Zwischenruf: Wie steht es heute um die ZB MED? Konstanze Söllner im Gespräch mit Dr. Dietrich Nelle

Im Juni 2016 hatte die Gemeinsame Wissenschaftskonferenz (GWK) den Beschluss gefasst, die Bund-Länder-Förderung für ZB MED – Leibniz-Informationszentrum Lebenswissenschaften nicht weiterzuführen. Sie folgte damit einer Empfehlung des Senats der Leibniz-Gemeinschaft. Diese Empfehlung führte zu umfangreichen Protestaktionen aus der bibliothekarischen ebenso wie aus der medizinischen und lebenswissenschaftlichen Fachcommunity. Der VDB – Verein Deutscher Bibliothekarinnen und Bibliothekare beteiligte sich daran mit Schreiben an das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), die GWK und die Länder sowie mit einem Offenen Brief und unterstützte auch die von Rudolf Mumenthaler gestartete Petition zum Erhalt von ZB MED.1

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Am 1. Oktober 2016 wurde Dr. Dietrich Nelle als Interimsdirektor von ZB MED benannt. Vorher war er als Ministerialdirigent im Bundesministerium für Bildung und Forschung tätig. Das Ministerium für Innovation, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen (MIWF NRW) und das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) hatten bereits im Juni 2016 angekündigt, mit einer Übergangsfinanzierung einen Transformationsprozess von ZB MED hin zu einer modernen Informationseinrichtung zu unterstützen. Mit der Bestellung von Dr. Dietrich Nelle als Interimsdirektor sollte der Transformationsprozess eingeleitet und aktiv gestaltet werden. Dietrich Nelle wird zudem von Prof. Klaus Tochtermann, Direktor der ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft, unterstützt. Dietrich Nelle soll die strategische Neuausrichtung von ZB MED vorantreiben, zu der auch die geplante Besetzung der bereits ausgeschriebenen W3-Professur zur künftigen Leitung von ZB MED gemeinsam mit der Universität zu Köln gehört. Die Zielrichtung ist die Wiederaufnahme von ZB MED in die Leibniz-Gemeinschaft nach neuer wissenschaftlicher Begutachtung und damit in die reguläre Bund-Länder-Finanzierung.

Der Jurist Dr. Dietrich Nelle ist bereits seit vielen Jahren in unterschiedlichen Positionen in der Wissenschaftspolitik tätig. So war er zum Beispiel eines der Gründungsmitglieder des Rates für Informationsinfrastrukturen. Im Bundesministerium für Bildung und Forschung leitete Dietrich Nelle bis zur Bestellung als Direktor von ZB MED die Unterabteilung Forschungsorganisationen.

Die VDB-Vorsitzende Konstanze Söllner (UB Erlangen-Nürnberg) hat Dietrich Nelle befragt, wie es um ZB MED heute steht.

K. Söllner: Lieber Herr Nelle, vor reichlich einem Jahr haben Sie das Amt eines Interimsdirektors von ZB MED übernommen, sicher im Moment eine der wichtigsten Aufgaben im deutschen Bibliothekswesen. Für viele Bibliothekarinnen und Bibliothekare war es ein Schock, dass 2016 scheinbar aus heiterem Himmel die Existenz einer zentralen Fachbibliothek komplett in Frage gestellt wurde, denn ZB MED ist ein wichtiger Baustein in der deutschlandweiten Versorgung von Medizin und Lebenswissenschaften mit wissenschaftlicher Information und anderen Dienstleistungen. Wie haben Sie damals von der Senatsentscheidung der Leibniz-Gemeinschaft erfahren, und was waren Ihre ersten Gedanken dabei?

