Generationengerechtigkeit und die Überlieferung des Wissens an kommende Generationen

5 Thesen zu einem neuen Arbeitsfeld für wissenschaftliche Bibliotheken

Ulrich Hohoff, Universitätsbibliothek Augsburg

Zusammenfassung:

Das Konzept der Generationengerechtigkeit zielt auf einen Ausgleich zwischen den Ansprüchen der heutigen und der kommenden Generationen ab. In der nachhaltigen Sicherung unserer natürlichen Lebensgrundlagen hat dieses Konzept sich bewährt. Neuere Ansätze übertragen es nun auf das Ziel der „kulturellen Überlieferung“ für die Nachwelt. Diese soll das Wissen aus der Kultur und aus den Wissenschaften für eine lange Zukunft dauerhaft nutzbar machen. Vor diesem Hintergrund skizzieren fünf Thesen die Herausforderungen einer nachhaltigen und systematischen Überlieferungsplanung als Aufgabe der wissenschaftlichen Bibliothek.

Summary:

The concept of intergenerational justice aims at a balance between the rights of the present generation and future generations. The concept has proved its worth with regard to the sustainable conservation of natural resources. Recent approaches have transferred it to the goal of “cultural transmission”. This is supposed to make knowledge from culture and science permanently available for a long period. Against this background, five theses are presented. These highlight the challenges of planning such transmissions in a systematical and sustainable way, as a regular task for academic libraries.

Zitierfähiger Link (DOI): http://dx.doi.org/10.5282/o-bib/2016H4S47-60
Autorenidentifikation: Hohoff, Ulrich: GND 11170832X
Schlagwörter:
Wissenschaftliche Bibliothek; Kulturelle Überlieferung; Zukunft; Generationengerechtigkeit; Thesen

1. Was ist Generationengerechtigkeit?

Die Aufgabe, das Verhältnis der heute lebenden Generationen, die in Wissenschaft und Kultur tätig sind, zu den nachfolgenden Generationen auszugestalten, stellt sich in jeder Gesellschaft. Zur ihrer Lösung kann das Konzept der Generationengerechtigkeit beitragen. Dieser Ausdruck meint in unserem Zusammenhang die intergenerationelle Gerechtigkeit (zwischen heutigen und kommenden Generationen). Dieses Konzept soll in ganz kurzer Form als Ansatz für die Bibliotheksarbeit vorgestellt werden. Für Bibliotheken, die mit Wissenschaft und Kultur befasst sind, kann sich hier ein umfangreiches Arbeitsfeld mit einer Perspektive auf Nachhaltigkeit eröffnen.

Generationengerechtigkeit wurde in Deutschland schon vor rund 30 Jahren als ein wichtiges Konzept erkannt, das für die Lösung von Generationskonflikten hilfreich ist. Der Streit um die Frage, ob die Altersrente langfristig sicher sei, legte damals einen Generationenkonflikt zwischen älteren und jüngeren Bürgern offen. Er geht auf die Asymmetrie des Rentensystems zurück: Die jüngere Generation muss einzahlen, die gleichzeitig lebende ältere Generation erhält aus diesen Einzahlungen ihre Rente. Bei den Planungen für eine nachhaltige Sozialpolitik wurde seinerzeit die „Generationengerechtigkeit“ als neues Ziel für politisches Handeln entdeckt und definiert.

In den Bemühungen der folgenden Jahre um eine Politik, welche die natürlichen Lebensgrundlagen bewahrt, hat das Konzept der Generationengerechtigkeit sich erneut bewährt. Im Jahr 1994 wurde das Nachhaltigkeitsprinzip mit Bezug auf kommende Generationen erstmals gesetzlich verankert. Die Zielvorstellung der Generationengerechtigkeit steht seitdem im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. In Art. 20a GG über das Naturerbe heißt es dort: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung …“. Im Naturschutz und Umweltschutz hat der Bezug auf die Generationengerechtigkeit also Verfassungsrang erhalten. Etwa seit dem Jahr 2002 tauchte der Begriff auch in den Programmen der politischen Parteien auf.

Im Kontext der Vorarbeiten für eine nachhaltige Ressourcenpolitik ist Generationengerechtigkeit auch weltweit seit vielen Jahren im Gespräch. Das zeigt sich etwa daran, dass der Club of Rome sich für sie einsetzt. Der Aufsehen erregende erste Bericht an den Club of Rome von 1972 trug den Titel „Grenzen des Wachstums“, aus dem heute ein feststehender Begriff geworden ist. Zuletzt erschien 2009 die überarbeitete und aktualisierte dritte Version des Berichts an den Club of Rome. Sie stellt die Generationengerechtigkeit als eine der wichtigsten Herausforderungen für die Rettung unserer natürlichen Lebensgrundlagen heraus. Im Schlusskapitel zum Thema „Rüstzeug für den Übergang zur Nachhaltigkeit“ formuliert der Bericht die folgende Forderung: „Politische Strukturen, die ein Gleichgewicht zwischen kurzfristigen und langfristigen Überlegungen erlauben: die Möglichkeit, jetzt zugunsten unserer Enkel politischen Druck auszuüben.“1

Als Resultat langjähriger Debatten ist im Jahr 2003 die folgende Definition des Konzepts der Generationengerechtigkeit akzeptiert worden: „Generationengerechtigkeit ist erreicht, wenn die Chancen nachrückender Generationen auf Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse mindestens so groß sind wie die der ihnen vorangegangenen Generationen.“2 Sie stammt von Jörg Tremmel, einem der Vordenker dieses Konzepts; er arbeitet heute an der Universität Tübingen. Die Grundlage für diese Definition hatte der sogenannte „Brundtland-Bericht“ der UNESCO-Weltkommission für Umwelt und Entwicklung von 1987 geliefert, der den heutigen Begriff von Nachhaltigkeit stark geprägt hat.3 Die Formulierung macht deutlich, dass es dabei um eine Grundsatzfrage für jede Gesellschaft geht.

