Digitale Rekonstruktion von historischem Bibliotheksgut

Projektvorstellung Leibniz-Fragmente und Massendigitalisierung von Flachware

Matthias Wehry, Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek – Niedersächsische Landesbibliothek

Zusammenfassung:

Der Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz verwendete eine besondere Form der Wissensordnung: Teile seiner Manuskripte und Arbeitspapiere, z.B. Abschriften und Exzerpte, wurden von ihm zerschnitten und in einem so genannten „Zettel-Schrancken“, einem großen Zettelkasten, geordnet. Im vorgestellten Projekt wurde ein automatisiertes virtuelles Assistenzsystem erarbeitet, um die ursprünglichen Zusammenhänge der Notata im Augenblick ihrer Entstehung wiederherzustellen. Das Ergebnis des Projektes ist ein innovatives Massenverfahren zum Puzzeln und Scannen historischer handschriftlicher Dokumente.

Summary:

The polymath Gottfried Wilhelm Leibniz used a specific technique for knowledge organisation: He cut parts of his manuscripts and working papers, e.g., copies and excerpts, in pieces and filed them systematically in a so called “Zettel-Schrancken”, a hugh slipbox. In the project presented in this paper, an automated virtual reconstruction of the notes’ initial context at the moment of origin was developed. The result of the project is an innovative mass processing method for puzzling and scanning historical handwritten documents.

Zitierfähiger Link (DOI): https://doi.org/10.5282/o-bib/2017H4S189-198
Autorenidentifikation: Wehry, Matthias: GND 1065199988
Schlagwörter: Rekonstruktion; Bibliotheksgut

1. Zur Praxis der digitalen Rekonstruktion

Der Einsatz von Rekonstruktionstechniken ist in der Praxis der Alt- und Sonderbestandserschließung in Bibliotheken keine Seltenheit. Bemüht sich eine solche Rekonstruktion um die Ermittlung der Sammlungsbeziehungen unterschiedlicher Objekte zu einem sammelnden Subjekt, wird in der Regel von Bibliotheksrekonstruktion auf der Ebene der Autoren- und Gelehrtenbibliotheken gesprochen. Dynastische, gesellschaftliche und individuelle Beziehungen zu einzelnen Sammlungen schriftlichen Kulturguts, häufig in Verbindung mit anderen Praktiken und Ausprägungen des Sammelns in Form von Naturalienkabinetten, Münzsammlungen, des Zusammenführens mechanisch-technischer Gerätschaften oder Devotionalien, sind ebenso Gegenstand bibliothekarischer Erschließung und Forschung wie die Exemplargeschichte des Buches. Methoden zur Provenienzermittlung und -Beschreibung wie auch wie zur Ermittlung historischer Zusammenhänge stehen neben konservatorischen, bisweilen materialwissenschaftlichen Ansätzen der Bestandserhaltung und Erschließung zur Aufarbeitung, Erschließung und Sicherung von Bibliotheksgut. Diese Ergebnisse werden heute nicht nur in herkömmlichen Druck- und Digital-Born-Publikationen, sondern auch in Datenbanken und Anwendungen gesichert und die entstandenen Metadaten für Projekte aus dem Kontext der Digital Humanities aufbereitet.

Bezieht man den Begriff der Rekonstruktion auf materialwissenschaftliche Anwendungen, fallen weitere bekannte Methoden ein. Neben einfachen Formen, wie etwa verwaschene Tinten durch den Einsatz von Schwarzlicht sichtbarer zu machen, gibt es komplexe Ansätze zur Rekonstruktion von geschädigten Materialien, zur Identifikation und Aufarbeitung von Palimpsesten oder zur Datierung von Tinten. Diese Ansätze verbinden zumeist konservatorische Praxis mit Fragen der Erschließung und Methoden der IT und finden vermehrt Einsatz im Bereich von Archiv- und Bibliotheksgut. Einen Spezialfall dieser Rekonstruktion stellt die digitale Rekonstruktion dar. In diesem Fall unterstützen speziell entwickelte, digitale Assistenzsysteme die Rekonstruktionsbemühungen an zuvor digitalisierten Beständen. Wesentliches Charakteristikum digitaler Rekonstruktion ist der Einsatz verarbeitender Systeme an digitalisierten Beständen, die erkenntnisgenerierende Leistungen oder Vorarbeiten erbringen. Diese Leistungen sind intellektuell oder physisch oft nicht ohne erheblichen Aufwand umsetzbar. Dabei werden in der Regel bereits bei der Digitalisierung der Bestände Verfahren eingesetzt, die die Eigenheiten der Materialien für die digitale Rekonstruktion ermitteln. Beispiele hierfür sind Papierstrukturen, Wasserzeichen, Eigenheiten verwendeter Tinten etc. Gewinn der digitalen Rekonstruktion ist damit die Ermittlung bisher unbekannter Daten und Informationen über den Bestand durch Sonderformen der Digitalisierung und durch eine assistenzsystembasierte Aufbereitung.