D. Nelle: Die Entscheidung kam keineswegs aus heiterem Himmel. Ich war selbst bereits als Mitglied der Begehungsgruppe des Senats der Leibniz-Gemeinschaft mit dabei. Als ich die Evaluierungsunterlagen in Händen hielt, bestätigte sich leider, was in medizinischen Fachkreisen schon länger als Vermutung kursierte, nämlich dass der Stand der Umsetzung der Empfehlungen aus der vorangegangenen Evaluierung keine guten Aussichten für eine Weiterförderung bieten würde. Nach den „Spielregeln“ der Evaluierung bedeutete die 2011 beschlossene vorgezogene Evaluierung eine „gelbe Karte“. Diese gibt der Einrichtung und ihren Zuwendungsgebern vier Jahre Zeit, eine in den Empfehlungen klar formulierte und innerhalb dieses Zeitraums auch leistbare Agenda abzuarbeiten. Fällt dies überzeugend aus, wird wieder eine Weiterförderung für sieben Jahre ausgesprochen. Fällt es nicht überzeugend aus, ist ein Ausscheiden aus der gemeinsamen Förderung von Bund und Ländern selbst dann unausweichlich, wenn ein anerkannter Bedarf für die von der Einrichtung erbrachten Leistungen besteht. Unverzichtbare Aufgaben müssen dann entweder an anderer Stelle neu organisiert werden oder es müssen die Zuwendungsgeber dafür sorgen, dass sich die Einrichtung außerhalb der Leibniz-Gemeinschaft wieder zukunftsfest aufstellen kann. Diese harten, aber in einem wirksamen Evaluierungsverfahren unvermeidbaren Konsequenzen habe ich in meiner damaligen Funktion auch in allen weiteren Stufen des Verfahrens – Senatsausschuss Evaluierung, Senat der Leibniz-Gemeinschaft und Ausschuss der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz – stets auch persönlich mitgetragen, wenn auch zugegebenermaßen mit Schmerzen. Meine Gedanken waren dann natürlich auf die Hoffnung gerichtet, dass im Gesamtinteresse der Lebenswissenschaften eine tragfähige Transformation ermöglicht werden möge. Erfreulicherweise haben sich das Land Nordrhein-Westfalen und das Bundesgesundheitsministerium auch tatsächlich für diesen Weg entschieden. Nun liegt es an uns, diesen Vertrauensvorschuss auch überzeugend einzulösen.

K. Söllner: Wie haben Sie die Bibliothek und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Ihren ersten Arbeitswochen angetroffen, und wie konnten Sie zu einer gemeinsamen Sprache finden?

D. Nelle: Natürlich befanden sich die Kolleginnen und Kollegen nach einem langen Wechselbad der Gefühle und vielen enttäuschten Hoffnungen in einem Zustand starker Anspannung. Ich habe mich bemüht zu vermitteln, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht nur weiter gebraucht werden, sondern dass die Zukunft der Einrichtung entscheidend von ihrem unverminderten Einsatz abhängen wird. Dies wurde erfreulich engagiert aufgegriffen und parallel zum Tagesgeschäft in Arbeitsgruppen die Umsetzung der sich aus den Evaluierungsempfehlungen ergebenden Notwendigkeiten vorangetrieben.

K. Söllner: Wer ist aktuell in die Transformation von ZB MED eingebunden und was sind die wichtigsten Schritte dabei? Wie weit sind Sie auf dem Weg der Transformation schon vorangekommen? Ist die Zeit nicht furchtbar knapp?

D. Nelle: Die Aufgaben sind in der Tat sportlich, aber der Zeitdruck hilft auch dabei, die erforderlichen Kräfte zu mobilisieren und wir kommen sehr gut voran und befinden uns voll im Zeitplan.

Ein wichtiger erster Meilenstein war es, dass es in der schwierigen Zeit nach dem GWK-Beschluss zum Ausscheiden aus der gemeinsamen Bund-Länder-Förderung gelungen ist, sehr hochkarätige und sehr engagierte Mitglieder für den neuen wissenschaftlichen Beirat zu gewinnen. Das hat uns für alle weiteren Arbeiten sehr viel Rückenwind gegeben.

