Rezensionen

Klassifikationen in Bibliotheken : Theorie – Anwendung – Nutzen / Heidrun Alex, Guido Bee, Ulrike Junger (Hrsg.).– Berlin, Boston: De Gruyter Saur, 2018. – XVII, 278 Seiten : Illustrationen. – (Bibliotheks- und Informationspraxis ; Band 53). – ISBN 978-3-11-029904-5 : EUR 59.95 (auch als E-Book verfügbar)

Während es zahlreiche englischsprachige Überblicksdarstellungen zu Themen der inhaltlichen Erschließung gibt, sind einschlägige Lehr- oder Handbücher im deutschen Sprachraum leider eine Seltenheit. Umso mehr ist dieser Band mit seinen acht Kapiteln aus der Feder ausgewiesener Expertinnen und Experten zu begrüßen, der sich dem Thema Klassifikation aus unterschiedlichen Blickwinkeln widmet. Im Vorwort heißt es dazu (S. XVI): „Einen großen Teil des Buchs nehmen Beiträge ein, in denen einzelne Klassifikationssysteme vorgestellt werden. Um diese gruppieren sich Kapitel, die sich mit übergreifenden Fragestellungen und Aspekten (…) befassen. Beides zusammen soll den Leserinnen und Lesern ein kompaktes und aktuelles Bild über den Stand aktueller Klassifikationsarbeit vermitteln.“

Den Anfang macht Bernd Lorenz (früher Fachbereich Archiv- und Bibliothekswesen der Hochschule für den Öffentlichen Dienst in Bayern) mit einem Grundlagenkapitel unter dem Titel „Zur Theorie und Terminologie der bibliothekarischen Klassifikation“. Dieses vermittelt einen guten Überblick über wichtige Ordnungsprinzipien, unterschiedliche Typen von Klassifikationen, die zentrale Fachterminologie etc.

„Universalklassifikationen in Bibliotheken des deutschen Sprachraums“ heißt ein weiterer allgemeiner, nunmehr historisch ausgerichteter und ausgesprochen lesenswerter Beitrag: Guido Bee (Deutsche Nationalbibliothek) zeichnet die Entwicklungen auf dem Feld der Klassifikation nach – primär in den wissenschaftlichen Bibliotheken und mit einem Schwerpunkt auf dem 20. Jahrhundert. Im Zentrum stehen die verschiedenen Bestrebungen zu einer Vereinheitlichung der Sacherschließung, die bereits lange vor der gescheiterten Einheitsklassifikation der 1970er Jahre einsetzten. Den ersten Versuch verortet Guido Bee im Jahr 1884, weitere einschlägige Aktivitäten finden sich in den 1920er und 1930er Jahren. Berücksichtigt wird auch die Entwicklung in der DDR. Dies demonstriert, dass die „Vorliebe für individuelle Lösungen“ geradezu als „deutsch-deutsche Konstante“ (S. 43) gelten muss. Guido Bee prognostiziert für die nähere Zukunft „eine Dominanz von drei bis vier Klassifikationen im deutschen Bibliothekswesen“ (S. 56), wodurch zumindest die extreme Zersplitterung aus früheren Zeiten beseitigt wird. Sein Beitrag geht auch auf weitere Klassifikationen ein, die nicht in eigenen Kapiteln gewürdigt werden – so auf die Systematik der ehemaligen Gesamthochschulen (GHBS) und auf die Basisklassifikation (BK).

Den Mittelteil des Bandes machen die Beiträge zu einzelnen Klassifikationen aus. Zunächst bietet Heidrun Alex (Deutsche Nationalbibliothek) eine sehr gelungene Einführung in die Dewey-Dezimalklassifikation (DDC) und behandelt umfassend ihre Geschichte und Verbreitung, den Aufbau und die Prinzipien, organisatorische und rechtliche Fragen und sogar die „künstlerische Adaption und Rezeption“, z.B. im Kinderbuch, im Hörspiel oder im Comic. Zum letzten Aspekt kann die Rezensentin aus dem eigenen Bücherschrank noch ein schönes Beispiel ergänzen: In dem in London spielenden Bibliothekskrimi „Dewey death“ (1956) von Charity Blackstock (Pseudonym von Ursula Torday) werden Klassenbenennungen und Notationen der DDC als Kapitelüberschriften verwendet, z.B. „Police mesures [sic!] 351.74“.

