Veranstaltungen der Gemeinsamen Managementkommission von VDB und dbv am Bibliothekartag 2017 in Frankfurt am Main

Albert Bilo, Universitätsbibliothek Duisburg-Essen
Andreas Brandtner, Universitätsbibliothek Mainz
Cornelia Vonhof, Hochschule der Medien Stuttgart
(Gemeinsame Managementkommission von VDB und dbv)

Postliteralität, dekonstruierte Bibliotheken und Postheroismus
Invited Session: Bibliotheken in [die] Zukunft führen – Ansätze und Impulse für ein auf die Zukunft angelegtes Bibliotheksmanagement

Die Managementkommission hat im Rahmen ihrer Invited Session am 30. Mai 2017 die Frage verfolgt, wie öffentliche und wissenschaftliche Bibliotheken zu organisieren und zu positionieren sind, um in einer dynamischen Marktsituation mit harter Konkurrenz, disruptiven Innovationen und hochgradiger Rasanz zu bestehen. Der besondere Schwerpunkt der Veranstaltung lag auf der für Bibliotheken zunehmend erfolgskritischen Herausforderung, mit ihren relevanten Umwelten aktiv zu kommunizieren und zu interagieren. Dabei ist zu beachten, dass diese Umwelten nicht mehr stabil und berechenbar, sondern fluid und schwer kalkulierbar sind. Zudem stellt sich die Frage, wie die Anforderungen dieser Umwelten in die Gestaltung und Entwicklung der Bibliotheken integriert werden können.

Um diesen Themenkomplex von unterschiedlichen Seiten zu beleuchten, hatte die Managementkommission drei Gäste zu Vorträgen eingeladen: Henning Lobin, Professor für Angewandte Sprachwissenschaft und Computerlinguistik an der Justus-Liebig-Universität Gießen, blickte von der Seite der Forschung auf wissenschaftliche Bibliotheken; Ton van Vlimmeren, Direktor der Öffentlichen Bibliothek Utrecht, näherte sich von der Kommune aus den öffentlichen Bibliotheken; Dirk Baecker, Professor für Kulturtheorie und Management an der Universität Witten/Herdecke, beschäftigte sich mit Organisationsformen, die in der Lage sein sollen, erfolgreich in und mit dynamischen Umwelten zu prozessieren. Moderiert wurde die zweistündige Session von Albert Bilo und Andreas Brandtner.

Eingangs übernahm es Henning Lobin, unter der Überschrift „Vier Schritte zur digitalen Bibliothek“ (Digitalität, Postliteralität, Digitale Forschungsdaten und Bibliothek) das Ende der Gutenberg-Galaxis und ihre Ablösung durch die Turing-Galaxis zu demonstrieren. Digitalität wurde dabei durch die Merkmale dynamische Speicherung, Binär-Kodierung, Berechenbarkeit, Automatisierung, Medieninte­gration, Vernetzung und Miniaturisierung gekennzeichnet. Postliteralität ist dadurch bestimmt, dass gedruckte Information im Computerzeitalter durch nicht mehr statische Zeichenfolgen ergänzt, wenn nicht in weiten Teilen ersetzt wird: Die Informationswelt ist digital. Texte stellen sich als multimediale und dynamische Bedeutungsflächen dar, Textproduktion und Textrezeption erfolgen kollaborativ. Aus dieser digitalen Postliteralität resultieren neue Anforderungen an wissenschaftliche Bibliotheken, Anforderungen, die auf die Unterstützung der rezenten Formen wissenschaftlichen Arbeitens jenseits von gedruckten Aufsätzen oder Monographien zielen. Es ist nicht mehr der Printbestand, den die Forschung als Basis benötigt, sondern es sind Forschungsdaten, Textkorpora und aktuelle Ausprägungen des Publikationsprozesses, die ein neues Engagement der Bibliotheken einfordern.

Nach dieser Sicht auf wissenschaftliche Bibliotheken erläuterte Ton van Vlimmeren in seiner Präsentation „Bibliothek Utrecht zum Beispiel“ wie er die Stadtbibliothek Utrecht neu positioniert hat, um den aktuellen Erwartungen der Kommune gerecht zu werden. Hierzu hat die Bibliothek die sozio­demografischen Daten der Stadtgesellschaft erhoben und sich damit ein eingehendes, empirisch fundiertes Bild der Kundensicht verschafft. Zudem löste sich die Bibliothek von der traditionellen Dualität zwischen Behörde und Bürger zugunsten einer wertebezogenen Beziehung zu den Kunden in ihren Lebenskreisen (Arbeit, Familie und Sport). Die Bibliotheksangebote wurden auf klare Zielgruppenprofile fokussiert. Auch verlässt die Stadtbibliothek mit „dekonstruierten Bibliotheken“ ihre eigentlichen Räumlichkeiten, um direkt in Einkaufszentren oder etwa bei Stadtteilfesten präsent zu sein. Im Zuge der kunden- und umweltbezogenen Neudimensionierung wurde die Bibliotheksstruktur verändert. Leitgedanke war dabei, die Bibliothek als lernende, dynamische Organisation aufzustellen. Umsetzungen, Bildung neuer Teams, aber auch Entlassungen waren Teile des konsequenten Change-Prozesses mit neuen Berufsbildern wie „Programmführer/inne/n“ oder „Wissenskurator/inn/en“. Die bibliothekarische Einstellung wurde einem Richtungswechsel unterzogen: Statt „me and my work“ steht nun „my work and me“ – wie können wir uns in die Gesellschaft aktiv einbringen.