Der zweite wichtige Meilenstein war die Ausarbeitung eines klaren Institutsprofils. Dafür waren – trotz des negativen Gesamtergebnisses – die Evaluierungsempfehlungen des Senats der Leibniz-Gemeinschaft inhaltlich eine sehr gute Ausgangsbasis. Darauf aufbauend haben wir, wie bereits erwähnt, im Institut konkrete Themenkonzepte in quer zu den Organisationseinheiten zusammengesetzten Arbeitsgruppen erarbeitet. Diese konnten wir dann bereits im März in einer intensiven Klausursitzung mit dem Beirat härten. Seitdem verfügen wir über eine gesicherte Basis für alle weiteren Schritte.

K. Söllner: Was hat sich konzeptionell verändert?

D. Nelle: Unser Profil umfasst jetzt sechs prioritäre Leistungsbereiche, nämlich 1) Organisation eines möglichst vollständigen Zugangs zur wissenschaftlichen Literatur unseres Themenspektrums, 2) Förderung von Open Access, 3) neue wissenschaftsbasierte Informationsdienste, 4) Unterstützung von Forschungsdatenmanagement, 5) digitale Langzeitarchivierung und 6) angewandte Forschung. Inhaltlich geht es dann darum, den Zuwachs an wissenschaftlichem Potenzial dafür zu nutzen, die gute Zusammenarbeit mit Partnerinstitutionen in unserem breit gefassten Aufgabenspektrum mit gemeinsamen Projekten zu verfestigen und zugleich unser Infrastruktur- und Dienstleistungsangebot kontinuierlich weiterzuentwickeln. Außerdem sind in unserer Arbeit bislang schwächer vertretene Segmente des lebenswissenschaftlichen Spektrums durch gezielte Kooperationen zu verstärken. Für die Biowissenschaften streben wir dies konkret mit dem Bioinformatik-Netzwerk „de.NBI“ (zugleich deutscher Knoten der europäischen Forschungsinfrastruktur ELIXIR), für die Psychologie mit dem Leibniz-Institut ZPID in Trier und für die Tiermedizin mit der Tierärztlichen Hochschule Hannover an. Eine zentrale Aufgabe wird sich im kommenden Jahr mit der Organisation eines lebenswissenschaftlichen Konsortiums im Rahmen der Nationalen Forschungsdateninfrastruktur stellen.

K. Söllner: Wie wird ZB MED mit diesem Profil wahrgenommen?

D. Nelle: Mit unserem neuen Profil laufen wir bei wichtigen Partnern in den für uns relevanten Bereichen – den Lebenswissenschaften von der Medizin bis zur Agrarforschung, in der Informatik und im bibliothekarischen und informationswissenschaftlichen Bereich – geradezu offene Türen ein. Bei einem Besuch kürzlich in den USA konnte ich feststellen, dass dies auch für unsere dortigen Partnereinrichtungen gilt. Die National Library of Medicine und die National Agricultural Library dort verfolgen ganz ähnliche Strategien wie wir. Mit den Partnerinstituten in der Leibniz-Gemeinschaft arbeiten wir auch nach dem formalen Ausscheiden aus der Gemeinschaft unverändert eng zusammen. Vergleichbare Kooperationen bauen wir mit Unterstützung der zuständigen Ressorts derzeit auch mit Ressorteinrichtungen in unserem Themenspektrum auf. Auch können wir aktuell von niedriger Basis ausgehend einen sprunghaften Zuwachs bei den drittmittelgeförderten Forschungsprojekten verzeichnen.

