Bibliotheksstrategie und Management

Vom Geschäftsgang zum Prozess

Prozessmanagement in Bibliotheken am Beispiel der Staatsbibliothek zu Berlin

Cornelia Vonhof, Hochschule der Medien, Stuttgart
Eva Haas-Betzwieser, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz

Zusammenfassung:

Der Beitrag skizziert den Weg der Staatsbibliothek zu Berlin bei der Implementierung eines systematischen Prozessmanagements. Basierend auf den Erfahrungen aus einem Pilotprojekt werden Vorgehensweisen und Methoden reflektiert und weiterentwickelt, die sich eignen, in einer großen, arbeitsteiligen Organisation eingesetzt zu werden. Beleuchtet werden Motivationsfaktoren für Prozessmanagement sowie neue Ansätze wie Service Blueprint und Adaptive Case Management, die das klassische Verständnis von Prozessmanagement erweitern.

Summary:

The article outlines the path of the Berlin State Library working towards the implementation of a systematic process management. Based on the experience of a pilot project procedures and methods are reflected and further developed to be suitable for a large, work-sharing organization. Motivating factors for process management as well as new approaches such as Service Blueprint and Adaptive Case Management, that expand the classical understanding of process management, are covered.

Zitierfähiger Link (DOI): http://dx.doi.org/10.5282/o-bib/2015H4S24-33
Autorenidentifikation:
Vonhof, Cornelia: GND 142540056
Schlagwörter:
Staatsbibliothek zu Berlin; Geschäftsprozess; Prozessmanagement; Pilotprojekt; Qualitätsmanagement; Organisationsentwicklung; Service Blueprint; Adaptive Case Management

Die Ausgangslage

Der Weg zu einer effizienten Bibliothek führt unter anderem zu der Frage: „Werden Prozesse laufend identifiziert, gestaltet, gesteuert und verbessert?“ In der Staatsbibliothek zu Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, wurde diese Frage im Rahmen einer Selbstbewertung mit dem Qualitätsbewertungsmodell Common Assessment Framework (CAF) gestellt. Die Bewertungen bestätigten, was die bibliothekarischen Mitglieder einer internen Arbeitsgruppe Geschäftsgänge (AG Geschäftsgänge) bereits seit längerem wahrnahmen: Das fallweise Aktualisieren bestehender und das Erarbeiten neuer bibliothekarischer Geschäftsgänge erwiesen sich mit zunehmender Automatisierung bibliothekarischer Arbeit als nicht mehr zukunftsweisend. Sinnvoller erschien eine flächendeckende Betrachtung der Geschäftsgänge, um die bibliothekarischen Arbeiten in das vernetzte Gefüge der Staatsbibliothek einzuordnen. Die Reflexion dieses Themas führte dazu, dass die AG ein Konzept entwickelte, wie die Geschäftsgänge, künftig Prozesse genannt, in der Staatsbibliothek mit der Methodik des Prozessmanagements dargestellt und analysiert werden könnten. Auf dieser Grundlage beauftragte die Generaldirektorin der Staatsbibliothek die Gruppe im Jahr 2013, die Prozesse in der Zeitungsabteilung als Pilotprojekt zu erheben, darzustellen und zu analysieren. Zielstellung für das Pilotprojekt war, ein Vorgehensmodell für die bibliotheksweite Einführung von Prozessmanagement zu entwickeln.

Das Pilotprojekt

Eine zeitgleiche Übertragung auf alle 16 Abteilungen der Staatsbibliothek hätte schnell scheitern können, da sich die Arbeitsgruppe mit den Elementen des Prozessmanagements zunächst durch Learning by Doing auseinandersetzte. Hingegen erschien es ein gangbarer Weg zu sein, die Methodik des Prozessmanagements zunächst als Pilotprojekt in einer Abteilung einzusetzen. Mit dem Pilotprojekt konnte getestet werden, welche Schritte notwendig sein würden, um Aussagen über die Prozesse treffen zu können, und wie die Betroffenen dabei mit einbezogen werden könnten.