Generationengerechtigkeit reicht über den heutigen gesetzlichen Rahmen hinaus. Sie erweitert den Grundsatz, dass allen Bürger/inne/n eines Landes dieselben Rechte zustehen, auch auf die Bürger/innen der Zukunft. Juristisch gesehen ist das natürlich problematisch. Doch dank dieser Erweiterung eignet Generationengerechtigkeit sich als Leitbegriff für eine Gesellschaft, in der Gegenwart und Zukunft als gleichwertig gelten und die Menschen beider Zeiträume in ihren Rechten respektiert werden. Über das Ressourcenproblem hinaus ist sie heute als ein Konzept anerkannt, das drohende Generationenkonflikte zu vermeiden hilft.

Sie erstreckt sich im Prinzip auf sämtliche Generationen der Zukunft und auf alle Menschen dieser Generationen. Die meisten Kontexte konzentrieren das Konzept aber auf das Verhältnis der heutigen zu den ihnen folgenden Generationen. Generationengerechtigkeit konfrontiert die Politik hierzu mit großen Herausforderungen. Ein Beispiel dafür ist die folgende Maxime für den Gesetzgeber: Es „darf also z.B. nicht die heute mittlere Generation die heute junge [Generation, U. H.] besser stellen um den Preis, dass es der nächstfolgenden schlechter als beiden geht.“4

2. Generationengerechtigkeit auch in Kultur und Wissenschaft?

Die Weitergabe von Gütern an die nächste Generation funktionierte in der Kultur und in den Wissenschaften in der Printwelt gut. Einen wesentlichen Anteil daran hat die wissenschaftliche Bibliothek.

Dabei war bisher die Rolle des Konzepts der Tradition entscheidend. Sie lässt sich bereits an der ursprünglichen Bedeutung dieses Wortes ablesen. Denn das lateinische Wort traditio bezeichnet bereits den Vorgang des Übergebens und Überlieferns. Das Tradieren (bzw. dessen Institutionalisierung als Tradition) sichert den Zugriff auf überkommene Kulturschätze und kulturelle Errungenschaften der Vergangenheit. Es prägt zugleich unseren Umgang heute mit der Überlieferung. Die Kulturgüter von heute gehen, wiederum durch Überlieferung, als Erbe an die nächste Generation über. Die Überlieferung sorgt also dafür, dass die nachfolgende Generation Zugang zu den gesammelten Kulturgütern der Vorgänger-Generationen erhält; die Kulturgüter umfassen auch zumindest Teile der Bestände von Bibliotheken. An der Weitergabe beteiligte Institutionen (wie die Bibliotheken) und Personen nehmen bei dieser Weitergabe die Rolle von Treuhändern für die Kultur wahr.

Künftigen Generationen den Zugang zum Kulturerbe zu eröffnen heißt aber nicht - und erst recht nicht bei elektronischen Dokumenten -, einfach alles zu überliefern, was heute vorhanden ist. Die Vergangenheit zeigt, dass – gewollt und ungewollt − aus jedem Zeitraum nur ein Teil des Vorhandenen tradiert wurde. Zum Beispiel setzt sich der erwähnte Jörg Tremmel bei Kulturgütern dafür ein, diejenigen bewusst auszuwählen, die an die Zukunft überliefert werden sollen. Er stellt fest: „Jede nachwachsende Generation wählt aus, welche Wissensbestände der Vorgänger-Generation erhalten werden und welche in Vergessenheit geraten sollen.“5 Die Aufgabe der Auswahl, also die Funktion eines Gatekeepers im Hinblick auf die Zukunft der Materialien, nimmt die wissenschaftliche Bibliothek seit langer Zeit bei gedruckten Medien wahr. Sie kommt zum Tragen, wenn sie etwa Werke aus dem Marktangebot an Neuerscheinungen und Antiquaria für ihren Bestand auswählt. Werden Werke nach den Jahren der Nutzung wieder aus dem gedruckten Bestand und damit aus der öffentlichen Nutzung ausgeschieden, dann ist das erneut der Fall. Im Bundesland Bayern ist für Aussonderungen etwa das landesweite Archivierungskonzept, das nachvollziehbare Kriterien vorgibt, eine wichtige Grundlage. Eine vergleichbare Gatekeeping-Funktion wird in Bezug auf elektronischen Medien dann realisiert, wenn Entscheidungen über den nachhaltigen Datenerhalt für den Zugriff auf Inhalte fallen. Aufgaben als Gatekeeper nehmen außer den Bibliotheken z.B. auch die Archive wahr, wenn sie das Prinzip der Kassation auf angebotene Aktenbestände (in Papierform oder in Dateiform) anwenden.

Welche Rolle spielt die Generationengerechtigkeit nun für die aktiven Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler selbst? Sie stehen bekanntlich auf den Schultern von Riesen. Diese Feststellung des Wissenschaftssoziologen Robert K. Merton bestätigt sich laufend, wenn die Wissenschaft überliefertes Wissen nutzt, um damit zu arbeiten und hierdurch neues Wissen zu erarbeiten. Die intergenerationelle Weitergabe von Wissen ist für viele Wissenschaftsfächer unverzichtbar. Bibliotheken sind Infrastrukturen der Wissenschaft auch für diesen Zweck. Die unbestreitbare Gewährleistung von Überlieferung durch die Bibliothek zeigt zugleich, dass sie sich dem Ziel der Generationengerechtigkeit verpflichtet sieht – allerdings nur in einem gewissen Ausmaß.