K. Söllner: Was hat die konzeptionelle Arbeit an den Evaluierungsempfehlungen und mit eigenen Themen bisher gebracht?

D. Nelle: Dies beginnt sich in den aktuellen Verfahren für gemeinsame Berufungen mit unseren drei Partnerhochschulen bereits auszuzahlen. Für alle drei Berufungsverfahren mit unseren Partnerhochschulen – die W3-Informatikprofessur in der Medizinischen Fakultät der Universität Köln und künftige wissenschaftliche Leitung von ZB MED, für die W2-Informatikprofessur mit der Landwirtschaftlichen Fakultät der Universität Bonn und für die informationswissenschaftliche W2-Professur mit der TH Köln – haben wir jeweils beeindruckende Bewerbungen vorliegen. Und von der Qualität der gemeinsamen Berufungen werden unsere Chancen für die Wiederaufnahme entscheidend abhängen.

K. Söllner: Wenn Sie in die Zukunft schauen, was sind dann die nächsten wichtigen Meilensteine für ZB MED?

D. Nelle: 2019 soll dann der Antrag auf Wiederaufnahme in die Leibniz-Gemeinschaft folgen, 2020 die doppelte Begutachtung durch Wissenschaftsrat und Leibniz-Gemeinschaft, 2021 das Verfahren in der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz und zum 1. Januar 2022 die Wiederaufnahme in die Leibniz-Gemeinschaft.

K. Söllner: Sie sprachen bereits von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Im Haus wird sich ja vieles verändert haben und noch verändern. Was ist das genau?

D. Nelle: Aktuell arbeiten wir gemeinsam mit den Beschäftigten daran, notwendige interne Anpassungen in der Organisation anzugehen. Dazu soll insbesondere eine gezielte Personalentwicklung gehören. Mit dem Weiterbildungszentrum ZBIW der TH Köln und gemeinsam mit unseren Partnerbibliotheken an den Universitäten Köln, Bonn und Aachen arbeiten wir derzeit an einer auf unsere Bedarfe maßgeschneiderten Qualifizierungsmaßnahme.

K. Söllner: Wenn man Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von ZB MED trifft, so erfährt man, dass nach anfänglicher Verunsicherung nun viele wissen, wohin sich die Bibliothek entwickeln soll, und diese Entwicklung aktiv mittragen wollen. Wie erleben Sie Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an der Bibliothek?

D. Nelle: Schön, dass Sie das ebenso wie ich beobachten. Das in der Mitarbeiterschaft steckende Potenzial und die große Motivation, die anstehenden Zukunftsaufgaben auch gemeinsam tatkräftig anzupacken, habe ich bereits bei der Institutsbegehung selbst erfahren dürfen. Das war für mich ein wichtiger Punkt, die Interimsleitung bei ZB MED tatsächlich anzunehmen. Ich freue mich, dass ich in dieser Erwartung auch bislang immer wieder bestätigt wurde. Wenn diese Anstrengungen im kommenden Jahr sichtbare Früchte tragen, werden wir auch genügend Schwung zur Bewältigung der anstehenden Herausforderungen in die Evaluierung und darüber hinaus mitnehmen. Gleichzeitig ist es aber auch notwendig, diese Anstrengungen mit einem aktualisierten Personalentwicklungskonzept zu unterstützen.

K. Söllner: Personalentwicklung ist ein „heißes Eisen“ im Bibliothekswesen. Meistens wird mehr darüber geredet, als dass wirklich etwas Grundsätzliches geschieht. Was haben Sie vor?

D. Nelle: Der richtige Zeitpunkt für die Überarbeitung unseres Personalentwicklungskonzeptes ist das kommende Frühjahr, also der Zeitpunkt, zu dem wir einen signifikanten Zuwachs an wissenschaftlich Arbeitenden erwarten. Diese werden ihre eigene Arbeitskultur und eigene Bedürfnisse mitbringen. Dies bietet die Chance wechselseitigen Austauschs und voneinander Lernens zwischen „Alten“ und „Neuen“, es bedeutet aber auch eine gemeinsame Herausforderung, beides möglichst bruchlos zu einer gemeinsamen Institutskultur zusammenwachsen zu lassen.