Die Zeitungsabteilung wiederum bot sich für die Pilotanwendung an, da dort

alle wesentlichen bibliothekarischen Prozesse wahrgenommen werden,

die Abteilung mit etwa 15 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine überschaubare Größe aufwies,

der bevorstehende Rückumzug in eines der Haupthäuser der Staatsbibliothek neue Anforderungen an die Prozesse stellte und

die Abteilung die Auswirkung von zunehmender Projektarbeit auf die Wahrnehmung von Daueraufgaben spürte.

Geplant war, die Pilotphase innerhalb eines Jahres durchzuführen; geworden sind daraus fast zwei Jahre. Denn der Ablauf erwies sich als aufwendiger als gedacht und die Arbeitsgruppenmitglieder, die die Projektarbeit neben ihren Daueraufgaben bewältigten, konnten nicht immer so intensiv, wie es wünschenswert gewesen wäre, an dem Thema arbeiten.

Der Ablauf

Sieben Schritte waren notwendig, um das Pilotprojekt vorzubereiten, durchzuführen und zu bewerten.

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1. Dokumente sichten

In dieser Phase galt es zu ermitteln, welche Geschäftsgangspapiere, Regelungen oder Arbeitsanweisungen bereits vorhanden waren. Gleichzeitig waren die wichtigsten Kernprozesse der Zeitungsabteilung zu identifizieren.

2. Prozesse erheben

Die Arbeitsgruppe entschied, die Prozesse mittels Interviews ausgewählter, mit den Geschäftsgängen der Abteilung vertrauter, Personen zu erheben. Zwei Mitglieder der Arbeitsgruppe nahmen anhand eines Interviewleitfadens gemeinsam jeden Prozess vom auslösenden Ereignis bis zum Ergebnis auf. Mit Hilfe der interviewten Mitarbeitenden zerlegten sie ihn in einzelne Prozessschritte und notierten, wie viele Stellen jeweils zu dem Ergebnis beitragen und wie diese zusammen arbeiten. In vertrauensvoller Atmosphäre gelang es ihnen mit dieser Methode, gleichzeitig Schwachstellen und Verbesserungsbereiche herauszuarbeiten.

3. Prozesse darstellen

Zwei weitere Arbeitsgruppenmitglieder visualisierten anhand der Interviewnotizen die Prozesse mit dem Softwaretool Microsoft Visio. Sie bedienten sich dabei der Standardsymbole zur Geschäftsprozessmodellierung, reduzierten allerdings deren Vielfalt zur besseren Vermittlung der Darstellung.

4. Prozessdarstellung abstimmen

Um sicherzugehen, dass die Arbeitsgruppe die Prozesse richtig aufgenommen, dargestellt und verstanden hatte, wurden alle Visualisierungen den interviewten Mitarbeitenden nochmals vorgelegt, erläutert und mit ihnen abgestimmt.

5. Prozesse analysieren und optimieren

An der Analyse der Prozesse, die mit Vertreterinnen und Vertretern der Zeitungsabteilung durchgeführt wurde, beteiligte sich die gesamte Arbeitsgruppe. Hierfür bediente sich die Arbeitsgruppe der Methodik Aufgabenkritik. Hinterfragt wurden Zweck und Vollzug der einzelnen Prozessschritte. Das Ergebnis war ein Katalog, gegliedert nach den Arbeitsbereichen Benutzung, Bestandsaufbau, Vermittlung und Bestandspflege, von 29 Maßnahmen, die empfohlen wurden, um Abläufe in der Zeitungsabteilung zu verbessern.

6. Pilot bewerten und Roll-out-Planung

Für die Bewertung des Vorgehens im Pilotprojekt entschied sich die Arbeitsgruppe dafür, den Blickwinkel zu weiten und eine Außensicht mit Beratung in Anspruch zu nehmen. Hatte sich die Arbeitsgruppe zunächst überwiegend durch Literaturstudium das erforderliche Wissen zum Prozessmanagement angeeignet und danach gehandelt, so konnte sie nun ihr Vorgehen im Rahmen eines zweitägigen Workshops reflektieren, die eingesetzten Methoden weiterentwickeln und neue Methoden kennenlernen. Aus diesem neuen Wissen schöpfend, entstand eine Planung zu der Frage, wie das Prozessmanagement auf die gesamte Staatsbibliothek ausgeweitet werden könne.

