Altbestandserschließung und -restaurierung in der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt am Beispiel der Privatbibliothek des Freiherrn von Günderrode und des Gelehrtennachlasses des Barons von Hüpsch

1. Die Sammlung Günderrode

Der Frankfurter Jurist Johann Maximilian von Günderrode (1713–1784) bekleidete zwischen 1736 und 1748 in Hessen-Darmstädtischen Diensten verschiedene Ämter, ab 1737 u.a. als Regierungsrat. Ab 1750 war er in wechselnden Funktionen in Landgräflich Hessen-Kasselschen Diensten tätig, so als Regierungs-, Hofgerichts- und Konsistorialrat, Oberamtmann, später als Rentkammerdirektor, Geheimer Regierungs- und Kammerrat. Im Jahre 1756 erwarb von Günderrode die Herrschaft Höchst an der Nidder. Hier legte er soziales Engagement an den Tag, gründete mildtätige Stiftungen und begann, Bücher zu sammeln. Er wollte eine zum Öffentlichen Gebrauch bestimmte Universalbibliothek schaffen, die das gesamte Wissen seiner Zeit abbilden sollte. Er trug schätzungsweise 20.000 Bücher zusammen. Schwerpunkte der Sammlung liegen bei den Hassiaca, bei denen von Günderrode Vollständigkeit anstrebte, und im Staats- und Privatrecht.1 Der Bestand beinhaltet äußerst seltene und kostbare Bände und Stücke mit Provenienzmerkmalen von lokaler Bedeutung. 1922 ging die Büchersammlung als Leihgabe an die Universitätsbibliothek Darmstadt. Im Jahre 1958 erwarb die Universitätsbibliothek den Bestand mit Mitteln des Landes Hessen.2

Im Bereich der Formalerschließung soll eine Erfassung des Bestandes auf der Grundlage von Autopsie unter Einbeziehung von Daten aus nationalbibliografischen Verzeichnissen des In- und Auslandes umgesetzt werden. Ist bereits eine passende Aufnahme im HeBIS-Verbund vorhanden, wird ein Exemplarsatz angesigelt und die Aufnahme ggf. ergänzt. Anderenfalls recherchieren und importieren die Projektmitarbeiter*innen Aufnahmen aus anderen Verbünden und katalogisieren diese nach RDA-Standard hoch. Findet sich keine passende Aufnahme, wird eine RDA-gerechte Neuaufnahme angelegt. Eindeutigen Identifikatoren wie VD16, VD17, VD18, English Short Titel Catalogue (ESTC), werden in der Titelaufnahme verankert und sind suchbar. Beteiligte Personen (z. B. Beiträger*innen, Widmungsempfänger*innen, Zensoren, Verfasser*innen von Vor- und Nachreden) werden möglichst vollständig erfasst und mit der Gemeinsamen Normdatei (GND) verknüpft. Es werden entsprechend auch neue Personennamensätze in die GND eingebracht. Der Gesamtbestand kann im OPAC der ULB Darmstadt mittels Suche nach dem trunkierten Signaturanfang „Gü*“ abgerufen werden.

Abb.1: Kupferstich aus Ost-West-Indischer und Sinesischer Lust- und Stats-Garten

Eine systematische inhaltliche Erschließung des Günderrode-Bestandes erfolgt derzeit nicht. Es werden lediglich im Rahmen der formalen Erschließung Begriffe aus der Liste der Gattungsbegriffe der Arbeitsgemeinschaft Alte Drucke vergeben. Bei Fremddatenübernahmen werden inhaltliche Schlagworte aus anderen Verbünden mit übernommen.

Im Bestand finden sich zahlreiche Provenienzmerkmale: Besitzeinträge, Kaufpreise und -daten, Exlibris und geprägte Einbände. Die Beschreibung dieser Merkmale erfolgt gemäß den Empfehlungen der im Jahre 2007 von interessierten Verbundteilnehmern in Frankfurt gegründeten Adhoc-Arbeitsgruppe Provenienzerschließung im HeBIS-Verbund. Dazu gehört die Verwendung der Begriffe aus dem kontrollierten Vokabular des Thesaurus der Provenienzbegriffe. Plattengeprägte Einbände werden in der Einbanddatenbank der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz recherchiert.3

