Die Fachinformationsdienste aus Sicht der Forschung

Eva Schlotheuber, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Vorsitzende des Verbandes der ­Historikerinnen und Historiker Deutschlands

Zusammenfassung:

Die Frage, wie die Fachinformationsdienste (FID) aus Sicht der Forschung zu beurteilen sind, muss auf der Basis der grundlegenden Aufgaben der Bibliotheken für die Forschung und die Gesellschaft diskutiert werden. Bibliotheken sind das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft, sie sind unser Erfahrungsraum, aus dem heraus altes Wissen aktualisiert, neues Wissen generiert und über Generationen zur Verfügung gestellt wird. Die Voraussetzung dafür, dass die Bibliotheken als kulturelles Gedächtnis fungieren und die Grundlage für Forschung bieten können, liegt in zwei basalen Aufgaben begründet, die sie erfüllen: 1. das Wissen zu sammeln und bereitzustellen und 2. das Wissen zu ordnen, denn erst die Ordnung macht Wissen zu Wissen, indem sie Wissenswertes von Nicht-Wissenswertem trennt. Deshalb gehören insbesondere die Nachhaltigkeit der neuen Speichermedien und die Notwendigkeit einer transparenten und hinterfragbaren Orientierung im digitalen Wissensraum zu den wesentlichen Herausforderungen der digitalen Wende. Forschung, Politik und Bibliotheken müssen dabei gemeinsam abwägen: Was sind die Stärken eines physischen Buchs, was kann das Digitalisat besser? In historischer Perspektive geht es bei so großen Umbrüchen, wie sie die digitale Wende darstellt, vor allem darum, das Neue zu etablieren und dabei aber die entscheidenden Errungenschaften des Hergebrachten zu integrieren.

Summary:

Any evaluation of the FIDs from an academic point of view has to start with the fundamental role of libraries for research and society. Libraries are the cultural memory of society, spaces which provide experience, which can update existing knowledge and generate new information for generations to come. To be able to fulfil this role as cultural memory, libraries have to cover two fundamental tasks: 1) to collect and present existing knowledge, 2) to sort and systematize this knowledge. Only through structure, knowledge really becomes relevant since systematic organisation separates out what is worth knowing. Therefore, sustainability of the new storage systems and a transparent structure for the digital knowledge space which is open to being critically reflected are the main challenges of the recent digital turn. Scholarship, politics and libraries need to join together to evaluate strengths and weaknesses of physical books in comparison with digital resources. Under a historical perspective, the main task for major changes such as the digital turn is to establish new routines and to integrate significant achievements of the established practices.

Zitierfähiger Link (DOI): https://doi.org/10.5282/o-bib/2017H4S108-112
Autorenidentifikation: Schlotheuber, Eva: GND 11489308X
ORCID: http://orcid.org/0000-0003-3762-2818
Schlagwörter:
Fachinformationsdienst

1. Die Rolle der Bibliotheken für Forschung und Gesellschaft

Die Frage, wie die Fachinformationsdienste (FID) aus Sicht der Forschung zu beurteilen sind, würde ich gerne auf der Basis der grundlegenden Rolle der Bibliotheken für die Forschung und die Gesellschaft diskutieren. Bibliotheken sind das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft, sie sind unser Erfahrungsraum, aus dem heraus altes Wissen aktualisiert, neues Wissen generiert und über Generationen zur Verfügung gestellt wird. Dieser Erfahrungsraum ist die Basis, auf der wir die aktuellen Probleme unserer Zeit verhandeln und die Lösungen bewerten.

Die Voraussetzung dafür, dass die Bibliotheken als kulturelles Gedächtnis fungieren und die Grundlage für Forschung bieten können, liegt in zwei basalen Aufgaben begründet, die sie erfüllen: erstens das Wissen zu sammeln und bereitzustellen und zweitens das Wissen zu ordnen.

