliziten Gebrauch von information und literacy als zentralen Begriffen fragt der Beitrag nach der Übertragbarkeit dieser Sicht von Informationskompetenz auf andere Diskurse als den akademischen.

Summary

The Framework for Information Literacy for Higher Education sketches a specific understanding of information literacy as the basis for participating in scholarly discourse. By investigating the implicit usage of information and literacy as terms central to the Framework, the article raises the question in how far this view of information literacy is transferable to discourses outside the scholarly community.

Zitierfähigiger Link (DOI): https://doi.org/10.5282/o-bib/5670

Autorenidentifikation: Schoenbeck, Oliver: GND: 122051882

Schlagwörter: Framework for Information Literacy for Higher Education, Informationskompetenz

Dieses Werk steht unter der Linzenz Creative Commons Namensnennung 4.0 International

1. Zum Ansatz des Framework

Das Framework for Information Literacy for Higher Education in der Form,1 wie es von der ACRL veröffentlicht ist, leistet zweierlei. Zum einen wird in den sechs Frames eine theoretisch-didaktische Grundlegung geschaffen für ein flexibles Model von Informationskompetenz als Schlüsselkompetenz in der Hochschulbildung. Mit der wiederkehrenden Unterscheidung von novice learners und experts als „Verwender“ (users) von Informationen wird literacy bzw. Kompetenz als eine graduell zu entwickelnde Qualität von Individuen verstanden. Zum anderen wird in der Einleitung und den Anhängen grundsätzlich der Anspruch formuliert, dass die nötigen Vermittlungsaufgaben gemeinschaftlich von verschiedenen Ebenen und Institutionen des (amerikanischen) Hochschulwesens gestaltet und wahrgenommen werden sollen. Da das Framework eine Veröffentlichung des Verbands der US-amerikanischen Hochschul- und Forschungsbibliotheken ist, kommt Bibliotheken eine entscheidende Rolle bei den Vermittlungsaufgaben zu.

Der Rückgriff auf Schwellenkonzepte, die in den Frames formuliert werden, ist eine bewusste Loslösung von der Formulierung enger Lernziele und etablierter „Standards“ der Informationskompetenz.2 Mit dem Einsatz von Standards – zunächst in den USA und in der Folge auch in der Bundesrepublik – wurde ein wenig flexibles Bild von Studierenden als vornehmlich Lernenden gezeichnet, die zur Kompetenzentwicklung klar definierte Inhalte verstanden haben müssen.3 Im Geflecht von Schwellenkonzepten und mit dem Blick auf die Entwicklung von novice learners zu experts zeigt sich mit dem Framework ein facettenreicheres Verständnis von Kompetenzentwicklung als Zusammenspiel von Lernerfolg und Praxiserfahrung. Auch novice learners sollen immer schon aktiv am akademischen Diskurs teilnehmen. Wissenspraktiken – knowledge practices – konkretisieren daher die Konzepte der einzelnen Frames. Die Loslösung vom Ansatz der Standards befördert so einerseits didaktisch gesehen eine größere Handlungsorientierung, indem über beispielhafte Praktiken mögliche Anwendungen der Konzepte benannt werden. Andererseits ergibt sich aber auch ganz grundsätzlich für das Verständnis von information literacy eine größere Praxisnähe durch eine klarere Einbettung in die wissenschaftlich-akademische Praxis: erst durch aktive Teilhabe am akademischen Diskurs kann information literacy sinnvoll angewandt werden.

Was das Framework in dieser sehr pragmatischen Ausrichtung nicht liefert, ist eine grundsätzliche Definition der beiden Begriffe information und literacy, die dem Ansatz zugrunde liegen. Das Framework sieht sich zwar bewusst als weiteren Beitrag in einer schon länger andauernden Fachdiskussion zum Thema und setzt damit auch auf entsprechendes Vorwissen. Doch im Appendix 2 zum Entstehungshintergrund des Framework zeigt sich auch deutlich, dass mit dem Neuansatz ein eigenes Verständnis beider Begriffe gesetzt werden soll.4 Insbesondere für den Begriff information fällt dabei auf, dass er im ganzen Framework recht unkritisch auch losgelöst von literacy verwendet wird. Im Folgenden soll ein genauerer Blick auf das dem Text implizite Verständnis von information und literacy geworfen werden, da beide natürlich zentral für das hier gestaltete Konzept der Informationskompetenz sind. Der so aus dem Framework gewonnene Begriff von Informationskompetenz legt die Frage nahe, ob die einfache Übertragung des akademischen Konzepts von Informationskompetenz auf andere Diskurse legitim ist, oder ob diese Diskussion in gesellschaftlicher Perspektive ausgeweitet werden muss.