Ein besonderes Augenmerk liegt auf der Identifizierung und Erfassung von Vorbesitzer*innen, insbesondere aus Hessen. Nach eindeutiger Identifikation unter Zuhilfenahme von Nachweisinstrumenten wie Strieder4, Hessischer Biografie, Hassia sacra, Frankfurter Patriziat, Arcinsys, Gedbas, WEBIS, Matrikelverzeichnissen der Universitäten etc. werden diese mit den entsprechenden Bänden der Sammlung verknüpft. Insbesondere hier fallen zahlreiche Neuaufnahmen in der GND an. Dabei werden die für die Provenienzerschließung vorgesehenen Feldbesetzungen der GND (Teilbestandskennzeichen h für Provenienzbildner, Provenienzmerkmal mit entsprechendem Deskriptor aus dem T-Pro, ggf. Digitalisat des Provenienzmerkmals, freie textliche Beschreibung) verwandt und in der Kategorie 024 weitere Identifier wie International Standard Name Identifier (ISNI), Library of Congress Control Number (LCCN), Virtual International Authority File (VIAF) und Wikidata verknüpft. Zu digital verfügbaren Exlibris wird in der Kategorie 670 verlinkt.

Abb. 2: Normdatensatz eines Provenienzbildners

Die Katalogaufnahmen werden mit der URL eines Digitalisats einer anderen Institution angereichert, sofern das Digitalisat Open Access zur Verfügung gestellt wird. Die ULB Darmstadt verfügt über ein gut ausgestattetes Digitalisierungszentrum. Die Erfassung, Verarbeitung und Präsentation der Scans erfolgt auf der Plattform DWork. Diese wurde von der UB Heidelberg auf Basis freier Software unter Verwendung von Apache, Linux, Mysql, Perl und Solr entwickelt und unterstützt alle aktuellen Formate und Standards einschließlich der OAI-PMH und der Schnittstelle des DFG-Viewers.5 Die ULB Darmstadt arbeitet seit über 10 Jahren mit DWork. Alle im Rahmen des Projekts entstandenen Digitalisate6 sind unter der Lizenz CC-BY 4.07 gemeinfrei nutzbar. Sie werden im Onlinekatalog der ULB Darmstadt und damit auch im Hebis-Verbundkatalog, im Zentralverzeichnis digitaler Drucke (ZVDD)8 und in der VD179-Datenbank nachgewiesen

Einer aktuellen Handlungsempfehlung des DARIAH-DE Stakeholdergremiums „Wissenschaftliche Sammlungen“ zufolge wird angestrebt, bis Ende 2020 90 % der im VD17 nachgewiesenen Titel zu digitalisieren und mit den bereits vorhandenen Titelaufnahmen zu verknüpfen.10 Seit Herbst 2018 werden Titel aus der Günderrode-Sammlung in die VD17-Datenbank katalogisiert, und – sofern es sich um einen Erstnachweis handelt – digitalisiert. Etwa 2.000 unikale, schwerpunktmäßig in Südwestdeutschland entstandene Drucke wurden ausgewählt, um entsprechende Nachweislücken im VD17 zu schließen. Dieses Teilprojekt hat eine Laufzeit von 18 Monaten. Entsprechend der DFG-Vorgaben wird mit einer Auflösung von 300 dpi und 24 bit in Farbe digitalisiert.11 Um eine optimale Nachnutzbarkeit zu gewährleisten, werden die Scans lizenzfrei angeboten. Abweichend von der sonstigen Vorgehensweise werden in VD17-Titelaufnahmen, sofern vorhanden, bis zu dreißig Personen verknüpft.

Im Projektverlauf stießen die Mitarbeiter*innen auf das Buch „Maneige Royale“ von Antoine de Pluvinel. Der Autor war Reitlehrer des späteren französischen Königs Ludwig XIII. Das in deutscher und französischer Sprache gedruckte Buch hat einen fiktiven Dialog des Lehrers mit seinem royalen Schüler zum Inhalt. Darin erklärt Pluvinel, dass man Pferde immer mit Respekt behandeln solle und nie Gewalt anwenden dürfe. Neben der Reitkunst werden das Tanzen, angemessene Bekleidung und gutes ritterliches Betragen eines Edelmanns thematisiert. Das Buch ist mit zahlreichen großformatigen Kupferstichen von Crispyn van de Passe (ca. 1594/97–1670) ausgestattet. Der Einband der „Maneige Royale“ aus der Günderrode-Sammlung war stark beschädigt. Die Seiten wiesen zahlreiche Risse und Fehlstellen auf. Ein Teil des Titelblattes war verloren gegangen. Dank einer großzügigen Spende des Rotary-Clubs Darmstadt-Bergstraße in Höhe von 1.000 Euro und durch Eigenmittel konnte das kostbare Stück von einer externen Papierrestauratorin restauriert und mit einem alterungsbeständigen Schutzbehältnis versehen werden.12 Mittlerweise ist es digitalisiert13, im ULB-Katalog, in weiteren überregionalen Datenbanken (Hebis, Worldcat) und auf TUdigit14 abrufbar. TUdigit ist das digitale Portal der ULB. Hier findet man etliche besondere Kostbarkeiten, u.a. auch zwei Handschriften, die zum Weltdokumentenerbe der Unesco gehören.