Für solche Verfahren gibt es verschiedene Beispiele. In dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Projekt „3D-Joins und Schriftmetrologie“ wird seit 2013 von drei Projektpartnern – dem Würzburger Lehrstuhl für Altorientalistik, der Forschungsstelle „Hethitische Forschungen“ an der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz und dem Lehrstuhl für Graphische Systeme (Informatik VII) der Technischen Universität Dortmund – eine computergestützte Schriftanalyse in Verbindung mit dem 3D-Puzzeln digitalisierter Fragmente von Tontafeln entwickelt.1 Ziel des Projektes ist die Rekonstruktion möglichst vollständiger Tontafeln zugunsten der Erforschung und Bereitstellung der Textkorpora. Ein wichtiger Parameter beim Erschließen dieser Tontafeln liegt in den individuellen Eigenheiten verschiedener Schreiberhände, um Fragmente eindeutig zusammenführen zu können. Inhaltlicher Schwerpunkt des Projektes waren Textfragmente der antiken Stadt Hattuscha, die in Museen in Ankara, Berlin und Istanbul digitalisiert wurden.

Im Kontext des Brandfolgenmanagements der Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar stehen Konzepte zum Einsatz der Multispektraldigitalisierung zur Rekonstruktion geschädigter Notenhandschriften.2 In Anlehnung an „die interdisziplinären Forschungsergebnisse eines 2007 abgeschlossenen DFG-Projekts zur Handschriftenrestaurierung an der Universität Marburg, welches die Erhaltung von Authentizitäts- und Originalitätsmerkmalen [...] erstmals umfassend herausarbeitete“,3 soll das Multispektralvorhaben als Kooperation zwischen der Herzogin Anna Amalia Bibliothek, der MFB MusterFabrik Berlin GmbH, einer Ausgründung des Fraunhofer-Instituts für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik, und der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim, Fachrichtung Schriftgut, Buch und Graphik (Prof. Ulrike Hähner) eine Massendigitalisierung von insgesamt 800 Handschriften (ca. 250.000 Aufnahmen) in Verbindung mit Methoden der Bildverarbeitung und Mustererkennung umsetzen. Ein technisches Vorprojekt (August 2013 - März 2014) ermittelte die technischen Bedingungen und Verfahrensweisen, um den Informationsgehalt der brandgeschädigten Notenhandschriften wieder sichtbar zu machen. Die Projektpartner beziehen sich in ihrem Ansatz auf multispektrale bildgebende Verfahren, wie sie bereits – in ähnlicher Form und in Projekten anderer Häuser – an Teilen der Schriftrollen von Qumran (1990er Jahre), am Codex Sinaiticus (2009), bei kaukasisch-albanischen Palimpsesten (2003-2007) und im PALAMEDES-Projekt (2013f.) zum Einsatz kamen, erweitern den Ansatz aber um Methoden des Mengenbetriebs für katastrophengeschädigte Materialien. Gemeinsam ist allen Projekten, dass das Ergebnis eine digitale Textrekonstruktion darstellt, die etwas wiedergibt, was mit bloßem Auge nicht zu erkennen und durch allein physische Bearbeitung nicht ermittelbar wäre.