7. Information und Kommunikation

Wichtig für den Erfolg des Pilotprojekts war ein dauerhafter Austausch mit den beteiligten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Vertreterinnen der Arbeitsgruppe informierten vor der eigentlichen Erhebung die Beschäftigten der Zeitungsabteilung sowie Personalrat und Gleichstellungsbeauftragte über Prozessmanagement als Methode und das geplante Vorgehen in der Zeitungsabteilung. Die Abteilungsleitung war selbst eng in die Aktivitäten der Arbeitsgruppe eingebunden und konnte so in Dienstbesprechungen regelmäßig über Aktuelles aus der Gruppe berichten. Die Ergebnisse wurden zum Abschluss des Projekts wiederum in einer Informationsveranstaltung erläutert.

Motivationsfaktoren für Prozessmanagement

Blickt man auf das Prozessmanagementprojekt der Staatsbibliothek, so lässt sich eine Reihe von Motivationsfaktoren identifizieren, die in ähnlicher Weise auch in anderen Bibliotheken zu finden sind, die sich mit Prozessmanagement auseinandersetzen. Als zentraler Impuls ist der Einstieg in ein systematisches Qualitätsmanagement zu nennen. Denn: Prozesse zu identifizieren, zu dokumentieren, zu gestalten und kontinuierlich weiterzuentwickeln, das ist eine zentrale Anforderung aller Qualitätsmanagementmodelle, seien es die Normenreihe DIN EN ISO 9000 oder Modelle wie EFQM (European Foundation for Quality Management)1, CAF (Common Assessment Framework)2 und die Ausgezeichnete Bibliothek3. Der Einsatz von Qualitätsmanagement zieht also zwangsläufig ein systematisches Prozessmanagement nach sich. Ein weiterer Impuls ergibt sich aus Projekten zur Organisationsentwicklung und Organisationsoptimierung. So machen technische Entwicklungen wie die Einführung von RFID oder die Automatisierung der Erwerbung, aber auch organisatorische Veränderungen wie zum Beispiel die räumliche Zusammenlegung von Standorten, Veränderungen innerbetrieblicher Strukturen oder das Angebot neuer Services ein strukturiertes Nachdenken über bestehende Prozesse notwendig. Mit dem Stichwort Wissens- und Dokumentenmanagement sei ein letzter Motivationsfaktor genannt, der zunehmend Bedeutung gewinnt. Angesichts des demografischen Wandels einerseits und der zunehmenden Beschäftigung von befristeten Projektmitarbeitenden andererseits sieht sich die Staatsbibliothek – wie viele andere Bibliotheken – der Herausforderung gegenüber, das Wissen der Mitarbeitenden, die die Bibliothek verlassen, zu dokumentieren. Das Wissen steckt in den Köpfen der Mitarbeitenden, es ist aber zugleich eng verknüpft mit den Prozessen, in denen sie gearbeitet haben. Denn – ob bewusst gestaltet oder nicht – die tägliche Arbeit erfolgt in Prozessen. Das implizite Wissen zumindest in Teilen explizit und damit dokumentierbar zu machen und zugleich eine Struktur zu schaffen, in der diese Dokumente dann fast intuitiv auffindbar sind, das ist eine weitere Motivation, um sich dem Thema Prozessmanagement zu stellen.

Prozessmanagement als Kreislauf – ein Vorgehensmodell in vier Phasen

Zwar wird der Einstieg ins Prozessmanagement von vielen Bibliotheken als Projekt aufgesetzt; klar ist aber, dass es keine einmalige Kraftanstrengung ist, sondern ein Organisationsinstrument, das die Arbeit dauerhaft begleiten sollte. Ein Vorgehensmodell, das sowohl die Projekt- und Pilotphase strukturiert, als auch Leitplanken für die laufende Prozessarbeit bietet, ist daher hilfreich. Bewährt hat sich ein Vorgehen in vier Phasen nach dem folgenden Modell:

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Wie in jedem Projekt kommt der Phase 1 Prozessarbeit vorbereiten entscheidende Bedeutung zu. Hier werden die Weichen gestellt, für die Akzeptanz des Projektes und der Methode insgesamt. Zentrale Aufgabe dieser Phase ist die Auswahl der zu untersuchenden Prozesse. Dies verweist darauf, dass es weder sinnvoll noch notwendig ist, eine vollständige Erfassung aller Prozesse der Organisation anzustreben. Je nach angestrebtem Ziel ist die Frage, welche Auswahl der zu untersuchenden Prozesse den größten Nutzen stiftet, unterschiedlich zu beantworten. Voraussetzung für diese Auswahl ist ein Überblick über die Prozesse der Bibliothek. Dieser wird durch eine sogenannte Prozesslandkarte geschaffen.

Die Phasen 2 und 3 des Vorgehensmodells weisen in der Praxis fließende Übergänge auf. In diesen Phasen werden unter anderem Methoden wie die oben dargestellten (Dokumentenanalyse, Interviews, grafische Dokumentation) eingesetzt. Die Implementierung der Soll-Prozesse (Phase 4) umfasst auch deren kritische Evaluation und eine eventuell erforderliche Nachjustierung. So führt der skizzierte Kreislauf zu einem kontinuierlichen Reflexionsprozess darüber, ob und wo weiteres Verbesserungspotenzial erkennbar ist. Treibende Kräfte dabei sind die Prozessteams aus Mitarbeitenden gemeinsam mit den Prozessverantwortlichen.

Vom Pilotprojekt zum flächendeckenden Prozessmanagement

Der zweitägige Workshop mit externer Begleitung, der den Übergang vom Pilotprojekt Prozesse in der Zeitungsabteilung zur Implementierung eines flächendeckenden Prozessmanagements markierte, orientierte sich am vorgestellten Vorgehensmodell und reflektierte die bisher in der Staatsbibliothek eingesetzten Methoden, präsentierte neue Methoden und führte die unterschiedlichen Instrumente und Ansätze zu einem auf die Staatsbibliothek zugeschnittenen Werkzeugkoffer und Vorgehenskonzept zusammen. Ein wesentliche Rolle spielte die Entwicklung der Prozesslandkarte der Staatsbibliothek. Ausgehend von der generischen Grundstruktur einer Prozesslandkarte (Abb. 3) wurden Prozesse der Staatsbibliothek identifiziert und priorisiert (Abb. 4).

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Als Ergebnis des Workshops liegt eine verabschiedete Prozesslandkarte vor, die Kernprozesse, Managementprozesse und Unterstützungsprozesse dokumentiert (Abb. 5).

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Um entscheiden zu können, welche Prozesse bevorzugt zu betrachten sind, werden diese priorisiert. Eine hohe Priorität wird beispielsweise erreicht, wenn der Prozess besonders wichtig für die Bibliothek ist, durch eine Optimierung Effizienzgewinne zu erwarten sind und Veränderungen mit geringem Aufwand realisiert werden können.

Weitere Ergebnisse des Workshops waren die Festlegung organisatorischer Rahmenbedingungen für die weitere Prozessarbeit sowie der Entwurf eines Vorgehenskonzepts.

Die organisatorischen Rahmenbedingungen legen fest, dass die Prozessbetrachtungen in der Staatsbibliothek künftig von einem Lenkungsgremium Prozessmanagement begleitet werden, in dem die Generaldirektion, die AG Geschäftsgänge und die Abteilungen, die gerade untersucht werden, vertreten sind.

Das Vorgehenskonzept für die Prozessbetrachtung sieht ein Vorgehen in vier Phasen und 11 Schritten vor:

Phase I. Prozessarbeit vorbereiten

1. Die Generaldirektion beauftragt eine Prozessbetrachtung und benennt ein oder mehrere Mitglieder der AG Geschäftsgänge, die das Projekt begleiten werden.