Die Bibliothek war und ist im Printzeitalter als Gedächtnisinstitution ein Teil des Systems der kulturellen Überlieferung. Das galt zumindest für den Bereich der Medienwerke und hier speziell für das überlieferte ‚Erbe‘ an Publikationen aus der Kultur und den Wissenschaften. Im digitalen Bereich lässt sich daran anschließen. Es gibt heute zwar keine verbindliche Definition des Begriffs „digitales kulturelles Erbe“. Am häufigsten wird aber die Definition der UNESCO von 2003 für das körperliche und unkörperliche „kulturelle Erbe“ herangezogen; sie umfasst auch das Bibliotheksgut: „Das digitale Erbe besteht aus einzigartigen Quellen menschlichen Wissens und menschlicher Ausdrucksweisen. Es umfasst Quellen aus Kultur, Bildung, Wissenschaft und Verwaltung ebenso wie technische, rechtliche, medizinische und andere Arten von Information (...)“.6

Die Überlieferung zwischen den Generationen wird in zahlreichen Wissenschaftsfächern auch in Zukunft unentbehrlich bleiben, mit Sicherheit etwa in vielen Fächern der Geisteswissenschaften, in einigen sozialwissenschaftliche Fächern, im Fach Recht und im Fach Mathematik. In weitgehend textbasierten und mit historischen Quellen arbeitenden Wissenschaftsfächern wird die intergenerationelle Weitergabe häufiger praktiziert als in den STM-Fächern. Aber auch dort gibt es Ansätze. Ein Beispiel ist die naturwissenschaftliche Grundlagenforschung, die einen längeren Planungshorizont voraussetzt. Ohne die Aussicht auf Anwendungen in der nächsten Generation würde sie nicht finanziert werden. Auch in STM-Fächern kann der Zugang zu Forschungsergebnissen für lange Zeit unentbehrlich bleiben. Ein aktuelles Beispiel kommt aus der Physik: Erst Anfang 2016 konnte die Theorie der Gravitationswellen bestätigt werden. Albert Einstein hatte sie bereits 1926 publiziert.

Zumindest die intergenerationelle Weitergabe ist also eine unverzichtbare Grundlage von Wissenschaft und Kultur. Die wissenschaftliche Bibliothek verantwortet dabei erstens den Vorgang des Auswählens von Publikationen aus dem vorhandenen Angebot. Als Gedächtnisinstitution ist sie zweitens außerdem die anerkannte Instanz zur Vermittlung von Wissen für die Zukunft. Dank dieser Funktionen eignet sie sich gut dafür, auch in Zukunft beim dauerhaften Zugang zum Kulturerbe und zum Wissenschaftserbe eine wichtige Rolle zu spielen.

Allerdings hat sich in Bibliotheken das Umfeld für diese Aufgabe inzwischen dramatisch verändert. Im frühen 20. Jahrhundert waren die Bibliotheken und die Wissenschaft ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass in einer wissenschaftlichen Bibliothek ein über lange Zeit aufgebauter wertvoller, zumindest aber erhaltenswerter Bestand vorhanden sei. Dessen Aufbewahrung für lange Zeit galt als entscheidende und nicht hinterfragte fachliche Aufgabe der Bibliothek. Die Dienstleistung der wissenschaftlichen Bibliothek bestand damals wesentlich im Erhalten und Bewahren mit dem Ziel, die Nutzbarkeit der Werke auf Dauer sicherzustellen.

Heute ist das Aufgabenspektrum viel breiter. Außerdem verändern sich die Aufgaben und Arbeitsweisen laufend. Die Bibliothek und ihr wissenschaftliches Umfeld legen sie heute auch nicht mehr allein fest. Der Stand der Technik bei Medien und Technologien bestimmt sie mehr denn je mit. In welchem Umfang eine Bibliothek Aufbewahrung und Erhaltung auf Dauer wahrnimmt, ist jeweils in Konkurrenz zu anderen Aufgaben zu entscheiden, die ebenfalls Ressourcen benötigen. Das gilt für den gedruckten Bestand wie für elektronische Publikationen. Diese Entscheidung fällt dann in einer Bibliothek mehr, in einer anderen weniger oder gar nicht für das Bewahren und Erhalten aus. Hinter der Hauptaufgabe „Wissen überliefern für künftige Generationen“ von früher steht in vielen Bibliotheken also ein dickes Fragezeichen.

Generationengerechtigkeit zielt darauf ab, dass die Benutzer/innen das Wissen, das heute und früher erarbeitet wurde, auch in 20 oder 50 Jahren noch zur Verfügung haben. Denn wer die Werke der Wissenschaft und Kultur des Jahres 2016 − und der Zeiträume davor − später nicht nutzen kann, der wird in vielen Wissenschaftsfächern nicht mehr gut arbeiten können. Er ist dann ein Opfer des „cultural ageing“ geworden. Dieser Begriff bezeichnet den Verlust von Informationseinheiten als Folge des fehlenden Interesses an Überlieferung. Eine Bibliothek, die nur dem Anspruch folgt, Wissen für die Gegenwart bereitzustellen, riskiert also im Hinblick auf die Zukunft viel.

Der Berliner Medienwissenschaftler Wolfgang Ernst machte 2015 sogar die Hauptfunktion der Bibliothek der Gegenwart daran fest, dass es ihr gelinge, die gespeicherten Dokumente in die Zukunft zu überliefern. Die Bibliothek könne eine „Zeitbrücke“ zwischen den Epochen erbauen, wenn sie die Überlieferung von digitalen Dokumenten an die Zukunft − als Voraussetzung von Wissen zu jedem Zeitpunkt − operativ ermögliche: „Genau dies bleibt der Kern des Bibliotheksauftrags: Die Vergewisserung des Vermögens, sich Gespeichertes in größeren Zeitabständen nach wie vor aneignen zu können, als Bedingung allen Verstehens.“7

Eine Reihe wissenschaftlicher Bibliotheken wird sicher weiterhin das Ziel verfolgen, Wissen an kommende Generationen zu überliefern und für sie nutzbar zu halten. Was müsste geschehen, damit die analogen und digitalen Bestände wirklich auf lange Zeit für diesen Zweck zur Verfügung stehen? In 5 Thesen stelle ich wichtige Herausforderungen in diesem neuen Arbeitsfeld vor.