Die Ordnung des Wissens ist fundamental, denn erst Ordnung macht Wissen zu Wissen, indem sie Wissenswertes von Nicht-Wissenswertem trennt. Wissensordnung ist also immer hierarchisierend, weil wir damit geordnete Wissensräume schaffen, die wir heute als „Fächer“ begreifen. Unsere Ordnungssysteme des Wissens, die Bibliotheken, reichen kulturell viele Jahrhunderte bis weit in das Mittelalter und die Antike zurück. Zu jeder Zeit hat man immer wieder intensiv um die Ordnung des Wissens gerungen, die sich mit neuen Bildungssystemen ebenso wandelt und wandeln muss wie mit neuen Anforderungen an eine Gesellschaft oder neu erschlossenen Wissensbereichen. Am Aufbau einer Bibliothek kann man deshalb in historischer Perspektive sehr viel ablesen, so die sehr verschieden beurteilte Gewichtung von Empirie versus theoretischem Wissen, die Rolle der Theologie, die Stellung der Naturkunde zu den Humanities etc. Die Ordnung setzt das Wissen zueinander in Beziehung – Wissensordnung ist also alles andere als trivial.

In Bezug auf die zweite Aufgabe der Sammlung und Bereitstellung von Wissensbeständen liegt die Herausforderung in einer guten Balance zwischen dem umfassenden Sammlungsauftrag und der notwendigen Hinwendung zu aktuellen Schwerpunkten, also der forschungs­geleiteten Auswahl, ein Aspekt, der durch die neuen FIDs gestärkt wird.

Diese beiden Grundaufgaben der Bibliotheken stellen sich durch die digitale Wende als neue Herausforderungen, weshalb sie neu definiert und für die damit zusammenhängenden Fragen neue Lösungen gefunden werden müssen. Die FIDs sollen, soweit ich es verstanden haben, dazu beitragen, neue tragfähige Lösungen zu entwicklen. Das ist sehr zu begrüßen. Die digitale Wende ist dabei Chance und Herausforderung gleichzeitig: Sie bedeutet eine Chance, denn der Sammlungs- und Bereitstellungsauftrag lässt sich durch die digitale Präsentation sehr erleichtern, Wissensbereitstellung wird ortsunabhängig(er). Das immer existente Problem der Bibliotheken, dass der stets begrenzt zur Verfügung stehende Raum mit dem Wachstum mithalten muss, scheint damit lösbar zu sein. Diese Chance müssen wir nutzen. Mein Plädoyer geht allerdings in die Richtung, diese Umstellung mit Bedacht vorzunehmen, damit nicht in der Begeisterung über die neuen Möglichkeiten die großen Stärken von Bibliotheken mit Büchern übersehen werden. Bei der E-only-Politik und dem neuen Zuschnitt der Literaturbeschaffung durch die FIDs sind aus Sicht der Geschichtswissenschaft vor allem drei Dinge zu berücksichtigen:

Die Frage der Nachhaltigkeit: Die neuen Speichermöglichkeiten müssen eine Nachhaltigkeit in Buchqualität gewährleisten, d.h. also für Jahrhunderte. Eine mittelalterliche Handschrift kann mühelos 1500 Jahre überstehen, was ihrer Lesefähigkeit in keinster Weise Abbruch tut. Diese Qualität der Handschrift ist der Grund, warum wir heute noch einen bedeutsamen Teil der griechischen und römischen Literatur und Philosophie kennen, weil sie nämlich in der Spätantike und im Frühmittelalter in einer ähnlichen Zeit des Umbruchs von Papyrus auf das teure und aufwändig herzustellende, aber außerordentlich beständige Pergament übertragen wurden. Unsere Geschichte und unsere moderne Gesellschaft wäre ohne Platon oder Cicero, Augustinus oder Petrarca eine andere. Ihre Schriften wurden in den mittelalterlichen Bibliotheken bewahrt, sie haben zu verschiedenen Zeiten und in ganz verschiedenen Kontexten immer wieder wichtige Denkanstöße gegeben, ohne die wir heute ganz gewiss um vieles ärmer wären. Für die Geisteswissenschaften galt immer und gilt nach wie vor, dass heute hoffnungslos veraltetes Wissen morgen unerwartet wieder wichtig und aktuell sein kann. Das Speichermedium muss also ausreichend nachhaltig sein und zwar ohne durch seine bloße Existenz über die Jahre sehr viel Geld zu verschlingen. Hier ist eine echte Kostenkalkulation gefragt, die neben den Kosten der Digitalisierung auch die Kosten des Unterhalts der Server und der Formatkonvertierungen ebenso berücksichtigt wie die Pflege der Portale oder Suchsysteme, mit deren Hilfe wir die digitalen Resourcen ansteuern und auffinden können.