K. Söllner: In den letzten Jahren haben wir erlebt, dass viele große, für unverzichtbar gehaltene In­frastrukturen in ihrer Trägerschaft infrage gestellt werden. Neben ZB MED sind dies etwa die Sondersammelgebiete der DFG gewesen. Die Fachinformationsdienste stellen bisher keine nachhaltig finanzierten Infrastrukturen dar. Vielerorts erleben wir den Start umfangreicher digitaler Angebote, vom musikwissenschaftlichen Onlineportal bis zur Deutschen Digitalen Bibliothek (DDB), deren nachhaltiger Betrieb infolge der in diesem Bereich herrschenden Projektfinanzierung nicht gesichert ist – vom Forschungsdatenmanagement ganz zu schweigen. Diese Entwicklung ist dramatisch und steht quer zum Selbstverständnis und Auftrag von Bibliotheken. Wie kann es gelingen sie zu durchbrechen, und wen sehen Sie hier in der Verantwortung?

D. Nelle: Zunächst einmal teile ich Ihre Analyse. Wir verfügen über zu wenige Instrumente, um gute Infrastrukturen zu verstetigen. Der Pakt für Forschung und Innovation hat es allen Wissenschaftsorganisationen aufgetragen, sich dieser Aufgabe zu stellen. Die Leibniz-Gemeinschaft mit ihrem seit 2015 geltenden Verfahren für Neuaufnahmen und strategische Erweiterungen ist da vorbildlich. Deshalb möchte auch ZB MED genau diesen Weg gehen. Für eine künftige Weiterentwicklung der Fachinformationsdienste würde ich mir wünschen, dass auch die DFG Förderformate in diese Richtung entwickelt. Auch die Empfehlungen „Leistung aus Vielfalt“ des Rates für Informationsinfrastrukturen vom Juli 2017 zeigen in genau diese Richtung. Ich erwarte deshalb, dass sich die Gemeinsame Wissenschaftskonferenz diesen Ansatz zu eigen macht und bei der geplanten Ausschreibung von Konsortien für eine Nationale Forschungsdateninfrastruktur geregelte Verstetigungsmechanismen etablieren wird. Allerdings ist dann auch unabdingbar, dass sich die so Geförderten im Gegenzug auch regelmäßigen Evaluierungen stellen bis hin zur möglichen Konsequenz, bei mangelhafter Leistungsfähigkeit gegebenenfalls auch wieder aus der Förderung auszuscheiden. In der Leibniz-Gemeinschaft gibt es viele gute Beispiele dafür, dass sich ein solches System ausgesprochen leistungsförderlich auswirkt.

K. Söllner: Sie haben sich mehrfach für die wissenschaftliche Leitung von zentralen Fachbibliotheken ausgesprochen. Warum denken Sie, dass das so bedeutsam ist, und welche Rolle spielt es für ZB MED?

D. Nelle: Sie haben Recht. Dies ist ein Standpunkt, den ich durch den Wissenschaftsrat geprägt bereits seit über zehn Jahren für alle wissenschaftsbezogenen Infrastrukturen nachdrücklich vertrete. Infrastrukturen können in ihren Dienstleistungen für die Wissenschaft nur dann längerfristig gut bleiben, wenn sie sich nicht damit zufriedengeben, heute die bestmöglichen Angebote zu bieten, Vielmehr ist es notwendig, gleichzeitig bereits an den bestmöglichen Angeboten für morgen und übermorgen zu arbeiten. Dafür ist es unabdingbar, die eigene Methodik auf hohem wissenschaftlichen Niveau kritisch zu reflektieren und weiterzuentwickeln und auch über ein Stück Eigenforschung zu verfügen, mit der sich eigene Erfahrungen bei der Anwendung dieser Methodik sammeln lassen. Diese Leistungsansprüche erfordern gerade an der Spitze wissenschaftlicher Infrastrukturen neben der unabdingbaren Managementkompetenz auch wissenschaftliche Kompetenz. Zahlreiche Evaluierungen durch Wissenschaftsrat und Leibniz-Gemeinschaft bestätigen den direkten Zusammenhang zwischen wissenschaftlicher Kompetenz in der Leitung und der Qualität der Infrastrukturleistungen der Einrichtung.