Spezialisiert auf die digitale Rekonstruktion ist das bereits erwähnte Fraunhofer IPK sowie die MusterFabrik Berlin. Ihr bekanntestes Projekt sind die Arbeitsstände zur automatisierten virtuellen Rekonstruktion der zerrissenen Stasi-Akten.4 Ebenso bekannt dürften die Bemühungen um die laufende Rekonstruktion der durch den Einsturz des Historischen Archivs der Stadt Köln entstandenen Fragmente sein.5 Während im ersten Fall manuell geschädigte Materialien sowie geschreddertes Material vorliegt, ist im zweiten Fall eine Rekonstruktion von durch Katastropheneinwirkung geschädigtem Material in einer konservatorischen Dimension notwendig. Die unterschiedlichen Eigenheiten der Materialien sind dabei Ausgangspunkt für die Entwicklung passender Ausprägungen von Assistenzsystemen. Wie das Fraunhofer IPK auf seiner Homepage äußert, sind weitere Projekte angedacht. Neben der Aufarbeitung von 3D-Objekten soll in Kooperation mit der Ägyptischen Sammlung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz ein System, das die physische Rekonstruktion eines Konvoluts hochgradig beschädigter, aber historisch einmaliger Papyri ermöglichen soll“6 entwickelt werden. Ebenso bestünden „Konzepte für die automatisierte virtuelle Rekonstruktion dreidimensionaler Objekte […] am Beispiel von rund 100.000 Fragmenten von Marmorplatten, die bei Ausgrabungen im türkischen Ephesus geborgen werden.“7

2. Fallbeispiel Leibniz

Gegenstand der hier vorgestellten digitalen Rekonstruktion ist der handschriftliche Nachlass von Gottfried Wilhelm Leibniz in den überlieferten Beständen der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek – Niedersächsischen Landesbibliothek. Aufgrund seiner Diensttätigkeit am Hofe des Kurfürstentums Hannover wurde Leibniz‘ Wohnung nach seinem Tode versiegelt. Der Nachlass konnte deshalb in einer für die Frühe Neuzeit ungewohnten Vollständigkeit übernommen werden. Zielte die Übernahme wohl im Kern auf die im Nachlass verwahrten historischen Papiere und Materialien, die Leibniz Zeit seines Amtes als Haushistoriograph, Rechtsberater und Bibliothekar gesammelt und zusammengeführt hatte, und auf die Sicherung der bis zu diesem Zeitpunkt nicht publizierten Welfengeschichte aus seiner Werkstatt, so wurden die Bestände – insgesamt 100.000 Blatt Papiere, zuzüglich der Aktenvorgänge und Verwaltungsmaterialien – im Laufe der Jahrhunderte auf das Archiv und die Bibliothek verteilt. Der wissenschaftliche Kern des Nachlasses blieb im Wesentlichen erhalten; Kassationen waren angesichts des Umfangs, dem sich die Archivare und Bibliothekare des 18. Jahrhunderts gegenübersahen, schwerlich möglich. Selbst der Nachlass schien zumindest im 18. Jahrhundert nicht in einem vorzeigbaren, sortierten Zustand gewesen zu sein, konnte man doch den umfangreichen Briefwechsel von Leibniz und Christian Wolff in der Mitte des 18. Jahrhunderts nicht ausfindig machen.