2. Der Informationsbegriff des Framework

Definitionen von „Information“ gibt es naturgemäß viele, weil ein großes Spektrum von Verwendungszusammenhängen des Wortes in Informationswissenschaft, Alltag, Recht uvm. abgedeckt werden muss.5 Das englische information besitzt keinen Plural, im Deutschen ergeben sich durchaus unterschiedliche Bedeutungen für die Verwendung eines eher abstrakten Begriffs von Information und Informationen im Plural, die immer inhaltlich konkretisiert verstanden werden. Ein Konsens mag insgesamt vielleicht darüber bestehen, dass eine Information eine codierte Nachricht ist, die als solche eines Senders und eines Empfängers bedarf. Das Framework konkretisiert diese Grundelemente für den akademischen Diskurs. Etwas vereinfacht könnte man sagen:

Insbesondere die Produktion (creation) und Verbreitung von Informationen wird im Framework viel stärker betont als beim überkommenen Verständnis von Informationskompetenz, das die Rolle des Empfängers betonte.6 Dies war sicherlich auch der klassischen Aufgabe von Bibliotheken (Bereitstellung von Informationen) geschuldet, waren Bibliotheken doch auch die Einrichtungen, die die entsprechende Diskussion zunächst beförderten. Dass die Rolle des Senders zunehmend wichtiger wird, liegt wiederum auch daran, dass im zunehmend digitalisierten Wissenschaftsbetrieb die Verbreitung von Informationen nicht mehr an den Zugriff auf bestimmte, kostenintensive Technologien gebunden ist, wie sie für das analoge, gedruckte Zeitalter entscheidend waren.

Im Framework findet sich eine direkte Aussage über die Qualität von Information(en) im Frame „Information Has Value“: „Information possesses several dimensions of value […]“7 als wirtschaftliche Ware im engeren Sinne und im weiteren Sinne über ihren Zweck z. B. als Bildungsinhalt oder Mittel des Zugriffs auf die Welt. Im spezifischen Kontext der Hochschulbildung und der akademischen Praxis folgt aus dem Wert der Information als individuelle „Schöpfung“ der Respekt gegenüber der Urheberschaft; in den akademischen Konventionen zum Zitieren kann eine Codierung eben dieser Wertdimension gesehen werden. Die weitere Betonung darauf, dass der Wert von Information auch für „civic, economic, social, or personal gains“8 aktiv eingesetzt werden kann, unterstreicht hier das Verständnis von information literacy als ganzheitlich auf die Teilhabe am akademischen Diskurs bezogen – das Senden ist vom Empfangen nicht zu trennen. Daraus folgt eine immer schon doppelte Rolle der am Diskurs Teilnehmenden. Gerade für Studierende als novice learners wird daher von vornherein die Verantwortung im Umgang mit Information(en) betont. Dies wird hergeleitet aus der Tatsache, dass, wer neu im akademischen Umfeld ist, heute aus dem privaten Umgang mit Information häufig schon aus einem Umfeld kommt, in dem gilt: „‘free‘ information and related services are plentiful“.9

Die Frames implizieren auf diese Weise ein spezifisches Verständnis des Begriffs information: aus Sicht des Framework handelt es sich bei information um eine Äußerung im akademischen Diskurs. Information kann sich in verschiedenen Medien-Formaten manifestieren,10 sie ist an die Autorität einer Sprecher*in gebunden,11 sie kann verstanden und hinterfragt werden,12 sie kann Positionen pluralistisch abbilden13 etc. Aber sie ist immer ein Schritt hin zum Erkenntniszuwachs innerhalb einer Fachdisziplin. So werden die Ansprüche von Sender, Empfänger und Code im Framework konsequent auf diesen Verwendungszweck hin dekliniert. Information literate ist in diesem Sinne, wer die entsprechenden Codierungen für Urheberschaft, Autorität, Wert etc. im akademischen Diskurs lesen und bedienen kann. Dabei ist es unerheblich, ob es sich um empirische oder hermeneutische Wissenschaften handelt.