3. Wege zu einer systematischen Überlieferung des Wissens aus Kultur und Wissenschaft – 5 Thesen

These 1
Wissenschaftliche Bibliotheken, die den Zugang zu Wissenschaft und Kultur dauerhaft anbieten möchten, machen die Nachhaltigkeit zu einem wichtigen Arbeitsprinzip.

Wissenschaftliche Bibliotheken und ihre Träger gelten allein durch ihren Status als Institution schon als Zielobjekt von Generationengerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Ihre Funktion als wichtige Speicher der Gesellschaft für öffentliche Güter aus Bildung, Wissenschaft und Kultur verstärkt diese Fokussierung noch.

Kommende Generationen sollten die Möglichkeit haben, dass die Ergebnisse aus Wissenschaft und Kultur (d. h. jene aus der Überlieferung an unsere Generation plus die Ergebnisse aus unserer eigenen Generation) für sie leicht zugänglich und nutzbar sind – nicht in jeder Bibliothek, aber bei jeder Recherche.

Das betrifft Einzelpublikationen in Buchform und in elektronischer Form. Aber es betrifft auch ganze Sammlungen − gedruckte wie elektronische. Im Vorfeld von Entscheidungen zur Überlieferung an die Zukunft wird es notwendig sein, den Zusammenhalt der Elemente in einer Sammlung und deren spezifischen wissenschaftlichen und/oder kulturellen Wert eigens zu bewerten. Dafür werden im Printbereich Kriterien wie die Provenienz und der sogenannte „intrinsische Wert“ des Materials heranzuziehen sein. Bei elektronischen Sammlungen treten zusätzliche Anforderungen auf, etwa die Dokumentation von Linkstrukturen und von Verbindungen zwischen Textpublikation und Forschungsdaten.

Die nächste Generation wird erwarten, dass jeweils aktuelle Technologien zur Verfügung stehen, die einen schnellen und ungehinderten Zugriff auf die Informationen bieten. Daher reicht es nicht aus, dass die Bibliothek für eine zeitliche Persistenz der Informationsobjekte (information lifecycle management) sorgt. Vielmehr sind die Informationsobjekte stets zusätzlich in aktuelle Technologien zu migrieren und einzubetten, die aus Benutzersicht funktionieren.

Der erste Punkt richtet sich auf den Inhalt, der zweite auf die Technologie. Zusammen ergeben sie eine neue dauerhafte Aufgabe für die Bibliotheken. Diese müssen im Hinblick auf die Überlieferung an die Zukunft Nachhaltigkeit zu einem Grundprinzip ihrer Arbeit machen. Einzelne Anstrengungen werden dafür nicht ausreichen. Im Gegensatz zu heute muss das Überliefern künftig anders organisiert werden, nämlich als ein laufender und systematischer Prozess über eine sehr lange Zeit. Das ist ein grundlegend anderer Ansatz.

Er wird auch praktische Folgen für die Arbeitsorganisation haben. Heute sehen wir z.B. die Aufbewahrung und Erhaltung gedruckter Werke einerseits und die Langzeitspeicherung elektronischer Medien andererseits als getrennte Arbeitsfelder an. Geht man das Problem der Überlieferung für die Zukunft systematisch an, dann erscheinen sie als unterschiedliche Schwerpunkte innerhalb einer übergreifenden Aufgabe; daher könnte ihre institutionelle Trennung aufgehoben werden.

These 2
Wissenschaftliche Bibliotheken beteiligen sich an der Diskussion über geeignete Methoden, um den Informationsbedarf der nächsten Generation zu ermitteln.

Wenn Bibliotheken zur intergenerationellen Gerechtigkeit beitragen möchten, dann übernehmen sie ein hohes Maß an Verantwortung. Sie müssen heute darüber entscheiden, was für morgen zu überliefern ist und was nicht. Es wird nicht möglich sein, den gesamten gedruckten Bestand oder gar das gesamte elektronische Wissen dauerhaft aufzubewahren.

Ein Beispiel für die hier anstehenden Aufgaben ergibt sich aus dem aktuellen Erhaltungsstandard für elektronische Medien, dem OAIS-Modell, das dem ISO-Standard entspricht. Darin ist die Auswahl der zu erhaltenden Informationsobjekte für künftige Zielgruppen ein wesentlicher Punkt. Doch welche potentiellen Nutzergruppen wird es geben und welche Anforderungen stellen sie an die Überlieferung? Szenarien als Lösungsmöglichkeiten für diese Fragen sind noch zu entwickeln. Technologische Wege für künftige Infrastrukturen sind schon im Aufbau, aber für welche Materialien in welchem Umfang sie benötigt werden, ist teilweise unklar.

In diese Überlegungen lassen sich wiederum Anregungen von außerhalb des Bibliothekswesens einbeziehen. Einen interessanten Ansatz bietet z.B. die Internetforschung. Sie stellte fest: Das entscheidende Kriterium dafür, dass Information im Netz nicht verlorengeht, ist die Nachfrage durch eine Community. Welche Bedeutung haben vor diesem Hintergrund der Aufbau und die Pflege einer Nutzer-Community für Bibliotheken, die Informationen für lange Zeit nutzbar halten möchten? An dem Beispiel wird deutlich, dass nicht nur Szenarien fehlen. Es fehlen anscheinend auch die geeigneten Methoden, um langfristige Bedarfe zu ermitteln.

Allerdings haben auch Bibliotheken die Erfahrung gemacht, dass man heute nicht vorhersagen kann, welches Wissen zukünftige Nutzer/innen für relevant halten werden. Man kann daran die Grundsatzfrage anschließen, ob es dann überhaupt sinnvoll sei, heute Nutzungsszenarien für lange Zeiträume zu erarbeiten. Es gibt durchaus Wissenschaftler/innen, die betonen, dass das Unwissen über künftige Nutzungen für einen ethisch verantwortlichen Umgang mit den Wissens- und Informationsbeständen sehr weitreichende Folgen hat. Das zeigt die folgende Forderung, die vor wenigen Jahren erhoben wurde: „Es bedeutet, dass das Erbe zunächst möglichst vollständig und systematisch überliefert werden muss – zumindest soweit dies im Rahmen der verfügbaren Ressourcen möglich ist. Eine Selektion ex ante ist streng genommen unzulässig.“8 Die Bandbreite der Meinungen zu diesem Thema verspricht spannende Diskussionen.

