Personalia

Eindrücke ausländischer Teilnehmer vom 106. Deutschen Bibliothekartag

Ein Gespräch mit Herbert Staub und Jean-Marie Reding

Herbert Staub ist Präsident des Schweizerischen Verbands „Bibliothek Information Schweiz BIS“ und Vorsitzender der Ausbildungsdelegation Information und Dokumentation. Er ist seit 2012 selbständig; davor war er in leitender Funktion beim Schweizer Radio und Fernsehen (SRF), Bereich Dokumentation und Archive, tätig.

Jean-Marie Reding ist derzeit Vizepräsident des luxemburgischen Verbands „Associatioun vun de Lëtzebuerger Bibliothekären, Archisten an Dokumentalisten“ (ALBAD); von 2003 bis 2016 war er Präsident. Er ist außerdem Präsident von FëBLux, einer Förderorganisation für öffentliche Bibliotheken in Luxemburg, sowie Verwaltungsratsmitglied der „Union Luxembourgeoise des Bibliothèques Publiques“ (ULBP). Seit 2000 ist er an der Nationalbibliothek Luxemburg beschäftigt.

Die Fragen stellte Klaus-Rainer Brintzinger (Universitätsbibliothek LMU München), stellvertretender Vorsitzender des VDB.

K.-R. Brintzinger: Lieber Herr Staub, lieber Herr Reding, der 106. Deutsche Bibliothekartag ist nun gerade in Frankfurt zu Ende gegangen. Sie beide waren schon mehrfach Teilnehmer auf dem Deutschen Bibliothekartag. An wie vielen Deutschen Bibliothekartagen haben Sie schon teilgenommen?

H. Staub: Da bringen Sie mich gleich mit der ersten Frage in Schwierigkeiten. Bis vor kurzem hätte ich gesagt, ich sei seit 2013 an fünf Bibliothekartagen gewesen. Unterdessen weiß ich, dass in Leipzig kein Bibliothekartag, sondern der Bibliothekskongress stattfindet.

J.-M. Reding: Insgesamt bin ich bisher ganze vierzehnmal hintereinander zum Deutschen Bibliothekartag gereist. Dies verdanke ich überwiegend Einladungen von Bibliothek & Information International (BII). Den wohl nachhaltigsten Eindruck hat der Bibliothekartag im Juni 2009 in Erfurt hinterlassen. Ein Vortrag von Jan-Pieter Barbian inspirierte mich nur einige Monate später zur Gründung einer nationalen Fundraising-Organisation, welche seit November 2009 ihren Weg langsam, doch erfolgreich beschreitet.

K.-R. Brintzinger: Erinnern Sie sich noch an Ihr erstes Mal auf einem Deutschen Bibliothekartag? Mit welchen Erwartungen sind Sie dort hingefahren?

H. Staub: 2013 wurde ich als neuer Präsident des Verbandes „Bibliothek Information Schweiz BIS“ an den Bibliothekskongress in Leipzig eingeladen. Vor der Übernahme des Präsidiums hatte ich im Verband die Dokumentationen vertreten – die Bibliothekswelt war Neuland für mich. Damals hatte ich ein bisschen Angst vor den 4.000 Bibliothekarinnen und Bibliothekaren, die ich in Leipzig antreffen würde. Die Aufnahme in der Gruppe der ausländischen Gäste, die ich alle auch nicht kannte, war aber sehr herzlich und hat mir den Einstieg total leichtgemacht. Ich habe dort nicht nur neue Kolleginnen und Kollegen kennengelernt, sondern auch Freundschaften geknüpft, die über die Bibliothekartage hinausreichen.