Die schrittweise Ausdifferenzierung der Verbreitungswege von Informationen in den letzten Jahrzehnten vom gedruckten und elektronischen Buch über die gedruckte Zeitschrift und das E-Journal bis hin zur Open-Access-Publikation und den Möglichkeiten der Informationsverbreitung über Soziale Medien bedürfen also eines eigenen, ausdifferenzierten Satzes an Wissen und Fertigkeiten, der die Rolle des Senders im Verständnis von Information betont – mit Folgen für das Gefüge der Wertschöpfungen und Autoritäten im akademischen Diskurs. Eine etablierte wissenschaftliche Position anzufechten ist deutlich einfacher (wenn auch nicht einfach), wenn die „informationellen Produktionsmittel“ im Internetzeitalter quasi zum Nulltarif genutzt werden können. Eine Situation, die im Kontext gedruckter, analoger Verbreitung von Inhalten einfach nicht existierte. Damit ist das informationskompetente Sprechen als Teil akademischer Kompetenz heute wichtiger als früher. Das führt zum zweiten Kernbegriff der information literacy.

3. Literacy als Kern der Teilhabe

Während information im Framework immer wieder „freistehend“ verwendet wird, kommt der Begriff literacy quasi nur im Kompositum information literacy vor. Es soll hier nicht versucht werden, die fachlichen Kontroversen um „literacy“ und unsere landläufige deutsche Übersetzung mit „Kompetenz“ aufzuarbeiten. Auch für diese beiden Begriffe gilt, dass die Zahl der Definitionen ihren Ursprung in der großen Zahl unterschiedlicher Verwendungszwecke hat. Vielmehr soll nach dem dem Framework eigenen Verständnis des Begriffs gefragt werden.

Tatsächlich hat sich für das Wort literacy international eine übertragene Verwendung etabliert als Bestandteil von Komposita wie data literacy, media literacy, IT literacy etc., die sich von der ursprünglichen Bedeutung der „Lese- und Schreibfertigkeit“ abgelöst hat.14 Einige dieser literacies haben sich mittlerweile auch in der deutschsprachigen Diskussion etabliert. Was diese literacies verbindet, ist einerseits natürlich, dass es sich immer um ein komplexes Bündel von Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissen handelt, die – wenn man literate ist – den selbstbestimmten und zielgerichteten Umgang mit einer Materie ermöglichen: Wer die Techniken des Schreibens und Lesens beherrscht, kann niederlegen, was er ausdrücken möchte und die Äußerungen anderer verstehen. Die „erweiterte“ Definition von information literacy, die das Framework liefert, macht aber noch einen weiteren Aspekt deutlich, der entscheidend für die Beherrschung dieser Techniken ist:

Information literacy is the set of integrated abilities encompassing the reflective discovery of information, the understanding of how information is produced and valued, and the use of information in creating new knowledge and participating ethically in communities of learning.15

In den Begriffen use und participating steckt dieser weitere Aspekt: Die zielgerichtete Anwendung der beschriebenen Fähigkeiten, um an einer Gemeinschaft teilzuhaben. Dies mag der entscheidende Punkt einer literacy sein: dass man data, media, IT, oder eben information so zum eigenen Zweck anwenden kann, dass eine individuelle Teilhabe an fachlichen und anderen Gemeinschaften möglich ist. Damit reicht es nicht, Werkzeuge erlernt zu haben, Codes zu kennen, Abläufe zu beherrschen u. ä. Literate ist, wer dies alles in Verbindung so anwendet, dass er im Ergebnis nicht den Eigenschaften der Werkzeuge, Codes und Abläufe ausgeliefert ist, sondern sein eigenes Anliegen ausdrücken und sein Ziel damit erreichen kann. Auch die ursprüngliche Lese- und Schreibfertigkeit – literacy – beschreibt in diesem Sinne letztlich den Zustand, einen sozialen Code (hier: die Schrift) nicht nur rezeptiv und produktiv anzuwenden, sondern diesen vor allem auch in der Kommunikation mit anderen einzusetzen.