An diesem Zustand hatte Leibniz allerdings selbst durch die von ihm angewandten Ordnungssysteme mitgewirkt, denn er setzte einen Zettelkasten ein, in welchem er Teile seiner Arbeitspapiere, Literaturauszüge und Materialien unter systematischen Gesichtspunkten ablegte. Leibniz berichtete selbst, dass ihm morgens, während er „noch eine Stunde im Bett“ liege, „so viele Gedanken“ kämen, dass er „den ganzen Vormittag, ja mitunter den ganzen Tag und länger“ benötige, um sie „durch Aufschreiben klar werden zu lassen.“8 Aufgrund Papierknappheit und pragmatischem Denken notierte Leibniz auf einem Blatt mehrere Aussagen und Gedanken, die er – zur Ablage in seinem Nachlass – zerschnitt und in eine – nicht überlieferte und nur schwer rekonstruierbare – Systematik einordnete. Der Zettelkasten selbst hatte in der Ausführung eine Größe, die ihm in der Leibniz-Hagiographie zum Namen des „Leibnizschen Excerpir-Schranck“9 verhalf und vermutlich die Stellfläche von 1.200 Bänden ausfüllte.10 Dieser Zettelkasten ging auf einen Entwurf nach einem Kupferstich in Vincent Placcius De Arte Excerpendi aus dem Jahr 1689 zurück. Dieses Kupfer zeigte, wie der Bibliotheksschreiber Baring im Jahre 1724 festhielt, offenbar einen Zettelkasten aus dem Nachlass des Mathematikers Johann Adolph Tassius. Leibniz wiederum habe, so Baring, einen ähnlich wie in diesem Kupfer ausgeführten Zettelkasten erworben, welchen „der ehmalige alhier in Diensten gestandene curieuse Secret. Clacius (…) verfertigen laßen, welchen nach deßen Tode H. v. Leibniz vor 20 Tl. an sich erhandelt, und dieser ist der sogenandte Leibnizische Excerpir-Schranck, so auf der Königl. Bibliothek beybehalten worden, wovon ihm [Leibniz] aber also die Invention nicht zuzuschreiben“.11 In diesen Zettelkasten hatte Leibniz nun seinen Nachlass einsortiert: „Mir gefallet des H. Viviani weise sehr wohl, seine gedancken auf schedas dissolutas [einzelne/verstreute Zettel] zu sezen, und hernach einzutheilen, ich thue offt dergleichen, und habe auch ein groß chaos.“12 Das Ergebnis einer verhältnismäßigen Unordnung wurde durch die Übernahme des Zettelkastens nach Ableben der eigentlichen Ordnungseinheit – in Person: Leibniz – durch interessegeleitete Archivare und Haushistoriographen zweifelsfrei potenziert. Zwar erhielt der Nachlass im Laufe der Jahrhunderte – spätestens in der Erschließung durch Eduard Bodemann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – eine Sortierung, doch ist diese historisch kontingent und bezieht sich nicht im Kern auf die Ordnung, die Leibniz einmal vorgeschwebt haben mag.

Ziel der virtuellen Rekonstruktion der Leibniz-Fragmente ist allerdings nicht die Wiederherstellung der Leibnizschen Ordnung im Zettelkasten, sondern die Rekonstruktion der noch unzerschnittenen Arbeitspapiere, wie sie Leibniz im Augenblick der Verschriftlichung seiner Gedankengänge angelegt hat. Für die Datierung der Fragmente für Erschließungs- und Forschungsbemühungen ist die Rekonstruktion des ursprünglichen Zusammenhangs zum Zeitpunkt der Entstehung überaus hilfreich. Erstens können hierbei die Datierungen, die Leibniz hin und wieder zumindest auf einem der Fragmente eines gesamten Blattes verzeichnet hatte, erhebliche Hilfestellung leisten. Zweitens kann auch die Zusammensetzung des Blattes einen Hinweis auf eine Datierung liefern, wenn mehrere Fragmente verschiedener Inhalte zusammengeführt werden. In diesem Fall können die angerissenen Sachthemen, die häufig zeitlich gebunden waren in der Entwicklung des Denkens von Leibniz, zur Datierung beitragen.

3. Ansatz zur Massendigitalisierung und Methodik der virtuellen Rekonstruktion

Das Pilotprojekt zur Rekonstruktion der im Nachlass verwahrten Fragmente bezog sich auf den Bestand LH XXXV, der die mathematischen Faszikel der Handschriften von Leibniz enthält. Er umfasst insgesamt 7.200 Blatt. Sofern man die Einzelblätter in Oktav- und Quartformat unberücksichtigt lässt, die im Puzzleverfahren aufgrund ersichtlicher Vollständigkeit herausgefiltert werden konnten, liegt der Anteil vorhandener Fragmente bei ca. 40 %. Da die Mathematica bei Leibniz in besonderer Form für das Zerschneiden und Zerreißen anfällig waren, ist dieser Anteil im Vergleich zu anderen Bereichen verhältnismäßig hoch. Lediglich bei den weiteren naturwissenschaftlichen Faszikeln und dem Geschichtswerk, in welchem Leibniz Exzerpte und Notizen – teils auch aus Schreiberhand – in einem hohen Maße als Schnipsel sortierte, ist ein ähnlich hoher Anteil zu erwarten.