In wünschenswerter Ausführlichkeit geht Heidrun Alex auch auf das Projekt DDC Deutsch und auf die Anwendung der Klassifikation im deutschsprachigen Raum ein. Häufig wird vergessen, dass der Einsatz der DDC an der Deutschen Nationalbibliothek (DNB), der nach der Erinnerung der Rezensentin anfangs vielfach kritisch gesehen wurde, nicht etwa eine einsame Entscheidung dieser Bibliothek war, sondern auf eine 1998 veröffentlichte Empfehlung der Expertengruppe Klassifikation des Deutschen Bibliotheksinstituts zurückging (S. 79, vgl. dazu auch den Artikel von Guido Bee, S. 55f.). Besonders hervorzuheben ist die von der DNB eingeführte Einzelablage der Bestandteile von synthetischen, d.h. „zusammengebauten“ Notationen im Datensatz (S. 90), die auch für die Recherche in Web­Dewey Search nutzbar ist. Die DNB hat dadurch die DDC in einer absolut zukunftsweisenden Form weiterentwickelt. In den letzten Jahren hat man den großen Nutzen der DDC-Erschließung durch die DNB immer stärker wahrgenommen: Zum einen spielen diese Daten hervorragend mit den – in der Regel ebenfalls mit DDC erschlossenen – angloamerikanischen Fremddaten in den Katalogen zusammen, zum anderen kann die DDC aufgrund ihrer internationalen Verbreitung an vielen Stellen als gemeinsames Rückgrat genutzt werden. Ein Beispiel dafür ist die wissenschaftliche Suchmaschine BASE (Bielefeld Academic Search Engine), die sowohl ein Browsing als auch eine Facette auf Basis der obersten Hierarchie-Ebenen der DDC anbietet (S. 96). Die DDC-Notationen dafür werden übrigens – was in dem Beitrag nicht erwähnt ist – maschinell auf der Basis der Abstracts erzeugt.

Eigenartig mutet es allerdings an, dass die Autorin in ihrem Ausblick auf „Defizite und Zukunftsaufgaben“ die von der DNB beschlossenen merklichen Einschränkungen bei der Vergabe von DDC-Notationen nicht erwähnt, obwohl diese bereits im Mai 2017 öffentlich bekannt gegeben wurden1 und das Vorwort des Bandes vom November 2017 datiert. Wie einer Fußnote auf S. 65 zu entnehmen ist, war der Beitrag zur DDC „im November 2016 inhaltlich abgeschlossen“. Offenbar konnte er bis zur Drucklegung nicht mehr aktualisiert werden und war daher bereits beim Erscheinen des Bandes teilweise überholt. Bekanntlich hat sich die DNB in ihrem neuen Erschließungskonzept für einen Abschied von der DDC-Tiefenerschließung entschieden. Sukzessive wird auf neu konzipierte DDC-Kurznotationen umgestellt, die perspektivisch auch nicht mehr intellektuell, sondern überwiegend maschinell vergeben werden sollen. Damit verbunden ist der vollständige Verzicht auf die Bildung komplexer DDC-Notationen (z.B. durch die Verwendung von Schlüsseln aus den Hilfstafeln oder durch Kombination von zwei Notationen aus den Haupttafeln). Dies hat Heidrun Alex sicher nicht gemeint, als sie schrieb: „Darüber hinaus sollte darüber nachgedacht werden, ob die zeitaufwändige Notationssynthese für die Zwecke der Recherche überhaupt nötig ist“ (S. 101f.). Vielmehr dürfte dieser Satz sich nur auf die Überlegung beziehen, die Erfassung des vollständigen Dewey-Strings zusätzlich zur Ablage der Einzelbestandteile einer komplexen Notation einzusparen. Die faszinierende Mächtigkeit und Ausdrucksstärke der DDC, die es erlaubt, auch sehr spezielle Themen adäquat in einer Notation abzubilden, lässt sich daher künftig in der deutschen Anwendung leider nicht mehr ausnutzen.