Mit der Maxime „Ich arbeite nur im Auftrag“ – ein Zitat des französischen Filmemachers Jean-Luc Godard – schloss Dirk Baecker an seinen Vorredner an. Sein Vortrag „Postheroisches Management“ wandte sich an die agile Ausrichtung von Organisationen auf ihre gesellschaftlichen Umwelten. Waren Organisationen in der Gutenberg-Galaxis noch damit beschäftigt, die funktionale Differenzierung der Gesellschaft in Bürokratien aufzufangen, so verlangt die Turing-Galaxis die Bewältigung von Komplexität. Eine strikte Hierarchie mit Top-down-Führung kann dabei nicht mehr wirksam handeln und ist durch dezentrale Verantwortungen, offene Organisationsstrukturen und neue Führungsformen zu ersetzen. In der digitalen Transformation der Gesellschaft hat sich das heroische Management überlebt. Es wird durch Netzwerkorganisationen abgelöst, die postheroisch und dann schließlich agil ausgerichtet sind. Die Interaktion zwischen Organisation und Umwelten fordert jeden Mitarbeiter und jede Mitarbeiterin und schließt Kund/inn/en ein. Das System wird beweglich und anpassungsfähig, um Krisen, Innovationen und eine unbekannte Zukunft integrieren zu können. Um agile Organisationen zu schaffen, sind folgende Überlegungen zu berücksichtigen: „Bilde Kreise in Kreisen, Teams in Teams. Arbeite nur im Auftrag. Pflege die Leere. Beobachte die Umwelt.“

Die Veranstaltung brachte zahlreiche Impulse für die Beschäftigung mit zeitgemäßen und innovativen Organisationsformen für Bibliotheken. Die Managementkommission führt diesen Themenkomplex in ihrem Round Table am 7. September 2017 in Stuttgart unter dem Thema: „Organisationsentwicklung in unsicheren Zeiten. Helfen uns Pläne, Strategien und Visionen?“ weiter.

Plattform für den kollegialen Austausch
Öffentliche Arbeitssitzung der Managementkommission: Qualitätsmanagement-Forum 2017

Zu den Themenfeldern, die von der Managementkommission kontinuierlich bearbeitet werden, gehört auch Qualitätsmanagement in Bibliotheken. Das Spektrum der Konzepte und Modelle, die von Bibliotheken eingesetzt werden, ist breit. Es reicht von aus der Industrie stammenden Modellen wie ISO oder EFQM bis zu bibliotheksbezogenen Branchenmodellen. Trotz aller Unterschiedlichkeit der eingesetzten Konzepte und Modelle: Gemeinsam ist den QM-Bibliotheken ihr Streben danach, die Qualität ihrer Dienstleistungen zu verbessern und organisationale Rahmenbedingungen zu schaffen, um ihre Kundinnen und Kunden sowie Stakeholder bestmöglich zufrieden zu stellen. Trotz gemeinsamer Ziele zeigt die Erfahrung, dass die Anwenderbibliotheken egal ob öffentliche oder wissenschaftliche Bibliotheken bislang wenig voneinander wissen und damit auch wenig voneinander lernen können.

Dies zu ändern hat sich das Qualitätsmanagement-Forum 2017 zum Ziel gesetzt. Der Bibliothekartag bot den Rahmen, um das neue Format einer Plattform für QM-Anwenderbibliotheken in einer öffentlichen Arbeitssitzung der Managementkommission am 1. Juni 2017 auszuprobieren. Wie groß der Bedarf war, sich kennenzulernen und auszutauschen, zeigte der sehr gute Besuch des Workshops. Mit über dreißig Teilnehmenden war rund ein Fünftel aller deutschsprachigen QM-Bibliotheken vertreten.

Zu den Themen, die den Anwesenden besonders wichtig waren, zählten z. B. das effektive Marketing und die Lobbyarbeit für Qualitätsmanagement nach innen und außen, ganz praktische und handfeste Fragen zu Einsatz und Integration von Managementinstrumenten wie Kennzahlen, Benchmarking, Stakeholderanalysen und Prozessmanagement in die QM-Arbeit, aber auch Fragen der Führung und Steuerung eines „Dauerprojektes“ und die damit verbundene Herausforderung, Motivation über einen langen Zeitraum aufrecht zu erhalten und immer wieder zu befeuern.

Deutlich formuliert wurde in den von Cornelia Vonhof moderierten Gesprächsrunden zudem der Bedarf an einem strukturierten und bewerteten Überblick über die in Bibliotheken eingesetzten QM-Modelle im Sinn eines „Living Handbook“ oder Wikis, das zugleich Fallbeispiele und Best Practices aufnimmt. Neben diesem virtuellen Austauschformat wurde gewünscht, die persönliche Begegnung fortzuführen. Zu dieser wird die Managementkommission beim kommenden Bibliothekartag 2018 in Berlin wieder einladen. Bis spätestens dahin soll ein Konzept entwickelt werden, wie ein „Living QM-Handbook“ oder ein „QM-Wiki“ aussehen könnte.

Zitierfähiger Link (DOI): https://doi.org/10.5282/o-bib/2017H2S118-121