Projektpartner dieses Pilotprojektes waren die Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek (GWLB), die Leibniz-Forschungsstelle Hannover der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen und die MusterFabrik Berlin (MFB) und, damit verbunden, das Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik (Fraunhofer IPK). Das Projekt mit der Laufzeit vom 1. Oktober 2015 bis zum 31. März 2017 wurde durch die Klaus-Tschira-Stiftung, Heidelberg, gefördert. Im Rahmen dieses Projektes konnte ein computergestütztes Assistenzsystem entwickelt werden, das die Fragmente der Mathematica von Leibniz digital zusammenführt. Die grundsätzliche Projektidee, das technische Knowhow des Fraunhofer IPK mit den mathematischen Fragmenten zu verbinden, liegt bei Siegmund Probst, langjähriger Mitarbeiter der Editionsstelle im Bereich der Reihe VII (Mathematische Schriften). Das Projekt teilt sich in drei Arbeitspakete: (1) Digitalisierung, (2) Entwicklung Assistenzbetrieb und Mengenbetrieb, (3) Überprüfen der Ergebnisse durch Expertinnen und Experten.

Im Bereich der Digitalisierung war von Beginn an der Wunsch, den gesamten, 100.000 Blatt umfassenden Nachlass zu digitalisieren. Im Rahmen des Projektes erfolgte die Bewilligung für die Digitalisierung von 7.200 Blatt. Es ergab sich allerdings schnell die Erkenntnis der Diskrepanz zwischen dem Projektentwurf und der fortlaufenden technischen Entwicklung der MusterFabrik Berlin. War man bei Antragsstellung noch davon ausgegangen, den Bestand mit einem im Bibliothekswesen gängigen Scanner zu digitalisieren, konnte bei der Bewilligung bereits auf einen neuen technologischen Stand der MusterFabrik zurückgegriffen werden. Diese hatte für das Kölner Stadtarchiv einen neuen Scanner zur Digitalisierung von Flachware entwickelt. Dieser Scannertyp wurde für das Leibniz-Projekt in vergrößerter Form weiterentwickelt, um auch Großfoliobögen berücksichtigen zu können, und mit einer Durchlichteinheit verbunden. Grundprinzip des Scanners sind Kameraeinheiten, über die die Fragmente in bestandsschonenden Glasträgern geführt werden. Die Digitalisierung von Recto, Verso und Durchlicht sowie weiterer Aufnahmen erfolgt in einem Durchgang. Da im Glasträger mehrere Fragmente zeitgleich gescannt werden können, wurde die Digitalisierung des Bestandes stark beschleunigt. Entscheidendes Kriterium für den Entwicklungsauftrag für diesen Scanner war die rekonstruktionskonforme, pixelgetreue Wiedergabe der Materialien. Während im Bibliothekswesen gängige Scanner leichte, kaum sichtbare Verzerrungen verursachen, die im Puzzleprozess das Fragment verändert wiedergeben würden, ermöglicht der Einsatz der Zeilenkameras eine getreue Wiedergabe. Auf Wunsch der Bibliothek wurde der Scanner so konstruiert, dass er für nachfolgende Projekte zur Rekonstruktion von durch Wassereinwirkung geschädigten Handschriften aufgerüstet und erweitert werden kann. Anteilig finanziert wurde dieser Scanner durch Mittel des Landes Niedersachsen. Durch seinen Einsatz ab Sommer 2016 konnten die Bestände innerhalb kurzer Zeit digitalisiert und zur Verarbeitung weitergegeben werden. Aufgrund der Leistungsfähigkeit des Scanners kann prognostiziert werden, dass der gesamte Bestand der Leibniz-Handschriften im Jahre 2018 digitalisiert vorliegen wird, d.h. innerhalb von zwei Jahren werden somit 300.000 Scans (recto, verso, Durchlicht) angefertigt worden sein. Für die virtuelle Präsentation der Digitalisate in den Digitalen Sammlungen wurde auf eine Seitenteilung der zum Teil doppelseitig digitalisierten Handschriften auf Wunsch der Leibniz-Forschung verzichtet. Denn Leibniz hatte die Angewohnheit, über die Seitentrennung hinweg zu schreiben und Verweisungen zu machen.

