Rezensionen

Lemmerich, Jost:
Politik und Werbung für die Wissenschaft : das Harnack-Haus der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften in Berlin-Dahlem / Jost Lemmerich. – Rangsdorf: Basilisken-Presse, 2015. – 188 Seiten : Illustrationen. – ISBN 978-3-941365-48-3 : EUR 24.00

Die Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V. ist eine der führenden deutschen Einrichtungen im Bereich der Grundlagenforschung. Sie unterhält heute über achtzig Forschungseinrichtungen in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften mit mehr oder weniger großen, sehr gut ausgestatteten Spezialbibliotheken. 1948 wurde sie als Nachfolgeorganisation der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) gegründet. Letztere hatte ihren Sitz in Berlin und war von 1911 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges Trägerin der Kaiser-Wilhelm-Institute. Gegründet wurden diese Institute mit dem Ziel, der deutschen Wissenschaftselite ein außeruniversitäres Forschungsumfeld ohne Lehrverpflichtungen zu bieten. Sie waren Keimzellen vieler bahnbrechender Forschungsergebnisse und Nobelpreise. Schatten werfen hinsichtlich der Geschichte der KWG und ihrer Institute allerdings nicht nur die Giftgasforschungen am Kaiser-Wilhelm-Institut für Physikalische Chemie und Elektrochemie unter dessen Direktor Fritz Haber in der Zeit des Ersten Weltkrieges, sondern vor allem auch die Verstrickung der Institute in die Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes zwischen 1933 und 1945, allen voran die des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik im Bereich der nationalsozialistischen Rassenforschung.

Die Geschichte der KWG im Nationalsozialismus wurde zwischen 1997 und 2005 von einer Präsidentenkommission der Max-Planck-Gesellschaft aufgearbeitet und über eine Buchreihe und weitere Einzelveröffentlichungen in die Öffentlichkeit getragen.1

Der Autor des vorliegenden Buches, Jost Lemmerich, hat sich nun der Geschichte des Harnack-Hauses gewidmet, das 1929 als Gäste- und Tagungshaus der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in Berlin-Dahlem errichtet wurde. In den 1930er Jahren war es eine Art Clubhaus, in dem Wissenschaftler aus aller Welt übernachten konnten. Es war ein wichtiger Ort der Begegnung und des interdisziplinären Austausches zwischen Wissenschaftlern, Künstlern, Industriellen und Politikern. Das jährliche Veranstaltungsprogramm war vielfältig.

Der 1929 – im Eröffnungsjahr des Harnack-Hauses – geborene Physiker Lemmerich hat zahlreiche wissenschaftshistorische Ausstellungen organisiert, unter anderem Anfang der 1990er Jahre eine Ausstellung zur Geschichte des Forschungsstandortes Berlin-Dahlem. An die Thematik dieser Ausstellung schließt das vorliegende Buch an. Als Einführung stellt er ein Kapitel zur Gründungsgeschichte der KWG einschließlich ihrer Finanzierungs- und Personalstruktur voran. Einem kurzen Kapitel zur Forschung der Kaiser-Wilhelm-Institute im Ersten Weltkrieg folgt ein größerer Abschnitt zur KWG in der Weimarer Republik. Hier erfährt man viel über den ersten Präsidenten, den Theologen Adolf von Harnack, seine enge Zusammenarbeit mit dem langjährigen Generalsekretär Friedrich Glum und auch über das Engagement beider bezüglich der Idee eines internationalen Clubhauses. Nach dem Tod von Harnacks übernahm von 1930 bis 1937 Max Planck die Präsidentschaft.

Tagebuchartig zitiert der Autor nun Jahr für Jahr überlieferte Quellen zur Geschichte des Hauses und verknüpft sie mit kurzen eigenen Texten, ergänzt durch typografisch hervorgehobene Passagen, die die wichtigsten politischen Ereignisse der Zeit auflisten. Man bekommt über die Quellen direkte Informationen zu Bauentwürfen, zur Eröffnung, aber auch zur Bewirtschaftung und nicht zuletzt auch zur Bibliothek des Harnack-Hauses. Letztere wurde betreut vom Ehemann der ersten wirtschaftlichen Leiterin Margarethe Carrière und war eine Präsenzbibliothek für die Gäste mit Standardwerken und Zeitschriftenabonnements.

