Geschlechterbewusste Verschlagwortung

Bericht über die Sitzung der öffentlichen Arbeitsgruppe Gender/­Diversity in Bibliotheken am 15.03.2016

Die Diskussionsinhalte der seit 2012 existierenden Arbeitsgruppe Gender/Diversity in Bibliotheken1 füllen bezogen auf das Gesamtprogramm der großen, jährlich stattfindenden bibliothekarischen Fachtagungen eine immer noch existierende Lücke. Das Ziel dieser öffentlichen Arbeitssitzung besteht darin, sich über Themen auszutauschen, die die Bibliothek als Raum in den Blick nehmen, der geschlechterhierarchisch strukturiert ist und diese Struktur durch die verwendeten Instrumentarien immer noch reproduziert. Solche Themen sind z.B.: der Anteil von Frauen in Führungspositionen, die gerechte Entlohnung von Bibliotheksarbeit, die gendersensible Statistik der bibliothekarischen Veranstaltungen, der geschlechterbewusste Blick in Normdateien, das Sichtbarmachen von Frauen in der Bibliotheksgeschichte, die Rolle von Männer- und Frauenbildern in Bibliotheken sowie Fragen des Gender Mainstreaming. All diese Themen kommen selten bis gar nicht in das Programm der überregionalen bibliothekarischen Kongresse.
Für den Leipziger Bibliothekskongress stand das Thema „Geschlechterbewusste Verschlagwortung“ auf der Tagesordnung. Im Hinblick auf die feministische Kritik an Praktiken im Bibliothekswesen ist das Thema bereits ein relativ „altes“ Thema, das aus der Sicht traditionell eingestellter Bibliotheksfachleute eher nervt, aus der Sicht wissenschaftlicher Spezialbibliotheken – v.a. der Frauen-, Gender- und queerer Bibliotheken – auch aufgrund der ständig wachsenden Literatur in diesem Bereich mehr als dringend zu bearbeiten ist. Mit dem Umstieg auf RDA ergibt sich die einmalige Chance, das Thema von Anfang an gemeinsam zu diskutieren und zu entscheiden. Bekanntlich soll ab 2017 nach einem Beschluss des Standardisierungsausschusses ein neues Regelwerk für die Inhaltserschließung erarbeitet werden.
Dass dieses Regelwerk und die dazugehörenden Normdateien auch unter geschlechtersensiblem Aspekt überarbeitet werden müssen, machte Dr. Karin Aleksander von der Genderbibliothek des Zentrums für transdisziplinäre Geschlechterforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin in ihrem Einstiegsvortrag deutlich. Ihre Titelfrage „Hat die GND ein Geschlecht?“ beantwortete sie mit eindringlichen Beispielen aus der Gemeinsamen Normdatei (GND) und den (noch gültigen) Regeln für den Schlagwortkatalog (RSWK). Sie belegen, dass die GND auf androzentrischer Grundlage, also einem männlichen Blick auf Welt und Wissenschaft, basiert. So werden im Gegensatz zu Begriffen in den Naturwissenschaften Termini der Geschlechterstudien nicht nur zeitlich später in die GND aufgenommen, sondern, wie das Beispiel des zentralen Fachbegriffes „Geschlechterverhältnisse“ zeigt, auch in falscher inhaltlicher Zuordnung, in diesem Falle nur als synonymer Gebrauch für „Geschlechtsverhältnis“ (Demographie) bzw. „Geschlechterbeziehung“ (Psychologie). Auch die RSWK blenden Geschlechteraspekte aus, wenn z.B. eine Regel vorschreibt, dass männliche und weibliche Berufsbezeichnungen nur verwendet werden dürfen, wenn es sich um einen Vergleich handelt. Ansonsten wird nur die männliche Berufsbezeichnung angegeben, auch wenn Frauen in diesem Beruf in einem Sammelband vorkommen (z.B. Gelehrter vs. weibliche Gelehrte). Diese Regel widerspricht nicht nur einer Duden-Richtlinie, wonach Berufsbezeichnungen geschlechtergerecht formuliert sein müssen, sondern fordert auch mehr Zeitaufwand beim Recherchieren nach z.B. weiblichen Gelehrten. Insgesamt zeigt das Abbild von Geschlechterverhältnissen und Geschlechtervielfalt in der GND, dass die Sachbegriffe quantitativ und qualitativ uneinheitlich sowie häufig geschlechterstereotypisch angesetzt sind und sie diese Geschlechterstereotypisierungen reproduzieren. In der Diskussion äußerten sich Teilnehmende verwundert darüber, dass solche Anachronismen in der GND und in Regelwerken immer noch existieren.