J.-M. Reding: Mein erster Bibliothekartag war 2004 in Leipzig, wozu ich auf Vorschlag der Kolleginnen und Kollegen des BIB Saarland von einem mir damals gänzlich unbekannten BII eingeladen wurde. Von der bibliothekarischen Elite Deutschlands kannte ich niemanden. Dank der herzlichen Fürsorge von Ulrike Lang, der damaligen berühmten „Madame BII“, knüpfte ich jedoch schnell erste Kontakte mit sowohl deutschen als auch internationalen Kolleginnen und Kollegen. Ich möchte dazu bemerken, dass, obschon ich im letzten Jahrhundert an der Fachhochschule Köln studiert hatte, ich weder als Student, noch als Bibliothekar auf irgendwelche besondere Art und Weise zu einer Teilnahme animiert worden war. Heute empfehle ich deutsche Bibliothekartage unter Berufskollegen und –kolleginnen, wo ich nur kann! Alleine nur, um Freunde einmal jährlich wiederzusehen.

K.-R. Brintzinger: Was war für Sie persönlich das Highlight auf dem diesjährigen Bibliothekartag?

H. Staub: Es sind mehrere. Zwei Highlights umrahmten den Bibliothekartag: Einerseits der Festvortrag von Eun Young Yi – das war ein überraschend anderer Blick auf das Thema Bibliothek. Andererseits die Verleihung des Publizistenpreises der deutschen Bibliotheken an Hatice Akyün und ihre Liebeserklärung an den Bücherbus. Inhaltlich waren für mich die Zukunft des Erschließens oder die Ausbildung von Mitarbeitenden allgemein öffentlicher Bibliotheken in Österreich spannend. Im Zentrum stehen für mich aber die beruflichen Kontakte, die ich hier pflegen und neu knüpfen kann.

J.-M. Reding: Als Highlight im Sinne des größten persönlichen Eindrucks hat mich die Veranstaltung „Bibliotheksplan, Bibliotheksgesetz: Realität und Mythos“ (31.05.2017) insofern überrascht, dass eine seit Jahren und gar Jahrzehnten von deutschen Verbänden gebetsmühlenartig gestellte Forderung nach Bibliotheksgesetzen in einer mir nie gekannten Deutlichkeit in Frage gestellt wurde. Als ich während des fünften BID-Kongresses in Leipzig am 12.03.2013 in einer Bibliotheksgesetz-Luxemburg-Bilanz die Wirkung von Bibliotheksgesetzen allgemein kritisierte und eine Bibliotheksgesetzlosigkeit aus Freiheitsgründen als gar nicht so übel erachtete, erntete ich böse Blicke und gehässige Kommentare. Vier Jahre später empfinde ich eine gewisse Genugtuung, dass eine „Mythos“-Einsicht endlich erfolgt ist. Rechtsversessene sollen jedoch die Hoffnung nicht aufgeben: es gibt Alternativen im Rechtsbereich.

K.-R. Brintzinger: Etwa ein Zehntel der Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Frankfurter Bibliothekartags kam aus dem – überwiegend deutschsprachigen – Ausland. Was ist nach Ihrer Einschätzung die Motivation der Kolleginnen und Kollegen aus den Nachbarländern, auf den Deutschen Bibliothekartag zu fahren?

H. Staub: Die Welt der Bibliotheken kennt keine Grenzen. Was in Deutschland Thema ist, ist auch Thema in der Schweiz. Das unterstreicht die Teilnahme von 151 Schweizer Bibliothekarinnen und Bibliothekaren am Frankfurter Bibliothekartag. Zudem ist der Bibliothekartag die Weiterbildungs- und Austauschplattform im deutschsprachigen Raum mit einer riesigen Angebotspalette – natürlich viel größer, als wir das an unseren zweijährlich stattfindenden Schweizer Bibliothekskongressen bieten können. Weiter gibt es keine Sprachbarrieren und der Veranstaltungsort ist gut erreichbar. Gern genutzt wird auch die Möglichkeit, die Ausstellerinnen und Aussteller persönlich zu treffen.