Aufschlussreich an dieser Stelle ist ein Blick in den Appendix 2,16 wo noch einmal der ursprüngliche Auftrag an die Framework task force zitiert wird, die von der ACRL einberufen wurde. Hier wird formuliert, dass das neue Framework zu erarbeiten sei vor dem Hintergrund eines sich wandelnden Verständnisses von information literacy hin zu information fluency. In der deutschen Übersetzung wird an dieser Stelle mit „Informationsgewandtheit“ bewusst auf einen sperrigen Kontrast zur Kompetenz gesetzt.17 Denn fluency ist tatsächlich die gewandte Anwendung einer Sprache, das „flüssige Sprechen“. Damit wird noch einmal jener Anspruch des Framework unterstrichen, der auch jedem einzelnen Frame eigen ist, nämlich die aktive und produktive Verwendung und Erstellung von Information als Erfüllung der eigenen Rolle im akademischen Diskurs. Mit dieser Beschreibung von literacy wird vielleicht auch eine mögliche Trennlinie zu deutschen Kompetenzbegriffen deutlich: der Kompetenz ist der Anspruch des Kommunikativen, des Austauschs und der Teilhabe nicht per se eingeschrieben. Auch der Informationskompetenz fehlt diese Konnotation damit, die im englischen Gebrauch von literacy von je her mitschwingt. In der deutschsprachigen Diskussion müssen der Informationskompetenz die „kommunikativen“ Praktiken per definitionem eingeschrieben werden, z. B. im Referenzrahmen Informationskompetenz.18

Participation wird im Framework auch immer wieder explizit benannt und nicht nur durch das gerade beschriebene Verständnis von literacy konnotiert. Für den akademischen Diskurs ergibt sich in Hinsicht auf die Informationskompetenz eine Betonung der Fähigkeiten weg von einer mit erfolgreicher Recherche verbesserten Rezeption akademischen Wissens und dessen kritischer Bewertung hin zu einer aktiveren Gestaltung dieses Wissens im Diskurs. Es ist nur konsequent, dass dieser Gestaltungsanspruch auch immer schon für die novice learners im Framework eingefordert wird – denn gerade auch der produktive Umgang mit Wissen muss eingeübt werden und braucht erfahrende Praxis.19

4. Ein universelles Verständnis von Informationskompetenz?

Über dieses Verständnis der Begriffe von information einerseits und literacy andererseits entsteht so auch das spezifische Verständnis des akademischen Diskurses, wie es oben schon anhand des Informationsbegriffs entworfen wurde. Es gilt u. a.:

Insoweit das Framework hiermit ein – vielleicht auch idealisiertes – Bild wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns entwirft, stellt sich die Frage, inwieweit damit auch ein Konzept von information literacy und Informationskompetenz entworfen wird, das auf nicht-akademische Diskurse übertragbar ist. Denn es ist mittlerweile ein Gemeinplatz, dass mit der Verbreitung von Verschwörungstheorien und populistischer Meinungsmache durch unregulierte und manipulierte Informationsflüsse in Sozialen Medien und verwandten Kanälen Probleme in den Blick geraten, die durch eine bessere Informationskompetenz auch jenseits des Akademischen behebbar scheinen. Diese scheint damit gleichzeitig die Grundlage für einen erheblichen Teil mündiger gesellschaftlicher Teilhabe in der „Informationsgesellschaft“.

Doch es treten bei genauem Hinsehen vor allem auch Trennlinien zwischen verschiedenen information ecoystems, wie sie im Framework wiederholt benannt werden, zutage. Denn unter anderem steht „dem“ wissenschaftlichen Diskurs nicht „ein“ einzelner gesellschaftlicher Diskurs entgegen. Ziel der wissenschaftlichen Auseinandersetzung ist der Erkenntnisgewinn – ungeachtet unterschiedlicher Methoden in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften. Für dieses Ziel hat sich ein System von Regeln und Institutionen entwickelt: von Bibliotheken über wissenschaftliche Verlage mit ihrer erfahrungs- und anerkennungsbasierten Autorität über Sicherungsmechanismen wie Peer-Review bis zu Impact-Faktoren als Versuche, die Bewertung von Informationen zu objektivieren.