Im zweiten Vortrag stellte Marius Zierold vom META-Projekt des i.d.a.-Dachverbandes2 den neuen Katalog dieses Netzwerkes vor. Der seiner Meinung nach „zurzeit beste Katalog“ weist die Bestände von 30 Lesben-/Frauenarchiven, -bibliotheken und Dokumentationsstellen aus fünf deutschsprachigen Ländern Europas in einem gemeinsamen Katalog nach. Mit einer Abfrage sind so Recherchen in Bibliotheken und Archiven gleichzeitig möglich. Als Dokumenttypen sind sowohl die herkömmlichen Monografien und Zeitschriften enthalten, als auch Artikel aus Sammelbänden und Zeitschriftenheften, Akten, Noten, Plakate, Button, audiovisuelle Medien etc. Die Ergebnisse aus dieser Breite von Dokumenttypen können mit verschiedenen Facetten eingeschränkt werden. Trotz unterschiedlichster elektronischer Erfassungssoftware, Erfassungsstile und Erschließungstiefe der beteiligten i.d.a.-Einrichtungen hat das META-Entwicklungsteam einen Katalog geschaffen, der z.B. mittels einer Gruppierungsfunktion ein einheitliches Erscheinungsbild liefert. Besonders die einheitliche Abbildung von Bibliotheks- und Archivbeständen war dabei eine große Herausforderung. Für die Zukunft arbeitet das Team weiter an der (bis in den einzelnen Einrichtungen) zu vereinheitlichenden Erfassung. Dabei soll langfristig auch die abgestimmte inhaltliche Erschließung einbezogen werden.