Bei Entscheidungen zur Langzeiterhaltung hat die Entscheidung darüber, was zu überliefern ist, immer zugleich ein negatives Pendant. Mit der Auswahl von Informationseinheiten für die Überlieferung entscheiden wir zugleich darüber, dass bei anderen Informationseinheiten die Alterung (physisch, semantisch oder kulturell), also letztlich der Verfall, zugelassen wird. Das ist unvermeidlich, weil nur ein Teil des vorhandenen Materials überliefert werden kann. Zu diesem schwierigen Thema (Entscheidung für Überlieferung und Entscheidung für Okklusion) könnten Bibliotheken ihren Zielgruppen in Zukunft Beratung anbieten. Voraussetzung dafür ist, dass die bibliothekarische und wissenschaftliche Diskussion das Thema aufnimmt und dass in den Häusern rechtzeitig Expertenwissen zu diesem Thema aufgebaut wird.

Wer heute Überlieferung als dauerhafte Zugänglichkeit für die Zukunft systematisch organisieren, möchte, wird rasch merken, dass heute noch nicht alle Voraussetzungen für diese Arbeiten vorhanden sind. Die aktuelle Diskussion über Kulturguterhaltung nennt drei Arbeitsbereiche, die noch aufzubauen sind, nämlich „einen wirksamen Überlieferungsdiskurs, eine systematische Überlieferungsplanung und eine interdisziplinäre Überlieferungswissenschaft“.9

These 3
Wissenschaftliche Bibliotheken stoßen den Überlieferungsdiskurs an und bringen ihre Erfahrungen in die Diskussion ein.

Der Überlieferungsdiskurs kann z.B. eine breite Beschäftigung mit Fragen der Langzeiterhaltung in Gang bringen, Szenarien für künftige Nutzungen entwickeln und die Ergebnisse dieser Arbeiten dokumentieren. Daraus könnte am Ende ein Konsens über notwendige Aufgaben der Überlieferung herausgefiltert werden. Außerdem sollte versucht werden, eine breit akzeptierte Ethik für Überlieferungsfragen zu erarbeiten. Dann stünde ein Regelwerk zur Klärung der Grundsatzfrage, was erhalten werden soll und was nicht, zur Verfügung.

Falls ein Bedarf für künftige Zielgruppen zu vermuten ist: Nach welchen Kriterien sind die Materialien für eine Langzeitsicherung konkret auszuwählen: nach dem Alter, nach dem Wert, nach der Seltenheit, nach der Nutzungshäufigkeit? Oder reicht es aus, technischen Kriterien zu folgen wie z.B. Identifizierbarkeit, Verfügbarkeit, technischer Zustand? Um solche Fragen zu beantworten, sollten Diskussionen angestoßen werden, die am Ende zu einer Typologie der Auswahl für die künftige Überlieferung führen können. Die gewählte Typologie wird dann übrigens ihrerseits Rückwirkungen auf die Sammelkriterien für digitale Publikationen entfalten. Dies zeigen Erfahrungen der Deutschen Nationalbibliothek bei der technischen Selektion und Medienauswahl für die digitale Langzeiterhaltung.10

In diesen Fragen bietet es sich erneut an, zu prüfen, was Kriterien von außerhalb des Bibliothekswesens zur Lösung beitragen können. Denn es gibt dort interessante und anwendbare Überlegungen. So skizzierte etwa der Philosoph Dieter Birnbacher von der Universität Düsseldorf 2014 drei Ansätze zur Begründung langfristiger Erhaltungspflichten, die in der Naturethik entwickelt wurden, und wandte sie auf Kulturgüter an.11 Der erste, bedürfnisorientierte Ansatz geht davon aus, das Kulturgut zu erhalten, weil vermutlich auch in Zukunft ein Bedürfnis dafür besteht, es zu nutzen. Der zweite, bewertungsorientierte Ansatz argumentiert mit dem inhärenten Wert von Kulturgütern, z.B. einem ästhetischen Wert oder einem Bildungswert. Der dritte Ansatz postuliert, dass das Kulturgut einen intrinsischen Wert besitze, der ihm auch ohne Wertschätzung durch Dritte zukomme, z.B. aufgrund seiner Materialität; mit diesem Wert haben bisher vor allem Archivare argumentiert. Um bei Kulturgütern intergenerationell verantwortlich zu handeln, eigne sich der „safe minimum standard“, so Birnbacher weiter.12 Dieser Standard wird heute zum Schutz bedrohter Tierarten angewandt. Für die kulturelle Überlieferung übersetzt Birnbacher ihn so: Nur für bedeutende Kulturgüter mit historischem Wert bestehe die Pflicht, sie zu erhalten, während für die anderen Kulturgüter „die Erhaltung eines sicheren Minimalbestands (an Exemplaren, Kopien, Versionen usw.) ausreichend erscheint“.13

Bei ganzen Sammlungen muss man aber zusätzliche Kriterien berücksichtigen; bei historischen Sammlungen sind das etwa die Entstehungs- und Entwicklungszusammenhänge. Analoge Überlegungen wären bei elektronischen Sammlungen anzustellen. Hier ist unter anderem nach dem Aufwand zu fragen, den man in Entscheidungen über das Aufheben bzw. das Verfallen lassen investieren soll und kann. Weitere Probleme sind etwa die Hypertextstrukturen oder die Apparateabhängigkeit bestimmter Forschungsdaten. Auch der Gesetzgeber setzt teilweise zu enge Grenzen.14

Der Überlieferungsdiskurs sollte sich auch mit dem Verhältnis zwischen einem analogen Format und einem digitalisierten Werk beschäftigen. Hier existiert bisher eine gewisse Dialektik. Es ist gut, dass wir die Bücher noch haben, aus denen vor 15 Jahren erste Digitalisate angefertigt wurden. Denn um heute ein neues Farb-Digitalisat auf dem Stand der Technik anzufertigen, werden die Bücher schon aus technischen Gründen weiterhin benötigt. Hat man das Farb-Digitalisat, dann wäre bei Texten zusätzlich die Erschließung durch OCR nützlich, um Volltexte durchsuchbar zu machen.