K. Söllner: Ich komme noch einmal auf die Bibliothekarinnen und Bibliothekare zurück. Welche weiteren Qualifikationen sind aus Ihrer Sicht für eine erfolgreiche Bibliotheksarbeit notwendig? Wo ist der drängendste Bedarf und wie soll er gedeckt werden?

D. Nelle: Vielen Dank für diese wichtige Frage. Die Qualifikationsprofile werden sich in der Tat deutlich verändern. In allen wissenschaftlichen Bibliotheken werden künftig neben der klassischen bibliothekarischen Kompetenz auch hinreichende Informatik- und disziplinäre Kompetenzen erforderlich sein.

IT-Fähigkeiten sind dabei nicht nur notwendig, um digitale Entwicklungen im Alltag bewältigen zu können. Noch mehr werden sie gebraucht, um neue Möglichkeiten, wie sie durch technische Entwicklungen in immer rascherem Tempo entstehen, rechtzeitig zu erkennen und um sie strategisch für die Entwicklung des eigenen Angebotsportfolios nutzen zu können.

K. Söllner: Im wissenschaftlichen Bibliothekswesen gibt es eine langwährende Diskussion um die Bedeutung der fachlichen Kompetenz, die gegebenenfalls in einem grundständigen Studium erworben wurde, im Verhältnis zu den bibliothekarischen Qualifikationen. Werden beide nun durch IT-Fachkenntnisse abgelöst?

D. Nelle: Nein, keinesfalls, für eine erfolgreiche Entwicklung müssen alle drei Kompetenzbereiche zusammenkommen. Die neuen informationstechnischen Entwicklungen verändern übrigens Bibliotheken wie Fachwissenschaften gleichermaßen tiefgreifend.

K. Söllner: Was bedeutet dies für das Verhältnis zwischen Bibliotheken und Fachwissenschaften?

D. Nelle: Fachliche, disziplinäre Kenntnisse werden benötigt, um für die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bei ihren Forschungs-, Lehr- und Transferaufgaben ein attraktiver Begleiter sein zu können. Nicht nur sind Anforderungen und Kulturen in den verschiedenen Communities sehr unterschiedlich, sondern vor allem auch hier in einem immer rascheren Wandel begriffen. Anders als früher können Bibliotheken heute nicht mehr darauf vertrauen, dass ihre Nutzerschaft die Räumlichkeiten der Bibliothek weiterhin regelmäßig physisch aufsucht. Im Zuge der Digitalisierung erfolgt die Nutzung zwangsläufig immer mehr auf elektronischem Wege. Damit droht das Bewusstsein der Nutzerschaft für die Bedeutung der Bibliotheken bei der Produktion wissenschaftlicher Leistung zu verblassen. Deshalb wird es zu einer existenziellen Notwendigkeit für Bibliotheken, sich direkter um ihre Nutzerschaft zu bemühen, als es bisher erforderlich war.

K. Söllner: Sie verweisen auf die Bedeutung sowohl von disziplinärem als auch von IT-Wissen für die Bibliotheksarbeit. Welche Rolle spielen bibliothekarische Qualifikationen in diesem Szenario?