An das Kapitel über die DDC hätte sich eines über die Universelle Dezimalklassifikation (UDK) anschließen sollen. Dieser Ableger der DDC findet sich zwar nur noch in wenigen deutschen Bibliotheken, besitzt aber in der Schweiz einige Bedeutung. Der Artikel wurde jedoch „kurzfristig vom Autor, einem ausgewiesenen UDK-Spezialisten, zurückgezogen“ (S. XVI). Dankenswerterweise ist Ulrike Junger (Deutsche Nationalbibliothek) eingesprungen, um zumindest „Basisinformationen zur Universellen Dezimalklassifikation“ beizusteuern. Damit liegt immerhin ein aktueller deutschsprachiger Überblicksartikel zu dieser Klassifikation vor. Bei den englischsprachigen Publikationen lässt sich die von Ulrike Junger zusammengetragene Literatur noch durch Vanda Broughtons „Essential classification“ in der 2. Auflage von 2015 ergänzen. Dieses didaktisch ausgerichtete und gut lesbare Werk enthält zwei Kapitel zur UDK, die auch praktische Übungsaufgaben enthalten.2

In ihrem Beitrag „Die Regensburger Verbundklassifikation (RVK)“ bieten Ines Häusler (Universitätsbibliothek Regensburg) und Naoka Werr (Fachbereich Archiv- und Bibliothekswesen der Hochschule für den Öffentlichen Dienst in Bayern) eine informative und kompakte Darstellung dieser immer wichtiger werdenden Klassifikation. Auf 17 Seiten werden dabei auch alle 34 Fachsystematiken kurz einzeln vorgestellt. Man kann sich darüber streiten, ob dies tatsächlich nötig war oder ob der Verweis auf die aktuelle monografische Publikation zur RVK3 dafür nicht ausreichend gewesen wäre.

Sehr erfreulich ist, dass der Band auch ein ausführliches Kapitel zu „Klassifikationen in Öffentlichen Bibliotheken“ von Konrad Umlauf (früher Humboldt-Universität zu Berlin) enthält. Der Autor geht zunächst auf grundsätzliche Besonderheiten und Bedürfnisse von öffentlichen Bibliotheken im Bereich der Klassifikation ein. Recht kritisch äußert er sich dabei zum vielfach zu beobachtenden Trend eines Umstiegs auf Klartextsystematiken (wobei dieser mittlerweile gängige Terminus im Haupttext gar nicht erwähnt wird und nur von „Interessenkreiserschließung“ die Rede ist): „Der erhebliche Arbeitsaufwand (…) steht in einem eigenartigen Gegensatz zur dauerhaften Klage über zu knappe Personalausstattungen. Der Gedanke liegt nahe, dass zur Steigerung der Benutzerfreundlichkeit der Einsatz von Arbeitskapazität im Frontoffice zur Verlängerung der Öffnungszeiten statt im Backoffice für individuelle Erschließungsvarianten die bessere Option wäre“ (S. 172).

Danach stellt Umlauf insgesamt sieben Klassifikationen nach einem festen Schema vor (Allgemeines, Anwendung; Gliederung, Klassenbildung; Terminologie, Notationen; Zugang, Anleitung, Register, Pflege), sodass man sie gut miteinander vergleichen kann: Im Einzelnen sind dies die Systematik für Bibliotheken (SfB), die Allgemeine Systematik für öffentliche Bibliotheken (ASB), die Systematik der Stadtbibliothek Duisburg (SSD), die Klassifikation für Allgemeinbibliotheken (KAB), die Sachbuchsystematik für Katholische öffentliche Büchereien (SKB), die Systematik für evangelische Büchereien (SEB) und die Österreichische Systematik für Öffentliche Bibliotheken (ÖSÖB). Etwas geschluckt hat die Rezensentin bei der Charakterisierung der SEB: „Die weitere Untergliederung ist (…) sehr uneinheitlich und orientiert sich an der thematischen Struktur der Bestände und Fragestellungen der, was die Erwachsenen angeht, hauptsächlich weiblichen Nutzerschaft.“ Ein Beispiel dafür: „[D]ie Klasse Tb Computertechnik, Elektronik steht ohne weitere Untergliederung der Klasse Pc Pädagogik mit zehn Unterklassen gegenüber“ (S. 195). Anstatt im Fazit die SEB dafür zu loben, dass sie „hervorragend auf die Zielgruppen abgestimmt“ sei (S. 203), hätte hier vielleicht auch einmal reflektiert werden können, inwieweit Systematiken zur Verfestigung eines überkommenen Frauenbildes beitragen.