2. Die zuständigen Mitglieder der AG Geschäftsgänge bereiten mit der Abteilungsleitung das Vorgehen vor. Unter anderem werden, abhängig von der Größe der Abteilung, ein Prozessteam oder Prozessverantwortliche aus der Abteilung bestimmt, die die abteilungsinternen Vorbereitungen übernehmen. Mit Hilfe der AG Geschäftsgänge erstellen sie die Maßnahmen- und Zeitplanung und beschreiben die einzusetzende Methode.

3. Rechtzeitig vor dem Start der Erhebungen sind die Beschäftigten, am besten in Form einer Veranstaltung, zu informieren und mögliche Hinweise aus dem Kreis in das Vorgehenskonzept zu integrieren.

4. Die Prozessverantwortlichen werden entweder durch die Mitglieder der AG Geschäftsgänge oder durch Externe in die Methodik des Prozessmanagements eingeführt und in den in der Abteilung anzuwendenden Instrumenten geschult.

Phase II. Prozesse erheben und analysieren

5. Nachdem sie sich auf eine Methodik der Erhebung geeinigt haben, nehmen die Prozessteams bzw. Prozessverantwortlichen eigenständig die Prozessschritte der zu betrachtenden Geschäftsgänge auf.

Phase III. Prozessgestaltung

6. Bei der Analyse wird die Abteilung wiederum durch die AG Geschäftsgänge unterstützt. Als Ergebnis wird der Entwurf eines Soll-Prozesses erwartet. Möglich ist auch ein Maßnahmenplan, der aufzeigt, wie Verbesserungen erreicht werden können.

7. Alle Verbesserungsvorschläge sind in enger Abstimmung mit den Prozessverantwortlichen zu formulieren.

Phase IV. Umsetzung und Controlling

8. Die Generaldirektion entscheidet auf der Grundlage einer Empfehlung durch die Mitglieder des Lenkungsgremiums „Prozessmanagement“ über das weitere Vorgehen. Sie prüft, inwieweit Beteiligungsrechte der Beschäftigtenvertretungen berührt werden.

9. Für die Umsetzung ist die betroffene Abteilung verantwortlich. Sie erstellt hierzu einen Zeit- und Maßnahmenplan.

10. Zum Abschluss der eigentlichen Erhebung sind wiederum alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des untersuchten Bereichs zu informieren.

11. Regelmäßig wird die AG Geschäftsgänge das Vorgehen bei den einzelnen Prozessbetrachtungen evaluieren.

Der Ausblick: Service Blueprint und Adaptive Case Management

Durchaus zu Recht monieren Kritiker, die Methode Prozessmanagement würde den Blick auf den organisationalen Bauchnabel richten.

2015-01-23 11

Damit bestehe die Gefahr, dass die Kundinnen und Kunden zwar als Auftraggeber/innen und Empfänger/innen der Prozessleistungen berücksichtigt, aber bei der Betrachtung des Prozessablaufs selbst ausgeblendet würden. Genau hier setzt die Methode des Service Blueprinting an, in der nicht nur die interne Seite des Prozesses, also die Sicht des Prozessteams auf den eigenen Arbeitsablauf, sondern auch die Sicht der Kundinnen und Kunden erfasst wird. So werden die kritischen Punkte in einem Prozess, an denen es zu einer direkten Interaktion von Kund/inn/en und Bibliothek kommt, in den Blick genommen. Die Prozessdokumentation zeichnet nicht nur die einzelnen Tätigkeiten nach, sondern zeigt zudem, welche Prozessschritte für die Kundin oder den Kunden sichtbar sind und welche nicht (Line of Visibility), in welchen Punkten sie/er in die Dienstleistungserstellung einbezogen ist (Line of Interaction) und was für sie/ihn unsichtbar hinter den Kulissen im Back-Office stattfindet (Line of Internal Interaction). Der Wert dieses Perspektivenwechsels, bzw. dieser Perspektivenerweiterung, den diese Methode gegenüber einer klassischen Prozessdokumentation bietet, liegt darin, sichtbar werden zu lassen, was Kundinnen und Kunden im Kontakt mit der Dienstleisterin Bibliothek sehen und erleben und wo Kundenwahrnehmungen entstehen, die die Kundenzufriedenheit beeinflussen.