Für das Assistenzsystem für die digitale Rekonstruktion lassen sich eine Vielzahl von relevanten Puzzlemerkmalen benennen. Neben Konturen und Farbmerkmalen ist die Struktur des Hadernpapieres (Wasserzeichen, Schöpfrahmenlinien) ein denkbares Element für einen Ansatz zur Zusammenführung möglicher Fragmente. Im Pilotprojekt wurde der Schwerpunkt auf die Ermittlung der Passgleichheit auf Konturmerkmale gelegt. Aufgrund der unterschiedlichen altersbedingten Verfärbungen der Handschriften, bedingt durch die verschiedenen Qualitäten der Lagerungsorte der Bestände, mussten Farbmerkmale des Papiers ebenso wie der verwendeten Tinte unberücksichtigt bleiben. Wie sich gezeigt hat, lagen bei vielen Fragmenten halbierte Folio- oder Doppelfolio-Seiten vor, deren Schnittkonturen sehr gerade waren. Aufgrund der Ähnlichkeit gerader Linien bei mehreren Blättern wurden im Assistenzsystem gleichbewertete Vorschläge für mögliche Matches gemacht, bei denen die Wahrscheinlichkeit der Passgenauigkeit dieser halbierten Seiten zufällig gleich hoch war. Verschiedene Faktoren – Autokorrelation, Unterteilung in Risikoklassen – ermöglichten eine Priorisierung der Vorschläge. Von besonderer Herausforderung im Puzzleprojekt waren zwei Aspekte: Erstens musste insbesondere bei kleinteiligen Fragmenten berücksichtigt werden, dass mehrere Fragmente mit ihren jeweiligen Schnittkanten an eine Schnittkante eines anderen Fragmentes passen konnten. Während im klassischen Puzzle die Seite eines Puzzleteils direkt an eine andere Seite genau eines Puzzleteils passt, war bei der Rekonstruktion der Leibnizfragmente nicht im Vorhinein zu entscheiden, wieviele Puzzleteile – um den Vergleich zu wahren – an eine Seite eines Puzzleteils gehörten. Das führte zu möglichen Schnittkantenketten, die in der Entwicklung des Assistenzsystems zu berücksichtigen waren. Außerdem gab es zu Beginn den „Butterkeks-Effekt“: Stellt man sich die zu rekonstruierende Vorlage als zerbrochenen Butterkeks vor, so würden nicht die Bruchkanten, sondern die Zähne – aufgrund bestehender Ähnlichkeiten – aneinander gepuzzelt werden. Lösung des Problems war es, das Assistenzsystem so zu programmieren, dass nicht Risskanten, die tendenzielle deutliche Kantenverwerfungen (wie die Zähne eines Butterkeks) aufweisen, sondern Schnittkanten, die meistens sehr glatt und gerade waren, gepuzzelt werden konnten. Die Ergebnisse des Assistenzsystems wurden im abschließenden Schritt durch Mitarbeitende der Leibniz-Forschungsstelle Hannover bewertet und – im Falle korrekter Ergebnisse – bestätigt und wissenschaftlich in die Bemühungen der Edition der Akademieausgabe der Werke von Leibniz eingebunden.

4. Ergebnisse

Das Projekt lieferte im Kern drei Formen von Ergebnissen. Erstens konnten weitere Erfahrungen im Bereich der Entwicklung und der Praxis computergestützter Assistenzsysteme gewonnen werden. In diesem Sinne ist es ein Entwicklungsprojekt für Infrastrukturen in der Aufarbeitung historischer Dokumente. Bereits im Vorab des Projektes war die Machbarkeit und Durchführbarkeit getestet und mit Probefragmenten, deren Zusammensetzung bekannt war, erfolgreich umgesetzt worden. Es stehen noch weitere Entwicklungsmöglichkeiten für genaueres Puzzeln aus: Neben Lösungen für angefaserte Papiere sind für das große Puzzleprojekt (die restlichen 92.500 Blatt) Lösungen für die Identifikation von Schreiberhänden etc. erwünscht. Gleichwohl belegt das Projekt bei einem speziellen und komplizierten Fall von schriftlichem Kulturgut die Lauffähigkeit und Ergebnisschnelligkeit des Assistenzsystems. Dies macht Hoffnung, dass leichtere Fälle, wie beispielsweise Materialien, deren Rekonstruktionsergebnis auf Blattebene nicht in unterschiedlichen Endformaten liegt, sondern in der Papierform standardisiert ist, ebenso ergebnis- und historisch erkenntnisreich bearbeitet werden können – beispielsweise Akten der politischen Vergangenheit.