Lemmerich zeigt schlüssig und akribisch auf, wie sich die Lage für die KWG und damit auch für das Harnack-Haus ab 1933 veränderte. Die Wissenschaftler jüdischer Abstammung wurden vertrieben. Das Haus blieb zwar weiterhin ein wichtiger Ort im Netzwerk von Wissenschaft und Gesellschaft, das Vortragsprogramm des Harnack-Hauses, seine Besucherschaft und seine Ausstattung änderten sich jedoch drastisch. Über die zitierten Quellen, u.a. Briefe von und an Max Planck und Friedrich Glum, bekommt man auch einen Einblick in Anpassung und Bedrängnis des Präsidenten und seines Generalsekretärs. Letzterer wurde 1937 trotz seiner national-konservativen Gesinnung und seiner Zugeständnisse an das Regime zur Kündigung gezwungen.

Der Autor informiert die Leser auch über die Bibliothek: Direkt nach der Machtergreifung wurden nationalsozialistische Bücher und Zeitschriften bestellt, der Buchbestand nach und nach angereichert durch Militaria. Der Bibliothekar Carrière musste sein Amt aufgeben.

Ab 1939 stand die Organisation des Hauses unter dem Einfluss des Krieges. 1945 wurde es schießlich Unterkunft für ausgebombte Mitglieder der Gesellschaft. Die Amerikaner übernahmen das Harnack-Haus nach 1945 und benutzten es als Offiziersclub. Erst nach der Wiedervereinigung Deutschlands wurde es der Max-Planck-Gesellschaft zurückgegeben und zur wissenschaftlichen Tagungs- und Begegnungsstätte umgebaut.

Lemmerich behält bis zum Ende seines Buches – die Quellen werden bis zum Kriegsende 1945 ausgewertet – den erwähnten Tagebuchcharakter bei. Nur im Nachwort reflektiert er die Entwicklung der KWG und des Harnack-Hauses in der NS-Zeit in einigen Sätzen. Nach der Lektüre ist man beeindruckt von der Intensität von Lemmerichs Recherchen und der Vielfalt der angeführten Quellen. Beides geht über bereits erschienene Schriften zum Harnack-Haus hinaus.2 Man bewegt sich durch die Lektüre wie durch eine Ausstellung von Zeittafeln. Doch auch wenn der Autor erwähnt, dass in anderen Veröffentlichungen bereits die Verstrickung der KWG-Mitglieder im Nationalsozialismus wissenschaftlich ausgewertet wurde, vermisst man an einigen Stellen dennoch eine Beurteilung der Handlungsspielräume und der Gesinnung von für das Harnack-Haus entscheidenden Personen wie Friedrich Glum3 und Max Planck.

Man hätte dem Buch auch ein gründlicheres Lektorat gewünscht: An einigen Stellen werden Personen erwähnt, die vorher in ihrer Funktion nicht eingeführt waren; die Passagen, die den historische Kontext herstellen sollen, wirken manchmal etwas willkürlich; ein paar Fehler haben sich eingeschlichen. Dennoch ist ein Buch entstanden, das am Beispiel des Harnack-Hauses ein beachtenswertes Bild der Wissenschaftslandschaft in der Weimarer Republik und im Dritten Reich zeichnet. Dass dies fast ausschließlich anhand vielfältiger Quellen aufgezeigt wird, hat für unser Berufsspektrum einen ganz besonderen Reiz.

Monika Sommerer
Joseph Wulf Mediothek der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz Am Großen Wannsee 56-58, 14109 Berlin
E-Mail: sommerer@ghwk.de

Zitierfähiger Link (DOI): http://dx.doi.org/10.5282/o-bib/2016H3S75-77

1 Siehe www.mpiwg-berlin.mpg.de/KWG/, zuletzt geprüft am 19.07.2016.

3 Bezüglich Glum so geschehen in: Alexandra Przyrembel, Friedrich Glum und Ernst Telschow : die Generalsekretäre der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft: Handlungsfelder und Handlungsoptionen der „Verwaltenden“ von Wissen während des Nationalsozialismus, Ergebnisse 20 (Berlin: MPG, 2004), zuletzt geprüft am 12.09.2016, www.mpiwg-berlin.mpg.de/KWG/Ergebnisse/Ergebnisse20.pdf.