Dem gegenüber stehen vielfältige gesellschaftliche Diskurse, in denen die Ressource Information zu verschiedensten Zwecken eingesetzt wird:

Diese Liste ist natürlich nicht vollständig, zeigt aber schon, dass diese Zwecke wiederum miteinander verknüpft sein können, was die kritische Bewertung einzelner in ihnen kursierender Informationen umso komplexer macht. Die verschiedenen Zwecke zeigen auch, dass Informationen in ganz unterschiedlichen Regel-, Autoritäts- und Institutionssystemen verbreitet werden, die sich in den Ausprägungen analoger, digitaler, konventioneller und sozialer Medien manifestieren.

Einerseits bietet das Framework mit den Schwellenkonzepten einen Ansatz, der flexibel genug sein könnte, verschiedene Anwendungsszenarien abzudecken. Andererseits setzt es sich als Veröffentlichung der ACRL – Association of College and Research Libraries nicht nur in seiner theoretischen Substanz, sondern auch in den Hinweisen zur praktischen Umsetzung in der Introduction und den Appendices dem Geltungsanspruch recht enge Grenzen. Wenn hier also von Information Literacy for Higher Education die Rede ist, stellt sich die Frage, ob es nicht verschiedene Arten von information literacy bzw. Informationskompetenz gibt.

Für verschiedene Kernbegriffe, die im Framework immer wieder eine Rolle spielen, verbietet sich eine einfache Übertragung auf andere Diskurse als den akademischen: z. B. novice learners, experts und authority. Der Grad der Autorität wird für den Wissenschaftsbereich durchaus auch mit dem eigenen Ausbildungsgrad verbunden; dieser wiederum ist hochgradig formalisiert. „Anfängern“ und „Experten“ hingegen sind in diesem Sinne z. B. für die politische Meinungsbildung keine klaren Rollen zugewiesen. Gerade die sozialen Medien eröffnen auch „Anfängern“ ohne fest etablierte Autorität die Möglichkeit der einflussreichen Informationsverbreitung – eine Praxis, die im Sinne der Meinungsfreiheit gesellschaftlich erwünscht ist. Die Autorität selber kann in gesellschaftlichen Diskursen wiederum auf vielfältige Weise inhaltlich fundiert sein als politische, ideologische, religiöse, wirtschaftliche, staatliche, durchaus auch wissenschaftliche uvm.

Das macht es zum einen schwerer, einen gesellschaftlichen Anspruch an information literacy auszuformulieren, wie es das Framework für den akademischen Bereich tut. Zum anderen ergibt sich die ganz praktische Frage, welche Regelsysteme von welchen Institutionen zunächst etabliert, dann aber auch vermittelt werden sollen. Im Framework wird ein recht klares Bild für die Kooperation von Bibliotheken, Hochschulverwaltungen, didaktischen Zentren etc. entworfen. Alle sind etablierte Teile des Systems der wissenschaftlichen Ausbildung. Das amerikanisch geprägte Gefüge von Einrichtungen im Framework ließe sich recht einfach auf die Rollen innerhalb der deutschen Hochschullandschaft übertragen. Außerhalb der Hochschulen wird die Rollenverteilung allerdings unklarer. Schulen sind tendenziell überkommenen Strukturen der lange kanonisierten Unterrichtsfächer verhaftet. Nur uneinheitlich und regional wie lokal mit unterschiedlichen Gewichtungen (man denke an die Umsetzung wissenschaftlicher Propädeutik durch „Facharbeiten“ in der Oberstufe) wird der Entwicklung von Schlüsselkompetenzen und metaliteracies Rechnung getragen. Öffentliche wie wissenschaftliche Bibliotheken sehen sich dadurch häufig mit Vermittlungsaufgaben betraut, die aus dieser Leerstelle im Bildungssystem entstehen, aber sowohl institutionell wie in der Aus- und Weiterbildung bisher nur ungenügend abgebildet sind. Eine Situation, die sich akut in den Diskussionen und Grenzziehungen um Medienpädagogik, Bibliothekspädagogik, Medienkompetenz und Informationskompetenz widerspiegelt.