Am Horizont zeichnen sich aber schon weitere Anforderungen ab. Nehmen wir als Beispiel die Sütterlinschrift. Viele Studierende können inzwischen Bücher in Frakturschrift nur nach Einübung und nur mit Mühe lesen. Lieber möchten sie die Texte alter Bücher in Antiquaschrift im Netz haben; auch für das Lesen auf mobilen Geräten hätte das Vorteile. Es kann sein, dass sich damit schon eine neue Qualitätsoffensive der Retrodigitalisierung ankündigt: Volltexte in Antiquaschrift. Man kann den Nutzungskomfort anschließend noch weiter erhöhen: Wenn die Volltexte vorliegen, sollten sie noch zuverlässig korrigiert werden, damit sie zitierbar sind. Für die Weiterverwendung wäre aber die Auszeichnung nach den TEI, dem internationalen Standard der Text Encoding Initiative, die allerdings sehr aufwändig ist, noch besser. Benutzerinnen und Benutzer erwarten also heute und morgen neue Qualitäten für das Retro-Digitalisat. Das bedeutet zugleich, dass die Option auf jeweils bessere Sekundärformen sich nur sichern lässt, solange ein Exemplar der gedruckten Quelle auf Dauer als Vorlage verfügbar bleibt – zumindest in einer Bibliothek. Das Beispiel Retro-Digitalisat zeigt zugleich: Was oben als Überlieferungsdiskurs bezeichnet wurde, betrifft mehrere Arbeitsbereiche der Bibliothek.

Auch die Frage des materialspezifischen Eigenwerts von Originalen („intrinsischer Wert“), mit denen sich z.B. die Archivschule Marburg vor etlichen Jahren intensiv beschäftigt hatte, müsste in diesem Rahmen erneut diskutiert werden. Die aktuelle Diskussion in den Kulturwissenschaften über Materialität und Materialspezifik zeigt jedenfalls teilweise in diese Richtung.

Darüber hinaus steht das Verhältnis von Original und Digitalisat aber auch grundsätzlich zur Debatte. Denn vermutlich ist es unrealistisch zu glauben, eine in Zukunft digitalisierte Überlieferung könne auf Originale verzichten. Schon die Voraussetzungen dafür erscheinen unerfüllbar zu sein: Man kann sich heute nicht darauf verlassen, dass die digitale Überlieferung in allen Ländern und dauerhaft und auf hohem Standard funktioniert, und es ist kaum wahrscheinlich, dass sich das grundsätzlich ändern wird.

Die Medienwissenschaften warnen noch aus einem anderen Grund davor, allein auf digitale Angebote zu setzen: „Denn mit der Verwirklichung dieser Forderung wird sich eine zunehmende Abhängigkeit aller künftigen Generationen von Computernetzen als den wichtigsten, ja vielleicht einzig verbleibenden Verortungen ihres kulturellen Gedächtnisses einstellen“.15 Die möglichen Folgen kennen wir als Gefahren aus diversen Feldern der Digitalisierung: Es drohen große Datenverluste, der Verfall der Originale, die Gefahr der Manipulation und fehlende Nachprüfbarkeit etc. Sollte etwas davon eintreten, dann müssten kommende Generationen zur Kenntnis nehmen, dass sie doppelt benachteiligt wurden: Erstens bekämen sie keinen Zugang mehr zu Originalen. Zweitens würden sie von der Tradition abgeschnitten, weil ihr „kulturelles Erbe“ als Material bereits zu großen Teilen zerfallen oder verloren sein könnte.

These 4
Wissenschaftliche Bibliotheken treiben die Überlieferungswissenschaft voran und profitieren von ihr.

Der Begriff Überlieferungswissenschaft sollte nicht abschrecken. Denn diese Wissenschaft erfindet das Rad nicht neu. Sie könnte vor allem zahlreiche Themen aufgreifen und weiterentwickeln, mit denen Bibliotheken sich schon länger beschäftigen. Es geht dabei etwa um die Entwicklung von Strategien, um ungewollte Verluste in Kultur und Wissenschaft zu vermeiden, z.B. bei einem Medienwechsel. Beispiele sind Inhalte auf Vinyl-Schallplatten, auf Hörcassetten, auf Computerbändern und -disketten, auf CDs, auf Mikrokarten. Überlieferungswissenschaft beschäftigt sich weiter mit Theorien und Methoden zur Überlieferung von Kultur und Wissen, aber auch mit Techniken und Technologien und mit den materialspezifischen Anforderungen. Sie kann historische Erfahrungen mit der Überlieferung für heute fruchtbar machen, z.B. die Folgen von Verlusten durch Brand oder Krieg, aber auch die materiellen Grundlagen der bisherigen Medienformen wieder ins Gedächtnis rufen.

Daneben wären weitere Arbeitsfelder sinnvoll. Die Überlieferungswissenschaft könnte etwa Methoden für Kosten- und Risikoabschätzungen zur Bestandserhaltung und Langzeitspeicherung erarbeiten. Expert/inn/en könnten solche Instrumente dann für ihre Planungen und für die Politikberatung nutzen.