D. Nelle: Dies alles bedeutet keineswegs, dass damit die klassischen bibliothekarischen Kompetenzen verzichtbar würden. Sie werden vielmehr auch weiterhin das Alleinstellungsmerkmal von Bibliotheken bleiben und überdies mehr denn je gebraucht werden. In Zeiten eines rasanten Anstiegs verfügbarer Informationen war es schon immer Aufgabe von Bibliotheken, Ordnung in das scheinbare Chaos zu bringen (Metadaten!), für eine gesicherte Aufbewahrung einmal gewonnener Leistungen zu sorgen (früher Magazine, heute Repositorien) und für wissenschaftsförderliche Arbeitsmöglichkeiten zu sorgen (klassisch vor allem Leseräume mit Informationstheken, heute digitale und analoge Dienstleistungen aller Art wie Open Access, Discovery, Publikationsdienstleistungen, digitale Langzeitarchivierung, Informationskompetenz usw.). Im Jubiläumsjahr der Reformation darf man als Beispiel aus der Geschichte anführen, dass die Sammlung und Erschließung der theologischen Schriften in Bibliotheken im Zusammenspiel mit den neuen technischen Möglichkeiten (Buchdruck!) einen wesentlichen Beitrag zu Nachhaltigkeit und Durchschlagskraft der Reformationsbewegung geleistet hat. Heute, in Zeiten einer rasant anwachsenden Datenflut, sind solche bibliothekarischen Kompetenzen geradezu Schlüsselkompetenzen.

K. Söllner: Ich finde es interessant, dass Sie bibliothekarische Qualifikationen als Schlüsselkompetenz einordnen. In der Bibliothekslaufbahn werden diese Schlüsselkompetenzen oft erst nach einem disziplinären Studium erworben. Auch der Quereinstieg wird immer häufiger. Eigentlich müsste es doch wohl umgekehrt sein? Gerade im Bereich des Forschungsdatenmanagements, von dem bibliothekarisch sehr viel die Rede ist, sehe ich bei den Forschenden oft nur geringes Interesse. Fragen der Datenpublikation und Archivierung treten im Wissenschaftsalltag meist in den Hintergrund. Wie soll sich das überhaupt ändern?

D. Nelle: Damit sprechen Sie einen wunden Punkt an. Inzwischen weiß jeder, dass dieser Bedarf enorm und höchst dringlich ist, eine umfassende Lösung ist aber nicht in Sicht. Nach meiner Überzeugung kann es eine einfache und umfassende Lösung aber auch gar nicht geben, sondern es braucht gleichzeitige Anstrengungen in allen Bereichen der Wissenschaft. Solche Schlüsselkompetenzen müssen heutzutage systematisch in allen disziplinären Curricula verankert sein, um den Nachwuchs auf die Anforderungen innerhalb und außerhalb der Wissenschaft zeitgemäß vorzubereiten. Auch sind Informatik, Simulationswissenschaft und Data Science sicherlich Wachstumsdisziplinen. Nicht umsonst fordert in diesem Frühjahr auch der Rat für Informationsinfrastrukturen in seinem Diskussionspapier zur Ausgestaltung einer Nationalen Forschungsdateninfrastruktur ferner, dass die zu fördernden Konsortien auch Summer Schools veranstalten und sich weiteren Ausbildungs- und Schulungsaufgaben widmen sollen. Und nicht zuletzt wir Bibliotheken selbst müssen uns als Mittler dieser Kompetenzen verstehen. Dazu gehört die Kompetenzvermittlung durch direkte Beratungen, Webinare, Tutorials und Vernetzungsaktivitäten zu so unterschiedlichen Themen wie Open Access, digitales Publizieren, Discovery und Forschungsdatenmanagement. Gerade in diesem letztgenannten Bereich ist es unabdingbar, dass Bibliotheken ihre spezifischen Kompetenzen auch tatsächlich zum Tragen bringen.

K. Söllner: Wie erleben Sie aktuell die bibliothekarische Community und was wollen Sie uns noch ins Stammbuch schreiben?

D. Nelle: Es ist ja noch nicht so lange her, dass ich als Quereinsteiger in das Bibliothekswesen gewechselt bin. Ich kann deshalb gut mit anderen Communities vergleichen, die ich ebenfalls von innen heraus erleben durfte. Auf Grundlage dieser Beobachtungen sind in der Tat Wünsche an meine eigene aktuelle Community gewachsen, die ich in vier Thesen zusammenfassen möchte.