Zweitens hat das Projekt, trotz der Tatsache, dass erst weniger als 10 % des Nachlasses als Digitalisate zum Puzzlen verwendet wurden, erhebliche Ergebnisse geliefert. Von den ermittelten 3.244 Blattfragmenten mussten 752 angefaserte Fragmente herausgenommen werden, da die Ränderanfaserung eine Mustererkennung – zumindest in der Entwicklungsstufe des Assistenzsystems im Pilotprojekt – nicht zuließ. Die restlichen 2.492 digitalisierten Fragmente wurden in den aktiven Pool der Rekonstruktions­versuche gegeben. Als Endergebnis liegen insgesamt 87 erfolgreiche Blattrekonstruktionen vor: 86 Paarungen aus zwei Blattfragmenten, 1 Tripel aus drei Blattfragmenten. Von den 51 Treffern sind bisher 20 Paarungen bekannt gewesen, davon entfallen 11 auf die Pariser Zeit (1672-1676) und 9 auf die Hannoversche Zeit (1677-1716). Das Assistenzsystem wurde damit bestätigt. Es verbleiben somit als neu entdeckte Rekonstruktionen 1 Tripel und 30 Paarungen, die vorrangig aus der Hannoverschen Zeit stammen. Während innerhalb einer Forschungszeit von 40 Jahren (1976-2016) ca. 120 händische Rekonstruktionen gemacht wurden, die primär Zufallsfunde waren, konnten in 1 ½ Jahren 31 digitale Rekonstruktionen erstellt werden. Neben dem deutlichen Erkenntnisgewinn – von den 31 Treffern sind 17 Umdatierungen und Präzisierungen von bisherigen Datierungen zu erkennen – muss bei der Zahl bedacht werden, dass unter 10 % der eigentlichen, in der GWLB liegenden Puzzlemenge berücksichtigt wurden. Bedenkt man, dass Leibniz darüber hinaus auf Reisen und längeren Abwesenheiten von Hannover eigene Schreibtische besaß, und Teile der Fragmente vielleicht auch in die Aktenablage im Archiv, vermutlich aber auch von Leibniz selbst entsorgt wurden, ist das Ergebnis mehr als vorzeigbar. Berücksichtigt man ferner, dass in einigen Fällen Fragmente um 20 Jahre vorzudatieren sind, ist mit einem Einsatz des Assistenzsystems auf den gesamten Bestand, in Verbindung mit der Entwicklung weiterer Lösungen für Sonderfälle (Bsp. angefasertes Material) ein erheblicher Erkenntnisgewinn für Forschung und Erschließung zu erwarten.

Als drittes Ergebnis des Projektes ist die Dynamik zu nennen, die zu einer in naher Zukunft abgeschlossenen Digitalisierung des handschriftlichen Nachlasses von Leibniz führen wird, der als größter Gelehrtennachlass der Frühen Neuzeit gilt. In dem Prozess der Digitalisierung sind dabei unterschiedliche Erkenntnisse zur Projektorganisation gewonnen worden. So wurde im Projekt auch eine Restauratorin anteilig in der Digitalisierung eingesetzt; ein Verfahren, das sich bei der Inbetriebnahme neu entwickelter Scaninfrastrukturen als vorteilhaft erwiesen hat. Ebenso ist als erstes Zwischenergebnis zu benennen, dass der Scanner – trotz bestandsschonendem Einsatz – eine gute Relation zwischen Aufwand und Nutzen zeitigt. So lässt sich absehen, dass für den gesamten digitalisierten Nachlass die Scankosten pro Digitalisat bei ca. 0,30-0,50 Euro liegen (enthält: Digitalisieren, Einspielen in Digitale Sammlungen; bei vorhandenen Metadaten und Verzicht auf Strukturdaten). Das Ergebnis lässt sich allerdings nur für den Leibniz-Nachlass als repräsentativ bezeichnen; andere – mehr oder weniger fragmentierte – Bestände lassen andere Kosten erwarten, je nach Materialform. Bei konsequentem Einsatz einer Restauratorin oder eines Restaurators am Scanner (in vorliegender Berechnung nur anteilig) steigen die Kosten; das allerdings nimmt man gerne in Kauf. Die Auswirkungen auf die Kosten der Datenbereitstellung und -haltung lassen sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht abschätzen. Anzumerken ist, dass das Projekt im Bereich der Digitalisierung der Briefsiegel und im Fall der Durchlichtaufnahme eine für ein Massendigitalisierungsprojekt gute Qualität bietet. Bestleistungen könnte der Scanner insbesondere bei den Durchlichtaufnahmen nur bei Einzelaufnahmen und bei einer für jede Blattstärke adäquaten Ausleuchtung erreichen. Im Massenverfahren sind hier brauchbare, aber nicht perfekte Ergebnisse zu erwarten. Rückmeldungen aus der Leibnizforschung zeigen jedoch, dass diese Gesamtheit der Durchlichtdigitalisate die Diskussion um die Datierung und zeitliche Verwendung der Leibnizpapiere erheblich bereichert.