Sammlung und Wissenszugang: Die FIDs werten das Prinzip der forschungsgeleiteten Schwerpunktbildung gegenüber der systematischen Sammlung auf. Da wir nicht wissen können, welche inhaltlichen Aspekte in Zukunft für die Forschung wichtig werden, ist das scheinbar schlichte Prinzip des Sammelns nicht zu unterschätzen. Hier muss, wie gesagt, eine gute Balance gefunden werden. In Bezug auf den barrierefreien Wissenszugang ist das Problem mit der Lizenzvergabe durch die FIDs ungewollt verschärft worden. Der möglichst freie Zugang auch nicht akademischer Kreise zu akademischem Wissen ist meines Erachtens ein hohes und in unserer heutigen Zeit fast unschätzbares Gut. Universitäre und außeruniversitäre Forschung kann und muss sich in einem beständigen Austausch mit der Gesellschaft vollziehen, ohne dabei jedoch in „Citizen Science“ aufzugehen. Gerade in dieser nicht selten spannungsreichen Beziehung liegt ein entscheidender Mehrweit eines höheren Bildungssystems. Insbesondere die Geschichte lebt davon, dass die Öffentlichkeit in den Diskurs mit einbezogen werden kann und muss und eben nicht durch Lizenzvergaben unsichtbare Linien gezogen werden.

In den systematisch aufgestellten Bibliotheken ist der Wissensraum als geordneter Wissenskosmos physisch erfahrbar. Das sollte nicht unterschätzt werden. Dabei bildet sich – oder muss man sagen: bildete sich? – in der Regel in der Studienzeit im Wesentlichen die Fähigkeit aus, Wissensgebiete in ihrer inneren Konsistenz zu erfassen, begreifbar und damit durchdringbar zu machen. Erst dann wird es den herangehenden Forscherinnen und Forschern möglich, den eigenen Ansatz und die eigenen Ergebnisse in diesem Wissensraum zu verorten. Das ist aber unbedingt notwendig, um nicht immer wieder von vorne anfangen, immer wieder das „Rad neu erfinden“ zu müssen. Ein namhafter Kollege schwärmte auf dem Historikertag 2016 in Hamburg auf einer Podiumsdiskussion davon, dass er bei einem Forschungsaufenthalt in Harvard am meisten von der ausgezeichneten Bibliothek profitiert habe, wo er die relevante Forschungsliteratur vollständig und gut geordnet vor Augen und zur Hand zu hatte. Er musste nach Boston reisen, um die unschätzbaren Vorteile einer systematisch geordneten Fachbibliothek zu erfahren.