Abb. 3: Kupferstich aus Maneige Royale Ou Lon Peut Remarquer Le Defaut Et La Perfection Du Chevalier

2. Der wissenschaftliche Nachlass des Barons von Hüpsch

Jean Guillaume Adolphe Fiacre Honvlez alias Baron von Hüpsch (1730–1805) war Naturwissenschaftler, Aufklärer, Reformer und Universalgelehrter. Im Laufe seines Lebens erwarb er eine umfangreiche, wissenschaftlich bedeutsame Sammlung, in die er einen Großteil seines Vermögens investierte. Diese vermachte er, da seine Heimatstadt Köln seine Bitte, ein geeignetes Gebäude zur Verfügung zu stellen, ignorierte, dem Landgrafen Ludwig X. und späteren Großherzog Ludwig I. von Hessen-Darmstadt (1753–1830).15 Die Objektsammlungen, die Barockgemälde, Tafelbilder, Elfenbeinschnitzereien, archäologische Artefakte, zoologische Präparate und Fossilien beinhalten, befinden sich heute im Hessischen Landesmuseum Darmstadt. Seine außerordentlich wertvolle und bedeutende Sammlung von ca. 1.000 Handschriften, und weit mehr Inkunabeln und anderen Druckwerken, bilden den Grundstock der historischen Bestände der ULB Darmstadt. Sein schriftlicher Nachlass, der sich heute ebenfalls im Besitz der Universitäts- und Landesbibliothek befindet, umfasst 21 Kästen mit mehr als 10.000 Einzelblättern. Es handelt sich um Werkmanuskripte, Briefe, autobiografische Aufzeichnungen, Rezepte, Illustrationen, Rechnungen, Notizkalender und Gästebücher. Ein Kasten enthält neben handschriftlichen Rezepten mehrere mit Pulver gefüllte Couverts. Es ist überliefert, dass der Bestandsbildner unentgeltlich Kranke behandelte. Der Fundkontext legt die Vermutung nahe, dass es sich um ein Medikament handeln könnte. Die zukünftige Forschung wird hoffentlich Aufschluss über den Verwendungszweck des Mittels bringen. Der wissenschaftliche Wert dieses noch nie systematisch ausgewerteten Bestandes – beispielsweise hinsichtlich der Medizin-, Sammlungs- und Verwaltungsgeschichte – ist als außerordentlich hoch einzustufen. 16

Mit Bundes-, Landes- und Eigenmitteln in Höhe von insgesamt 46.000 Euro wurde der Bestand restauriert. Die Restaurierungsarbeiten wurden von Diplom-Papierrestauratorinnen der Firma Papierrestaurierung Herzog-Wodtke vor Ort in der Restaurierwerkstatt der ULB Darmstadt durchgeführt. Häufig auftretende Schadensbilder waren Verschmutzungen, partieller Schimmelbefall, mechanische Schäden wie Risse, Fehlstellen und Verknickungen. Lack- und Oblatensiegel und besonders fragile Objekte wurden gesichert. Erfreulicherweise ist die Sammlung in der Vergangenheit keiner Restaurierung unterzogen worden, da diese mit einem deutlich gravierenden Eingriff in die Originalsubstanz verbunden gewesen wäre, als bei Methoden unserer Zeit. Ziel der Restaurierungsmaßnahmen war es, unter Erhalt des Sammlungszusammenhangs und der Authentizität den gegenwärtigen Zustand zu erhalten und zukünftige Schäden zu verhindern. Zur eindeutigen Referenzierung (Persistent Identifier) wurden sämtliche Verzeichnungseinheiten nummeriert.

Abb. 4: Eintrag des Schriftstellers Clemens Brentano

An die Restaurierung anschließend wird der Bestand im Rahmen eines durch Mittel der Irene und Sigurd Greven Stiftung finanzierten Projekts in Kooperation mit der Universität Köln digitalisiert und erschlossen. Die ULB Darmstadt und ihre Kooperationspartner erhoffen sich daraus resultierende Impulse für weiterführende Forschungen. Ein Projektbericht über die hierbei gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse ist zu einem späteren Zeitpunkt geplant.