J.-M. Reding: Im Vergleich zu IFLA-Kongressen, welche von der Besucherzahl und Dauer ähnlich sind, schätze ich folgende Vorteile an deutschen Bibliothekartagen: Erstens die Qualität der Vorträge (weniger oberflächlich); zweitens die Sprache (Deutsch ist doch einfacher zu verstehen); drittens die gemäßigten Teilnahmegebühren (zum Vergleich: ein IFLA-Kongress kostet mit „early bird fee“ 490 Euro) und – obschon „nur“ eine nationale Tagung – viertens eine beträchtliche Anzahl internationaler Gäste, die den Deutschen Bibliothekartag nicht nur zum größten jährlichen Treffen europäischer Bibliothekarinnen und Bibliothekare macht, sondern auch interkontinentale Kontakte (USA, Australien, etc.) ermöglicht. Wo bitte schön, gibt es dies in dieser Form noch in Europa!?

K.-R. Brintzinger (an Herbert Staub): Die Schweizer Kolleginnen und Kollegen veranstalten ja seit einigen Jahren einen „Apéro Suisse“ auf dem Deutschen Bibliothekartag – wie kam es dazu?

H. Staub: Nach dem Bibliothekartag 2014 in Bremen wurde von Verbandsmitgliedern ein solches Treffen gewünscht. Im gleichen Jahr erlebte ich am IFLA-Kongress in Lyon die „Caucus Meetings“, an denen sich Landes- und Sprachgruppen zum Kennenlernen und Vernetzen treffen. Unser erstes – nicht sehr erfolgreiches – Treffen hieß „Die Schweiz in Nürnberg“. Niemand wusste, was das soll. Der Raum, in dem es stattfand, hatte Kongressbestuhlung, auf der Leinwand stand „Sitzungsleitung Herbert Staub“ und es gab Kaffee und Kuchen. Das zweite Treffen in Leipzig wurde als „Apéro Suisse“ angekündigt. „Apéro“ ist in der Schweiz wohlbekannt, da wissen alle, was sie erwartet. Und sie kamen. Dieses Jahr in Frankfurt war unser Apéro schon eine gut frequentierte Selbstverständlichkeit. Das Treffen ist neben dem „Meet & Greet“ auch eine Gelegenheit, als Verband am Bibliothekartag präsent zu sein. Dass auch Nicht-Schweizerinnen und -Schweizer herzlich willkommen sind, hat sich unterdessen herumgesprochen. Die österreichischen Gäste haben bereits angeregt, nächstes Jahr in Berlin einen „Apéro Suisse-Autriche“ zu veranstalten…

K.-R. Brintzinger: Auf dem Bibliothekartag in Frankfurt wurde eine Kooperationsvereinbarung vorgestellt, die vor kurzem zwischen den deutschsprachigen Verbänden abgeschlossen worden war. Was sind Ihre Erwartungen an diese Vereinbarung?

H. Staub: Mir ist der internationale Austausch sehr wichtig. In der Schweiz haben wir vor zwei Jahren ein Projekt gestartet, das es unseren „FaMIs“, den Informations- und Dokumentationsfachleuten, im Rahmen der Erasmus-Programme ermöglicht, nach der Grundbildung im Rahmen eines Praktikums für drei bis sechs Monate im Ausland zu arbeiten. Sowohl mit dem Projekt als auch mit der Vereinbarung wollen wir es den Bibliothekarinnen und Bibliothekaren ermöglichen, über den Tellerrand hinauszublicken. Dazu müssen Barrieren abgebaut werden – in erster Linie natürlich zwischen den deutschsprachigen Ländern und Regionen. Die Vereinbarung ist aber so angelegt, dass auch weitere Verbände teilnehmen können. Die Kontakte zwischen den verschiedenen Verbänden sind auf Vorstandsebene bereits hervorragend. Davon sollen nun auch die Mitglieder profitieren.

J.-M. Reding: Der große Vorteil einer schriftlich festgelegten Vereinbarung besteht für mich darin, dass zwischen den Ansprechpartnern eine gewisse Hierarchisierung entsteht. Damit meine ich, dass über die Verbandsebene (Vorsitzende, stellvertretende Vorsitzende, etc.) sich eine moralische Verpflichtung ergibt, indem Anfragen von Kooperationspartnern nicht „vergessen“ werden. Diese offizielle Bestätigung beinhaltet sozusagen eine ethische Komponente, denen sich nationale Türöffner, die wir doch sind, schwerlich entziehen können. Ich möchte noch darauf hinweisen, dass Luxemburg – im Vergleich zu Deutschland, Österreich und der Schweiz – bisher keine besonderen finanziellen Verpflichtungen eingehen konnte. Ich bin dennoch zuversichtlich, dass bei einer nächsten Vereinbarungsversion unser Verband endlich über genügend Geldressourcen verfügen wird, um in einer höheren Liga (Erhöhung kostenverbundener Angebote) mitspielen zu können. Eine Frage der Ehre!