Der dritte Teil des Bands bringt nochmals zwei übergreifende Kapitel. Im Beitrag „Praktische Nutzung von Klassifikationssystemen“ beschäftigen sich Magnus Pfeffer (Hochschule der Medien Stuttgart) und Katharina Schöllhorn (Universitätsbibliothek Heidelberg) nicht nur mit der Funktion von Systematiken bei der Aufstellung physischer Medien, sondern auch mit den unterschiedlichen Nutzungsmöglichkeiten in Katalogen und Suchsystemen. Insbesondere klassifikationsbasierte Facetten und Browsing-Angebote werden erläutert und an vielen Beispielen aus der Praxis illustriert. Ebenfalls behandelt werden unterschiedliche Arten der Visualisierung von Klassifikationen.

Das abschließende Kapitel von Jessica Hubrich (Deutsche Nationalbibliothek) steht unter dem Titel „Semantische Interoperabilität zwischen Klassifikationen und anderen Wissenssystemen“ und fällt aufgrund seines recht abstrakten Stils mit vielen komplizierten Formulierungen und langen Sätzen etwas aus dem Rahmen. Der größere Teil des Beitrags enthält allgemeine Überlegungen; u.a. wird auch auf Standards für das Mapping eingegangen. Besonders nützlich ist eine Übersicht konkreter Mapping-Projekte. Bei der Darstellung des Projekts CrissCross (S. 254-257) hatte die Rezensentin gehofft, auch etwas über praktische Anwendungen dieses damals mit hohem Aufwand erarbeiteten Crosswalks zu erfahren. Doch obwohl die Daten frei verfügbar sind, scheint es bisher nicht dazu gekommen zu sein – eine ernüchternde Erkenntnis. Die einzige konkrete Umsetzung, die der Rezensentin bekannt ist, ist die (im Beitrag von Hubrich nicht erwähnte) Möglichkeit, im Klassifizierungstool WebDewey die gemappten GND-Begriffe für eine verbale Recherche nach passenden Notationen zu nutzen.

Schade ist, dass Aspekte der maschinellen Klassifizierung nur ganz vereinzelt im Handbuch auftauchen. Ein eigenes Kapitel zu unterschiedlichen Methoden mit ihren Stärken und Schwächen sowie Beispielen für die Anwendung maschineller Methoden wäre fraglos eine sinnvolle Ergänzung des Themenspektrums gewesen. Wie die Rezensentin erfahren hat, hatte sich das Herausgeberteam durchaus um einen solchen Beitrag bemüht, der sich jedoch aus verschiedenen Gründen nicht realisieren ließ. Vielleicht könnte dieses wichtige Thema in einem anderen Rahmen ausführlicher behandelt werden.

Alle Beiträge sind mit umfangreichen Literaturverzeichnissen versehen, sodass der Band zugleich eine aktuelle und äußerst nützliche Auswahlbibliografie darstellt. In einigen Aufsätzen gibt es Abbildungen, die allerdings teilweise recht klein ausgefallen sind. Auf ein Gesamtregister wurde aus nachvollziehbaren Gründen verzichtet. Immerhin werden mit Hilfe von Verweisungen Querbezüge zwischen den Beiträgen hergestellt; allerdings wird auf S. 73 auf einen Abschnitt bei Lorenz verwiesen, den es gar nicht gibt. An einigen Stellen sind der Rezensentin außerdem Tippfehler und falsche Silbentrennungen aufgefallen. Aber solche Kleinigkeiten können das große Verdienst der Herausgeber/innen und Autor/inn/en nicht schmälern: Sie haben mit dieser gelungenen Publikation eine wichtige Ergänzung der deutschsprachigen Fachliteratur zur inhaltlichen Erschließung geschaffen.

Heidrun Wiesenmüller, Hochschule der Medien Stuttgart

Zitierfähiger Link (DOI): https://doi.org/10.5282/o-bib/2019H1S93-97

1 Vgl. Wiesenmüller, Heidrun: Das neue Sacherschließungskonzept der DNB in der FAZ, Blog Basiswissen RDA, 02.08.2017, <https://www.basiswissen-rda.de/neues-sacherschliessungskonzept-faz/>, Stand: 12.02.2019.

2 Broughton, Vanda: Essential classification, London 20152, S. 241-297.

3 Lorenz, Bernd (Hg.): Handbuch zur Regensburger Verbundklassifikation. Materialien zur Einführung, Wiesbaden 20173 (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 61).