Aber das Projekt hat auch Grenzen: So lässt sich die originäre systematische Ordnung von Leibniz – zumindest bei jenen Zetteln, die Ordnungskriterien enthalten – virtuell nicht ermitteln, und die komplexe Struktur der Leibnizschen Handschrift lässt auf ein automatisiertes Verfahren der Texterkennung und -auswertung, wie es die Digital Humanities bemühen, nicht ergebnisreich hoffen. Hier hilft bisher nur – klassisch und konservativ – das Handwerk intellektueller Tiefenerschließung und in Anbetracht reichhaltiger historischer Bestände der GWLB, die einen sehr viel schlechteren Erschließungsstand als der Nachlass von Leibniz haben, bestehen beträchtliche Konkurrenzen. Durch die Digitalisierung und digitale Rekonstruktion der Fragmente erhalten die Dokumente eine neue Erschließungstiefe und erleichterte Nutzbarkeit. Ad acta zu legen ist der Bestand deshalb noch lange nicht.

Literaturverzeichnis

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IPK Fraunhofer. „Automatisierte Rekonstruktion der zerrisenen Stasi-Akten.“ Zuletzt geprüft am 23.07.2017. https://www.ipk.fraunhofer.de/geschaeftsfelder/automatisierungstechnik/fachabteilungen/sicherheitstechnik/zentrale-fue-aktivitaeten-der-abteilung-sicherheitstechnik/virtuelle-rekonstruktion/automatisierte-virtuelle-rekonstruktion-der-zerrissenen-stasi-akten/.

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Universität Würzburg. „Tontafeln am Computer rekonstruiert.“ Zuletzt geprüft am 23.07.2017. https://www.uni-wuerzburg.de/sonstiges/meldungen/single/artikel/tontafeln/.

1 Vgl. im Folgenden: „Tontafeln am Computer rekonstruiert,“ Universität Würzburg, zuletzt geprüft am 23.07.2017, https://www.uni-wuerzburg.de/sonstiges/meldungen/single/artikel/tontafeln/; „3D-Joins und Schriftmetrologie,“ Technische Universität Dortmund, zuletzt geprüft am 23.07.2017, http://www.cuneiform.de/projekt/aktuelles.html.

2 Vgl. im Folgenden: „Herzogin Anna Amalia Bibliothek im Jahr 2013,“ Supralibros 15 (2014): 26–27; Carsten Barkow, Patricia Landgraf und Kathrin Wolf, „Digitale Informationssicherung im Mengenbetrieb: Vorbereitungen für die Multispektraldigitalisierung der Brand- und Löschwasser-geschädigten Notenhandschriften,“ in Restaurieren nach dem Brand: Die Rettung der Bücher der Herzogin Anna Amalia Bibliothek, hrsg. Jürgen Weber und Ulrike Hähner (Petersberg: Imhof, 2014), 139–143.

3 Ebd., 139.

7 Ebd.

8 Leibniz, Gottfried Wilhelm Leibniz, LH 41,10, Bl.2

9 Daniel Eberhard Baring, „Historische Nachricht von der Königl. Und Churfürstlichen Öffentlichen Bibliothek. Anno 1725 (Auszug),“ in 350 Jahre Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek, hrsg. Georg Ruppelt (Hannover: Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Bibliothek - Niedersächsische Landesbibliothek, 2015), 85.

10 S. hierzu Gerd van den Heuvel, „Archivalische Quellen zur Geschichte der GWLB,“ in 350 Jahre Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek, hrsg. Georg Ruppelt (Hannover: Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Bibliothek - Niedersächsische Landesbibliothek, 2015), 40.

11 Baring, „Historische Nachricht,“ 86.

12 Gottfried Wilhelm Leibniz an Rudolf Christian von Bodenhausen, 26. November / 6. Dezember 1697. LAA III, 7, N. 162.