K.-R. Brintzinger: Sie beide sind oder waren Vorsitzende eines nationalen Bibliotheksverbandes. In Deutschland gibt es gleich mehrere bibliothekarische Verbände. Ist bei Ihnen zu Hause alles einfacher?

H. Staub: In der Schweiz ist „Bibliothek Information Schweiz BIS“ der Verband für alle Bibliotheken und Informationsvermittlungsstellen. Er ist sowohl Personal- als auch Institutionenverband. In den letzten 30 Jahren hat sich aber die BIS-Interessengruppe „Schweizerische Arbeitsgemeinschaft der allgemeinen öffentlichen Bibliotheken SAB“ immer stärker verselbständigt, sodass heute in Realität eigentlich zwei Bibliotheksverbände existieren. In Zeiten großer Herausforderungen müssen Bibliotheken mit einer Stimme sprechen. Die beiden Vorstände haben im Juni dieses Jahres für den Zusammenschluss votiert. Wenn die Mitglieder im Frühjahr 2018 an außerordentlichen Generalversammlungen zustimmen, wird nächstes Jahr am Schweizer Bibliothekskongress in Montreux der neue Verband „Bibliosuisse“ aus der Taufe gehoben.

J.-M. Reding: Eigentlich nicht ‒ und ich bin auch noch Schuld daran! Als ich 2003 Präsident wurde, existierte mit ALBAD nur ein Berufsverband (eine Art „Gewerkschaft“, mit wenigen Institutionsmitgliedern), zudem noch zuständig für Bibliothekare, Archivare und Dokumentare. 2007 war ich federführend an der Gründung eines nationalen Verbandes der öffentlichen Bibliotheken, ULBP (ein Institutionenverband), beteiligt. Denn wir benötigen unbedingt Politikerinnen und Politiker in Spitzenpositionen, um in bestimmte höhere Kreise vorstoßen zu können. 2009 gründete ich die Fundraising-Organisation FËB/FëBLux. Denn Kapital bedeutet Gestaltungsmacht und so bauen wir seitdem unseren Zukunftsfonds auf. 2014 kapselte sich eine neue Generation von selbstbewussten Archivarinnen und Archivaren (des höheren Dienstes) von der ALBAD ab und gründete ihren eigenen Berufsverband. 2015 half die ALBAD bei der Gründung eines eigenen Studentenvereins (Jonk BAD), wo der potenzielle Nachwuchs bereits in der Ausbildung lernt, wie ein e.V. mit den dazugehörigen Prozeduren/Zeremonien funktioniert. Persönlich empfinde ich diese eher in Großstaaten anzutreffende Vielfalt als Bereicherung – auch wenn nicht verhindert werden kann, dass insbesondere im Kleinstaat gewisse Persönlichkeiten in mehreren Strukturen aktiv sind. Jeder Akteur besitzt seine spezifische Daseinsberechtigung. Viel wichtiger ist eine harmonische Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Akteuren. In Deutschland gibt es sie meiner Meinung nach auch; in einer noch weit mehr zersplitterten Verbandslandschaft in Frankreich oder Belgien allerdings nicht. Vereine bestehen aus Menschen ‒ und wo Menschen sind, menschelt es bekanntlich. Die Geschichte des Vereinswesens ist übersät von Trennungen und Fusionen.

K.-R. Brintzinger: Herzlichen Dank für dieses Interview. Ich bin mir sicher, dass wir uns beim 107. Deutschen Bibliothekartag in Berlin wiedersehen!

Zitierfähiger Link (DOI): https://doi.org/10.5282/o-bib/2017H2S151-155