1. Selbstbewusstsein: In Zeiten der Digitalisierung haben wir Bibliotheken eine wachsende Verantwortung, uns mit unseren spezifischen Kompetenzen bei der Ordnung, Erschließung und Nutzung von Informationen einzubringen. Zu dieser Verantwortung müssen wir uns aber auch offensiv bekennen und die daraus erwachsenden Aufgaben aktiv aufgreifen.

2. Kooperation: Immer weniger dieser Aufgaben können isoliert und vollständig autonom an den Einzelstandorten geleistet werden. Immer mehr Aufgaben können nur in intelligenter Kombination von regionaler Präsenz und synergetischer Verbindung gemeinschaftlicher Möglichkeiten erledigt werden. Dies beginnt bei den zweischichtigen Bibliotheken und reicht über Verbünde und Fachinformationsdienste bis hin zu den Zentralen Fachbibliotheken. Als Bibliotheken müssen wir uns als ein wechselseitig voneinander abhängendes Netzwerk mit funktionalen Aufgabenteilungen verstehen. Darüber hinaus müssen wir uns noch stärker als guter Partner für eine gemeinsame Aufgabenerfüllung mit anderen verstehen, z.B. mit anderen Infrastrukturen wie den Rechenzentren der Universitäten. Und wir müssen die Fähigkeit gewinnen, unsere wesentlichen Angebote und Anliegen so zügig und klar zu formulieren, dass wir sie rechtzeitig in strategische Diskussionen z.B. mit Hochschulleitungen oder Zuwendungsgebern einbringen können.

3. Extraversion: Wie bereits geschildert, können Bibliotheken immer weniger darauf vertrauen, ihre Nutzerschaft vorrangig über den Besuch von Bibliotheksräumlichkeiten binden zu können. Wir müssen unsere Nutzerschaft dort abholen, wo sie sich befindet, und unsere Unterstützung vorausschauend auf deren sich verändernde Arbeitsweisen und Bedürfnisse ausrichten. Wir dürfen Informationskompetenz nicht nur anderen vermitteln wollen, sondern müssen uns die dafür erforderliche Kompetenz auch selber aneignen und in unserem tatsächlichen Tun unter Beweis stellen.

4. Mut zur Veränderung, Agilität, verlässliche Orientierung: Die Digitalisierung ist kein einmaliger oder planbarer Veränderungsprozess, der anschließend wieder in einen eingeschwungenen Zustand führen würde. Wir müssen uns vielmehr daran gewöhnen, dass sich die Dynamik immer weiter beschleunigen wird. Diese Veränderungen müssen wir zuverlässig beherrschen und gestalten, sich eröffnende Chancen beherzt ergreifen, bestehende Risiken besonnen begrenzen. Dies gilt nicht nur für uns selbst. Vor allem müssen wir unsere Nutzerschaft darin unterstützen, möglichst entspannt und effektiv mit den sie noch viel stärker betreffenden Änderungen umgehen zu können. Bibliotheken waren schon immer ein Leuchtturm verlässlicher Orientierung in stürmisch wogenden Informationsfluten. In Ländern wie Kanada, den USA und Großbritannien sehen Bibliotheken genau dies als ihre Rolle an. Ich würde mir wünschen, dass wir uns auch in Deutschland auf eine solche Rolle verständigen können.

K. Söllner: Lieber Herr Nelle, ich danke Ihnen für diese Einschätzung und den damit verbundenen Appell an die bibliothekarische Community. Zum Abschluss wünsche ich Ihnen und ZB MED Erfolg auf dem Weg zu einer dauerhaften Bund-Länder-Finanzierung und danke herzlich für das Gespräch!

Zitierfähiger Link (DOI): https://doi.org/10.5282/o-bib/2017H4S299-307

1 Petition #keepZBMED, zuletzt geprüft am 25.10.2017, https://www.change.org/p/keepzbmed.