Der abschließende Fachvortrag baute auf diesen beiden Berichten auf. Dr. des. Katrin Lehnert (Berlin, jetzt Projekt Digitales Deutsches Frauenarchiv, i.d.a.-Dachverband) stellte die Frage, ob „META-Katalog und Gender-Thesauri als Best-Practice-Beispiele für Migrationsarchive“ nützlich sein können. Sie begann damit, einige der seit ca. 1990 entstandenen, noch wenigen Migrationsarchive in der BRD und Österreich vorzustellen. Ob das DOMID in Köln, eine Kampagne in Wien oder Einrichtungen in Berlin – sie alle kennzeichnet, dass sie sowohl Bibliothek als auch Archiv sind und Arbeits- und/oder Ausstellungsräume offerieren. Die meisten bieten bis heute keinen Online-Bestand an, aber Online-Findbücher. Sie schätzen die Möglichkeit, sich im Internet zu präsentieren, wie z.B. das digitale Wissensarchiv „Movements of Migration“3 der Universität Göttingen, oder sich virtuell zu vereinigen, wie im Portal „Meine Stadt – Meine Geschichte“4 oder im europäischen Rahmen das Projekt „Migrants Moving History : Narratives of Diversity in Europe“5. Mit dem Hinweis, dass es innerhalb dieser Projekte auch Widerstände gegen eine gemeinsame Verschlagwortung gibt, weil Archive „historische“ Begrifflichkeiten erhalten und verwenden möchten, leitete Katrin Lehnert über zu dem in der GND verwendeten Vokabular, das für Migrationsthemen verwendet wird. Vergleichbar mit der Entwicklung in der Geschlechterforschung sind auch beim Thema Migration die heute im Sinne einer Political Correctness verwendeten Begriffe weiter fortgeschritten als in der GND abgebildet, die auf diesem Gebiet teilweise immer noch einen eurozentristischen Blick kultiviert. Dabei kann es – wie auch bei der Geschlechterforschung – nicht nur darum gehen, einzelne Begriffe zu aktualisieren, neu einzuführen oder zu verändern, sondern das Denken, das die Grundlage des Begriffssystems ist, insgesamt kritisch zu befragen, z.B. zum Begriff „Rasse“. Für die ethnografischen Schlagwörter sowie für die (zu)geordneten Begriffsbeziehungen innerhalb eines Thesaurus ist auch der historische Gehalt eines verwendeten Begriffs von Bedeutung. Im Anschluss wurde diskutiert, ob und wie heute veraltete oder politisch inkorrekte Begriffe weiter in der GND erhalten werden sollen, können, dürfen. Ihre anfangs gestellte Frage beantwortete die Referentin positiv: Ja, die langjährige Zusammenarbeit der deutschsprachigen Lesben-, Frauen- und Genderbibliotheken und -archive und der META-Katalog können als Vorbild für Migrationsarchive dienen. Sie zeigen, dass eine frühzeitige Zusammenarbeit sehr fruchtbar sein kann. Auch wenn es noch ein langer Weg ist zu einem gemeinsamen Gender-Thesaurus, die frühzeitige Angleichung der Formal- und Sacherschließung ist ein wichtiger Schritt, um zukünftig (digital) wahrgenommen und fachlich akzeptiert zu werden.
Die Teilnehmenden der AG bewerteten die vorliegenden Ergebnisse des i.d.a.-Dachverbandes, wie den Katalog META und das neu aufzubauende Digitale Deutsche Frauenarchiv, sowie die Bemühungen um geschlechterkritische und geschlechterbewusste Klassifikationen und Schlagwortsysteme als sehr positiv und nützlich. Die auch diesmal anwesenden Studierenden bibliothekswissenschaftlicher Studiengänge vermissen diese Inhalte in ihrer Ausbildung.
Bezogen auf die Diskussionen um die RDA-Einführung unterstützten alle Teilnehmenden die Entscheidung, die dort notwendigen Beziehungskennzeichnungen zwischen einer Ressource und Personen in einer neutralen, d.h. nicht in der tradierten, männlichen, Form abzubilden. Unsere Forderung, hier von Anfang an zentral der Praxis des Bibliotheksservice-Zentrums Baden-Württemberg (BSZ), des Gemeinsamen Bibliotheksverbundes (GBV), der Universitätsbibliothek Leipzig und des Österreichischen Bibliothekenverbundes zu folgen, übermittelte die AG-Leitung auch dem Forum am 17.03.2016. Elisabeth Niggemann (DNB) wies in ihrem Vortrag über RDA als Regelwerk, Lernprozess und die Zukunft ausdrücklich darauf hin, dass Gespräche mit speziellen Nutzungsgruppen in diesem Prozess wichtig sind. Dieser Eindruck bestätigte sich sowohl beim zum Bibliothekskongress organisierten Treffen in der Erschließungsabteilung der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig als auch bei Anfragen an Fachreferate im Vorfeld der AG-Sitzung. Überall stießen Anregungen zu Aspekten von Gender/Diversity auf ein interessiertes Problembewusstsein. Das nun auch umzusetzen ist ein Prozess, den die Lesben-/Frauenbibliotheken und -archive und interessierte Geschlechterforscher/innen mit ihrer Fachkompetenz unterstützen möchten. So könnten dann auch diese Themen bei zukünftigen Fachtagungen mehr Raum einnehmen.

Karin Aleksander, Humboldt-Universität zu Berlin, Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien

Zitierfähiger Link (DOI): http://dx.doi.org/10.5282/o-bib/2016H4S294-296

1 Die AG ist ein Ergebnis der gemeinsamen Aktion von Mitgliedern des VDB und BIB, den „Bibliothekartag“ in Bibliothekstag bzw. Bibliothekskongress umzubenennen. Sie wurde auf der Veranstaltung in Hamburg 2012 gegründet. In der Geschichte der Fachtagungen hat es bereits verschiedene Frauen-AG von unterschiedlicher Dauer gegeben.

2 Der META-Katalog (http://meta-katalog.eu/) wurde als Projekt vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend von 2012-2016 gefördert und wird bis 2019 als ein Kernstück im neuen Projekt für ein Digitales Deutsches Frauenarchiv weiter unterstützt. Weitere Informationen: http://www.ida-dachverband.de/ueber-ida/projekt-meta/, zuletzt geprüft am 26.07.2016.

3 „Movements of Migration,“ zuletzt geprüft am 21.10.2016, http://www.movements-of-migration.org/cms/.

4 „Meine Stadt – meine Geschichte,“ zuletzt geprüft am 21.10.2016, http://www.migrationsgeschichte.de/.

5 „Migrants Moving History,“ zuletzt geprüft am 21.10.2016, http://www.migrants-moving-history.org/.