Hier kann das Framework Impulse setzen für die weitere Auseinandersetzung mit dem Begriff der Informationskompetenz. Nimmt man das von Wilfried Sühl-Stromenger herausgegebene und 2016 in zweiter Auflage erschienene „Handbuch Informationskompetenz“22 als Maßstab für die Auseinandersetzung mit dem Thema im deutschsprachigen Raum, so fällt zum einen die Bandbreite der Auseinandersetzung auf: Zielgruppen und Akteure decken das Bildungsspektrum ab von frühkindlich bis zur Erwachsenenbildung und älteren Mitmenschen; Schule, Hochschule und weniger institutionalisierte Kontexte werden behandelt; wissenschaftlicher Diskurs und private Nutzung sozialer Medien sind Thema. Doch sind es vor allem Bibliothekarinnen und Bibliothekare, die mit ihrer Perspektive als Vermittelnde auf das Thema schauen und schon dadurch liegt es in der Natur der Sache, dass praktische Anwendung das Handbuch dominiert bei nur wenigen theoretischen Ansätzen.

Während Thomas Hapke dort zum Beispiel ergebnisreich dem Zusammenhang von Informationsfluss und Erkenntnisgewinn in der Wissenschaft nachgeht,23 wenden Hermann Rösch und Wilfried Sühl-Stromenger sich der Frage zu, wie Informationskompetenz und ethisches Handeln ineinandergreifen.24 Doch auch sie benutzen eine wissenschaftlich-akademische Auffassung von Informationskompetenz als allgemeingültige Folie. Sie stellen fest: „Neben Lesen, Schreiben und Rechnen bedarf es der Informationskompetenz, um Zugang zu den Kommunikationskanälen und Medien zu gewinnen, in denen Kultur, Wirtschaft, Politik, Geselligkeit, Religion, Sport usw. in immer stärkerem Maße zugänglich werden.“25 Dabei vermeiden sie den nötigen weiteren Schritt, für diese Bereiche des Öffentlichen, Kulturellen und Privaten zu hinterfragen, wo gerade die Unterschiede zu den wissenschaftlichen Kommunikationskanälen sind. Hier sollte eine zukünftige theoretische Diskussion ansetzen. Ein Ausgangspunkt mag dabei sein, den im Framework manifesten Begriff der Autorität für diese anderen Diskurse zu untersuchen. Denn akademischer Diskurs findet in mancher Hinsicht unter „peers“ statt: wer Information produziert, steht im Grunde auf einer Stufe mit jenen die sie rezipieren – „Peer Review“ funktioniert unter dieser Prämisse. Doch schon in Politik, Wirtschaft und Kultur findet eine hierarchischere Form des Informationsaustauschs statt: in Bezug auf die Inhalte haben die Schaffenden einen anderen Status als die Konsumierenden. Bei informelleren Diskursen wie in den sozialen Medien wäre überhaupt schwer festzumachen, welche Hierarchien wie etabliert werden.

Für den Weg von der Theorie zurück in die Praxis zeichnet sich im Anschluss ein recht klarer Weg ab: Schon für den Bereich der Hochschulen macht das Framework klar, dass eine Entwicklung von Schlüsselkompetenzen nicht ohne Kooperation auf allen Ebenen und jenseits enger Einrichtungsgrenzen nötig ist. Die Hochschulbildung aber ist ein Bildungsabschnitt, der im Lauf des Lebenslangen Lernens einerseits eingegrenzt ist durch Schulbildung und berufliche Fort- und Weiterbildung; andererseits beschränkt sich ihre demographische Reichweite auf Bevölkerungsschichten mit entsprechenden Bildungsabschlüssen und Berufsbildern. Will man im gesellschaftlichen Maßstab Informationskompetenz entwickeln, muss mit frischem Blick auf mögliche Bildungspartner, Kooperationen etc. geschaut werden. Im aktuellen Projekt „Informationskompetenz und Demokratie“26 an der Universität Hildesheim greift zum Beispiel die dortige Informationswissenschaft den Impuls auf und schaut wissenschaftlich interdisziplinär und fundiert aus einer gänzlich anderen Richtung auf das Thema.