Schließlich werden für die Überlieferung an künftige Generationen jeweils aktuelle Technologien benötigt, da viele digitale Dokumente und Materialien kurzlebiger sind, als gedruckte Dokumente es je waren. Digitalisate könnten innerhalb von 10 bis 15 Jahren nicht mehr nutzbar sein; diese Daten wären verloren. Die Langzeiterhaltung digitaler Daten haben führende Bibliotheken daher bereits als eine neue Hauptaufgabe erkannt und sich an die Spitze der Bewegung gesetzt. Spannende Entwicklungen haben begonnen, die auf Infrastrukturen für eine dauerhafte Nutzung abzielen − sei es das Hosting für lizenzierte Informationen im KIT, sei es die Langzeitarchivierung an großen Bibliotheksstandorten, seien es verteilte Datenspeicher nach den Konzepten von LOCKSS und Portico.

Neu ist jeweils, dass wissenschaftliche Bibliotheken die Probleme nicht mehr allein innerhalb der Bibliothekswelt bearbeiten und lösen können. Der Horizont hat sich auch hier erweitert. Nur zusammen mit Partnern können die Bibliotheken wesentlich dazu beitragen, eine systematische Überlieferung für die Zukunft der Informationsgesellschaft voranzutreiben.

These 5
Wissenschaftliche Bibliotheken planen die Überlieferung an kommende Generationen zusammen mit Partnern systematisch und arbeitsteilig.

Es ist so verantwortungsvoll wie schwierig, das Wissen aus der Kultur und aus den Wissenschaften zu überliefern. Bibliotheken können über die damit zusammenhängenden Fragen nicht alleine entscheiden. Sie müssen sich mit weiteren Personen und Institutionen abstimmen, die in Kultur und Wissenschaft Verantwortung tragen. Das Ergebnis dürfte je nach Wissenschaftsfach und Kulturbereich unterschiedlich ausfallen.

Trotzdem brauchen die Bibliotheken und ihre Träger auch selbst ein Konzept, das eine Arbeitsteilung zwischen ihnen vorsieht und entsprechende Verantwortlichkeiten festlegt. Welche Wissenschafts- und Kultureinrichtungen (und damit: welche Bibliotheken) können bzw. sollen zum Aufbewahren für lange Zeit verpflichtet werden?

Des Weiteren bleiben die Kriterien zu klären, nach denen eine Pflicht zur Langzeitsicherung bestimmt wird. Hier gibt es zahlreiche miteinander konkurrierende Ansätze. Soll dafür das Prinzip der Freiwilligkeit gelten? Oder der Besitz (Bibliotheken mit entsprechend hochwertigen Beständen)? Das Fächerprinzip? Das Verursacherprinzip (Beispiel: Wer eine Spezialsammlung hat oder sich als Bibliothek an einem Gemeinschaftsunternehmen beteiligt, ist in der Pflicht)? Die Leistungsfähigkeit (Beispiel: Wer eine Infrastruktur aufbaut, bietet auch Basis- und Spezialdienstleistungen an)? Auch nach Bibliothekstypen kann man diese Pflichten festlegen (Verantwortung national, regional, für bestimmte Medienformen etc.

Antworten auf diese Fragen sollten gesammelt werden und schließlich in ein Gesamtkonzept zur Lösung des Überlieferungsproblems münden. Das Konzept wäre mit zahlreichen weiteren Akteuren in der Wissenschaft, in anderen Gedächtnisorganisationen, in der Kultur und der Politik abzustimmen. Im Anschluss daran sollte es möglich sein, auch Politiker/innen davon zu überzeugen. Mit guten Begründungen und mit politischer Unterstützung besteht eine große Chance dafür, dass die absehbar hohen Investitionskosten und die laufenden Kosten für eine systematische Überlieferungsplanung und Überlieferungsorganisation finanziert werden.

4. Schluss

Die Überlegungen zu einem stärker systematischen Vorgehen bei der Überlieferung von Wissen aus der Kultur und aus den Wissenschaften in die Zukunft betreffen wissenschaftliche Bibliotheken in ihrem Grundverständnis. Einige von ihnen dürften darin sogar ein Schwerpunktthema für die eigene strategische Planung sehen.

Das Konzept der Generationengerechtigkeit zeigt, dass die Überlieferungsplanung das Selbstverständnis der Bibliothek als Gedächtnisinstitution für gedruckte und für digitale Dokumente herausfordert. Es klebt nicht an der Vergangenheit, sondern es rückt die praktische Nutzbarkeit der Informationsobjekte für lange Zeit in das Zentrum. Überlieferung über Generationen hinweg schließt an bisherige Tätigkeiten in wissenschaftlichen Bibliotheken an. Zugleich stellt sie die Bibliotheken aber vor erhebliche neue Probleme und Aufgaben. In 5 Thesen wurden dazu Hausforderungen skizziert.

Je stärker die Digitalisierung sich durchsetzt, desto wichtiger wird es sein, dass eine nachhaltige und systematische Überlieferungsplanung aufgebaut, finanziert und realisiert wird. Praktische Erfahrungen haben zahlreiche Bibliotheken seit langem im Printbereich und in den letzten Jahren auch in der digitalen Langzeiterhaltung. Die Instrumente für ein systematisches Vorgehen sind aber teilweise erst zu entwickeln. Jedenfalls sprechen die hohen Kompetenzen und die langen Erfahrungen von Bibliothekar/inn/en mit dem Zugang zum Wissen und bei der Sicherung des Wissens dafür, sich an Planungen zur Überlieferung an kommende Generationen zu beteiligen.

Letztlich zielen diese Herausforderungen auf die Funktion einer wissenschaftlichen Bibliothek in der Gesellschaft ab. Denn heute garantieren die Bibliotheken (noch) einen freien Zugang zu und damit den Austausch von Wissen und Informationen. Das ist sozusagen ihre basisdemokratische Funktion in der Gesellschaft, die gerne stolz als „Wissensgesellschaft“ beschrieben wird. Diese Funktion lässt sich auf Dauer nur erhalten, wenn die Bibliotheken auch in Zukunft in der Lage sind, Publikationen einerseits aktiv zu sammeln und zu erschließen, sie andererseits − in den Wissensgebieten, die eine dauerhafte Überlieferung benötigen, − aber auch für lange Zeit in abrufbarer Form bereitzustellen.