Annette-Ricarda Lentz, Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt Thomas Parschik, ULB Darmstadt

Zitierfähiger Link (DOI): https://doi.org/10.5282/o-bib/5619

Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 4.0 International

1 Jung, Rudolf: Zur Geschichte der Familie von Günderrode, in: Alt-Frankfurt. Vierteljahresschrift für seine Geschichte und Kunst 5, 1913, S. 66–73.

2 Parschik, Thomas: Die Katalogisierung der Günderrode-Sammlung. Ein Projekt zur Erfassung Alter Drucke in der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, in: Bibliotheksdienst 53 (2), 2019, S. 120–124, <http://doi.org/10.1515/bd-2019-0020>.

3 Einbanddatenbank, <https://www.hist-einband.de/>, Stand: 30.07.2020.

4 Strieder, Friedrich Wilhelm: Grundlage zu einer Hessischen Gelehrten und Schriftsteller Geschichte. Seit der Reformation bis auf gegenwärtige Zeiten, Göttingen; Marburg, 1781–1829.

5 DWork – Heidelberger Digitalisierungsworkflow, <http://www.ub.uni-heidelberg.de/helios/digi/dwork.html>, Stand: 30.07.2020.

6 Voraussichtlich schätzungsweise 300.000 Seiten bei vorausgesetzten 125.000 Aufnahmen pro Personenarbeitsjahr. Bei durchschnittlichem Speicherbedarf von 40 MB pro unkomprimiertem TIFF in Farbe und sicherheitsbedingt doppelter Datenhaltung ergibt sich ein Speicherbedarf von 2x18 TB = 36 TB. Auf den ULB-eigenen NAS-Servern wird eine zusätzliche Speicherreserve von 25% bereitgehalten.

7 Creative commons, <https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de>, Stand: 30.07.2020.

8 Das ZVDD ist ein Portal, das sämtliche in Deutschland erstellten Digitalisate – von Drucken des 15. Jahrhunderts bis zur Gegenwart nachweist. Es entstand ab 2005 als DFG-finanziertes Kooperationsprojekt der AG Sammlung Deutscher Drucke. Neben den üblichen Suchoptionen (Verfasser, Titel, Druckort und -jahr) ermöglicht es eine tiefergehende Suche nach Kapitelüberschriften, Aufsatztiteln und die Suche in Inhaltsverzeichnissen. Gegenwärtig weist es etwa 1.650.000 Drucke nach. <http://www.zvdd.de/startseite/>, Stand: 30.07.2020.

9 Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 17. Jahrhunderts, <http://www.hab.de/de/home/wissenschaft/forschungsprofil-und-projekte/verzeichnis-der-im-deutschen-sprachraum-erschienenen-drucke-des-17-jahrhunderts-vd17.html>, Stand: 30.07.2020.

10 Klaffki, Lisa; Schmunk. Stefan; Stäcker, Thomas: Stand der Kulturgutdigitalisierung in Deutschland. Eine Analyse und Handlungsvorschläge des DARIAH-DE Stakeholdergremiums „Wissenschaftliche Sammlungen“, Göttingen 2018 (DARIAH-DE Working Papers 26), S. 10, <urn:nbn:de:gbv:7-dariah-2018-1-3>.

11 DFG-Praxisregeln „Digitalisierung“, <http://www.dfg.de/formulare/12_151/12_151_de.pdf>, Stand: 30.07.2020.

12 Der Rotary Club Darmstadt-Bergstraße ermöglicht die Restaurierung eines seltenen Buches der ULB Darmstadt über die Reitkunst, <https://www.ulb.tu-darmstadt.de/aktuelles/newsdetails_de_en_56000.de.jsp>, Stand: 30.07.2020.

13 Pluvinel, Antoine de: Maneige Royale, Braunschweig 1626. Online: <https://doi.org/10.25534/tudigit-12289>.

14 Digitale Sammlungen Darmstadt. Universitäts- und Landesbibliothek, <http://tudigit.ulb.tu-darmstadt.de/show/_md_search>, Stand: 30.07.2020

15 Deutsche Biographie, <https://www.deutsche-biographie.de/gnd100294065.html#indexcontent>, Stand: 30.07.2020.

16 Schellhaas, Kirstin: Ein Glücksfall für die Bibliothek, in: hoch³ 15 (2), 2019, S. 32. Online: <https://issuu.com/tu_darmstadt/docs/hoch3-2019-2-web>, Stand: 30.07.2020.