Vielfach werden die Grenzen der individuellen Einrichtungen wie Bibliotheken, Schulen, Volkshochschulen, Hochschulen aufgelöst werden müssen, um ein universelleres Verständnis von Informationskompetenz als individuellem und gesellschaftlichem Entwicklungsziel zu entwickeln. Dieses wird aber angesichts der wachsenden Komplexität nicht-akademischer Informationsflüsse an Grenzen stoßen. Daher sollte man diesen Auftrag nicht ausschließlich als einen der Bildung betrachten. Mit der Auseinandersetzung über Standards und den Referenzrahmen in den letzten Jahren haben vor allem Bibliothekar*innen in Deutschland eine solide Expertise entwickelt, die sich in vielen Praxisbeispielen wiederfindet. Insoweit dieses Verständnis von Informationskompetenz – wie oben aufgezeigt – auch eine Abbildung der Regeln des akademischen Diskurses ist, muss eine informationskompetente Gesellschaft vielleicht auch angestrebt werden, indem Diskurse aktiver nach einem solchen Vorbild gestaltet werden. Dafür wiederum müssen viele Parteien an einen Tisch kommen. Die teils selbst auferlegte, teils erzwungene Regulierung sozialer Medien, die in den letzten Jahren zu beobachten war, kann in diesem Sinne auch als ein Ausbau gesellschaftlicher Informationskompetenz verstanden werden. Es ist klar, dass Bibliotheken in solch einer Diskussion ein wichtiger Beiträger sind; mit ihrem eigenen Auftrag und ihren eigenen Mitteln werden sie aber nicht alleine Lösungen bereitstellen können.

Literaturverzeichnis

1 ACRL: Framework, 2016. Online: <http://www.ala.org/acrl/files/issues/infolit/framework.pdf>, Stand: 14.12.2020. Und: ACRL: Framework (deutsch), 2021. Online: <https://doi.org/10.5282/o-bib/5674>, Stand: 14.12.2020.

2 Ebd. S. 7f.

4 ACRL: Framework, S. 29ff.

5 „Information […]: […] a) Gehalt einer Nachricht, die aus Zeichen eines Codes […] zusammengesetzt ist […]“. Dudenredaktion: Fremdwörterbuch, 2020, S. 506.

6 ACRL: Framework, S. 14f.

7 Ebd. S. 16.

8 Ebd.

9 Ebd.

10 Ebd. U. a. S. 14, 15, 23.

11 Ebd. U. a. S. 12f.

12 Ebd. S. 18f.

13 Ebd. S. 20.

14 “literacy […] The quality, condition, or state of being literate; the ability to read and write. Also: the extent of this in a given community, region, period, etc. […]”. OUP: OED Online, 2020.

15 ACRL: Framework, S. 8.

16 Ebd. S. 29ff.

17 Vgl. ACRL: Framework (deutsch), Anhang 2: Hintergrund der Entwicklung des Framework.

18 Klingenberg, Andreas: Referenzrahmen, [2016].

19 “Learners who are developing their information literate abilities […] contribute to scholarly conversation at an appropriate level, such as local online community, guided discussion, undergraduate research journal, conference presentation/poster session[…]”. ACRL: Framework, S. 20.

20 Ebd. S. 20f.

21 Ebd.

22 Sühl-Stromenger, Wilfried (Hg.): Handbuch Informationskompetenz, Berlin 2016.

23 Vgl. Hapke, Thomas: Informationskompetenz anders denken, in: Sühl-Strohmenger, Wilfried (Hg.): Handbuch Informationskompetenz, Berlin 2016, S. 9-21.

24 Vgl. Rösch/Sühl-Stromenger: Informationskompetenz in ethischer Perspektive, in: Sühl-Strohmenger, Wilfried (Hg.): Handbuch Informationskompetenz, Berlin 2016, S. 52-63.

25 Ebd. S. 53.

26 Universität Hildesheim. Demokratie. 2021.