Literaturverzeichnis

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Tremmel, Jörg. „Generationengerechtigkeit: Versuch einer Definition.“ In Handbuch Generationengerechtigkeit, herausgegeben von der Stiftung für die Rechte künftiger Generationen, bearbeitet von Jörg Tremmel, 2., verbesserte Auflage, 27–80. München: ökom, 2003.

Tremmel, Jörg. Eine Theorie der Generationengerechtigkeit. Münster: mentis, 2012.

UNESCO. „Charter on the Preservation of the Digital Heritage.“ 15. Oktober 2003. Zuletzt geprüft am 29.10.2016. http://portal.unesco.org/en/ev.php-URL_ID=17721&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=201.html

1 Donella Meadows, Jørgen Randers und Dennis Meadows, Grenzen des Wachstums. Das 30-Jahre-Update. Signal zum Kurswechsel, Aus dem Englischen von Andreas Held. 3., überarbeitete Auflage, mit einem Geleitwort von Prinz El Hassan Bin Talal, Präsident des Club of Rome (Stuttgart: S. Hirzel 2009), 284.

2 Jörg Tremmel, „Generationengerechtigkeit: Versuch einer Definition,“ in Handbuch Generationengerechtigkeit, hrsg. Stiftung für die Rechte künftiger Generationen, bearbeitet von Jörg Tremmel. 2., verbesserte Auflage (München: ökom, 2003), 35. In seinem Buch von 2012 hat Tremmel die frühere Definition zugunsten der Nachfolgegeneration verschärft; deren Chancen sollen nun „besser“ sein. Jörg Tremmel, Eine Theorie der Generationengerechtigkeit (Münster: mentis, 2012), 290.

3 Der seitdem so genannte „Nachhaltigkeits-Imperativ“ lautet dort: „Nachhaltigkeit ist eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der heutigen Generation erfüllt, ohne den künftigen Generationen die Möglichkeit zu nehmen, ihre Bedürfnisse zu erfüllen.“ Volker Hauff, Hrsg., Unsere gemeinsame Zukunft: Der Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, mit einem neuen Vorwort zur deutschen Ausgabe (Greven: Eggenkamp, 1987), 27.

4 Tremmel, Generationengerechtigkeit (2003), 35.

5 Tremmel, Eine Theorie der Generationengerechtigkeit (2012), S. 145.

6 Übersetzung von Artikel 1 der englischen Version: „Charter on the Preservation of the Digital Heritage,“ UNESCO, 15. Oktober 2003, zuletzt geprüft am 29.10.2016, http://portal.unesco.org/en/ev.php-URL_ID=17721&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=201.html.

7 Wolfgang Ernst, „Memorisierung des ‚Web‘: Von der emphatischen Archivierung zur Zwischenarchivierung der Gegenwart,“ Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 62, Nr. 3–4, (2015): S. 151.

8 Robert Hauser, „Der Modus der kulturellen Überlieferung in der digitalen Ära – zur Zukunft der Wissensgesellschaft,“ in Neues Erbe. Aspekte, Perspektiven und Konsequenzen der digitalen Überlieferung, hrsg. Caroline Y. Robertson-von Trotha und Robert Hauser, unter Mitarbeit von Janina Hecht, Kulturelle Überlieferung – digital 1 (Karlsruhe: Kit Scientific Publishing, 2011), 35.

9 Michael Hollmann und André Schüller-Zwierlein, „Epilog: Grundlagen zukünftiger Zugänglichkeit“, in Diachrone Zugänglichkeit als Prozess: Kulturelle Überlieferung in systematischer Sicht, hrsg. Michael Hollmann und André Schüller-Zwierlein. Age of Access? Grundfragen der Informationsgesellschaft 4 (Berlin, München, Boston: de Gruyter Saur, 2014), 455.

10 Reinhard Altenhöner und Sabine Schrimpf: „Lost in tradition? Systematische und technische Aspekte der Erwerbung von Internetpublikationen in Archivbibliotheken,“ in Diachrone Zugänglichkeit als Prozess: Kulturelle Überlieferung in systematischer Sicht, hrsg. Michael Hollmann und André Schüller-Zwierlein. Age of Access? Grundfragen der Informationsgesellschaft 4 (Berlin, München, Boston: de Gruyter Saur, 2014), vor allem 310–318 und 323–324.

11 Dieter Birnbacher, „Intergenerationelle Verantwortung und kulturelles Erbe,“ in Diachrone Zugänglichkeit als Prozess: Kulturelle Überlieferung in systematischer Sicht, hrsg. Michael Hollmann und André Schüller-Zwierlein. Age of Access? Grundfragen der Informationsgesellschaft 4 (Berlin, München, Boston: de Gruyter Saur, 2014), 148–152.

12 Ebd., 154.

13 Ebd.

14 Es ist z.B. sehr bedauerlich, dass Zuschauer die meisten öffentlich-rechtlichen Fernsehsendungen aus urheberrechtlichen Gründen nach der Ausstrahlung heute nur eine Woche lang aufrufen und ansehen dürfen. Aus rechtlichen Gründen fällt damit ein ganzer medialer Überlieferungsstrang für die dauerhafte Nutzung durch die Bürger/innen und auch für die Forschung aus. Trotzdem ist es nötig, dass die Sendungen heute zu Archivzwecken ausgewertet, aufgezeichnet und in neue Medienformate überführt werden - bis der Urheberrechtsschutz nach Jahrzehnten endlich ausläuft und breite Nutzergruppen erneut Zugang erhalten.

15 Bernhard Serexhe, „Neue Medien – kurzes Gedächtnis? Anmerkungen zum Systemwechsel des kulturellen Gedächtnisses,“ in Neues Erbe: Aspekte, Perspektiven und Konsequenzen der digitalen Überlieferung, hrsg. Caroline Y. Robertson-von Trotha und Robert Hauser, Kulturelle Überlieferung – digital 1 (Karlsruhe: Kit Scientific Publishing, 2011), 79.