2. Digitale Wende und Wissensordnung

Wir müssen uns auch für den digitalen Wissenskosmos darum bemühen, dass die Wissensordnung erkennbar bleibt als Wissensraum, dessen innere Struktur ersichtlich und nachvollziehbar bleibt, einfach weil darin eine wesentliche Voraussetzung für Wissensgenerierung liegt. Und zwar nicht nur aus dem Grund, weil mit Hermann Heimpel, „Literaturkenntnis vor Neuentdeckungen schützt“, sondern auch, wie gesagt, weil wir nur dann unser Wissen und unsere Fragen in einem größeren Kontext verorten und unsere Erkenntnisse überprüfen können. Es macht einen großen Unterschied, in welchem Fachgebiet, also „wo“ wir unsere Ergebnisse in unserem vielgestalten Wissenskosmos als relevant einordnen. Dabei ist die Standortbestimmung eigentlich sogar der weniger wesentliche Punkt als vielmehr ein zweiter damit zusammenhängender Aspekt: Eine Bibliothek der Bücher macht die Wissensordnung explizit: in dem haptisch erfahrbaren Wissensraum kann man die Ordnung der „Fächer“ durchschreiten: Hier steht die Geschichte, dort die Theologie, die Politikwissenschaft, die Philosophie, die Physik, die Astronomie. Indem die Ordnung offenbar gemacht wird, können wir den Zuschnitt und die Grenzen erkennen. Das aber ist die Voraussetzung, um die „gewachsene“ Wissens-Ordnung zu hinterfragen, die im historischen Prozess stets in enger Beziehung zur Gesellschaft und ihren Fragen steht. Die Ordnung erkennen zu können, ist aber die Voraussetzung, um die damit zusammenhängenden Vorannahmen zu reflektieren. Dieser Prozess der Reflexion und Hinterfragung ist ein wesentlicher Bestandteil von Innovation. Eine unsichtbare, implizite Wissensordnung, wie sie das nur scheinbar additive Nebeneinander digitaler Medien suggeriert, die aber in Wirklichkeit in ganz massiver Weise zum Beispiel durch Suchmechanismen und Verschlagwortung generiert wird, ist demgegenüber im Nachteil. Die Notwendigkeit einer transparenten und hinterfragbaren Orientierung im digitalen Wissensraum gehört deshalb zu den wesentlichen Herausforderungen der digitalen Wende. Die Selbstverortung wird zusätzlich durch ein weiteres Phänomen erschwert, das leider unübersehbar ist: Im gleichen Maße, in dem mehr Wissen über die verschiedenen Medien zur Verfügung steht, wird – jedenfalls von den Studierenden – weniger gelesen.

Mit den digitalen Medien wird also auch die Frage der Wissensordnung ganz neu gestellt. Diese Funktion sollen in der Regel Portale und Suchmaschinen leisten. Die FIDs regen dazu an, diese notwendigen Tools neu zu konzipieren oder alte zu reformieren, denn unzählige Portale sind heute nach vergleichsweise kurzem Leben bereits überholt oder eingestellt und zu (teuren) Datenfriedhöfen geworden. Dennoch, die FIDs bieten einen flexibleren Rahmen für die Erprobung neuer Modelle, die wir brauchen. In dieser Hinsicht können sie durchaus, wie Veit Probst es formuliert hat, „Labore für die Wissenschaft“ sein.

3. Zusammen stark – Buchkultur und digitalisiertes Wissen

Im Ergebnis: Wenn es um die Erwartungen der Forschung an die FIDs aus Sicht der (Geschichts-)Wissenschaft geht, dann würde ich mir für die interne Gewichtung der neuen Aufgaben der FIDs wünschen, dass wir gemeinsam abwägen: Was sind die Stärken eines physischen Buchs, was kann das Digitalisat besser? Was bietet der physisch erfahrbare Wissensraum Bibliothek, wo liegt das größere Potenzial in der Überschreitung physisch begrenzender Medien, zum Beispiel bei digitalen Editionen. Die E-only-Politik als apodiktische Vorgabe halte ich deshalb nur sehr bedingt für sinnvoll. In historischer Perspektive geht es bei so großen Umbrüchen, wie sie die digitale Wende darstellt, vor allem darum, das Neue zu integrieren ohne im Umbruch die entscheidenden Errungenschaften des Alten unbesehen aufzugeben. Man würde sich wünschen, dass wir mit kühlem Kopf die Vorteile des Neuen mit den Stärken des Alten zu verbinden wissen, damit nicht Wesentliches, nur weil wir es im Moment nicht als wichtig wahrnehmen, ohne Not verlorengeht.