Eine weitere Begrenzung des klassischen Prozessmanagements liegt in seiner Fokussierung auf stark strukturierte Prozesse. Das sind solche Prozesse, in denen jede Realisierung – also jeder einzelne Vorgang oder Fall – standardisiert, nach immer dem gleichen Muster abläuft. Solche Prozesse haben ein definiertes Start-Ereignis, ein definiertes End-Ereignis und dazwischen folgt der Prozess einem vordefinierten Pfad und ist oft stark technisch unterstützt. Für viele Prozesse ist diese Standardisierung und damit das Erzielen eines hohen Maßes an Effizienz, Verlässlichkeit und Routine das angestrebte Ziel. Für solche Prozesse eignet sich das klassische Prozessmanagement hervorragend. Daneben gibt es aber – gerade auch in wissensintensiven Branchen, zu denen auch Bibliotheken gehören – viele schwach strukturierte Prozesse. Hier ist eine vollständige Modellierung in der Regel nicht möglich und auch nicht sinnvoll. Als Beispiele für solche schwach strukturierten Prozesse mögen dienen: der Umgang mit komplexen Kundenbeschwerden oder Auskunfts- und Beratungsfragen, aber auch strategische Prozesse wie Zielplanung oder Budgetverhandlungen. Das Ziel solcher Prozesse ist zu Beginn oft nicht exakt bestimmt, sondern wird im Verlauf ausgehandelt. Der Ausführungspfad ist daher nicht vordefiniert, sondern besteht aus bekannten und unbekannten Bausteinen, die in der jeweiligen Situation – im jeweiligen Fall – neu zusammengesetzt werden müssen. Der Fall entwickelt sich basierend auf Informationen, auf die die Mitarbeitenden zugreifen müssen, oder die teilweise erst im Ablauf selbst erzeugt werden. Mit diesen wird dann weitergearbeitet und so kann sich der jeweilige Fall in eine unvorhergesehene Richtung entwickeln. Dennoch unterliegen auch schwach strukturierte Prozesse Regeln. Bestimmte Tätigkeiten sind zwingend abzuarbeiten und manche Teile eines solchen Prozesses können sogar sehr exakt standardisiert und definiert sein.

Der noch ganz neue Ansatz des Adaptive Case Management (ACM)4 setzt an dieser Stelle an und versucht, dem Fallcharakter dieser Prozesse gerecht zu werden. Das heißt: Wo eine Vorstrukturierung durch eine Prozessmodellierung nicht möglich ist, werden die Wissensarbeiterinnen und Wissensarbeiter in die Lage versetzt, auf bereits bewährte Vorgehensweisen, grundsätzlich abzuarbeitende Prozessschritte, festgelegte Regeln, Checklisten und sonstige Wissensdokumente zurückzugreifen. Dort wo sie neue Wissensartefakte erzeugen, werden diese für weitere Fälle dokumentiert, ebenso wie der im jeweiligen Fall gewählte Weg. Wo in Teilprozessen jedoch eine Modellierung möglich ist, erfolgt diese. Adaptive Case Management stellt damit in noch deutlich höherem Maße als das klassische Prozessmanagement den Bezug zum Wissensmanagement her, da die Wissensbasis ständig gezielt erweitert und an die sich verändernde Realität angepasst wird. ACM und klassisches Prozessmanagement sind damit keine Alternativen und keine konkurrierenden Ansätze, sondern sie ergänzen sich. Sie greifen auf, dass die Arbeit in Bibliotheken in Prozessen mit unterschiedlichem Strukturierungsgrad stattfindet und dass daher skalierbares Handwerkszeug notwendig ist. Für die Staatsbibliothek werden diese neuen Ansätze die nächsten Schritte auf der Prozessmanagement-Reise sein.

Literaturverzeichnis

Swenson, Keith D.: Mastering the unpredictable. How adaptive case management will revolutionize the way that knowledge workers get things done. Tampa, Fla.: Meghan-Kiffer Press, 2010.

1 Weiterführende Informationen: http://www.efqm.org/ (23.10.2015).

3 Weiterführende Informationen: https://www.hdm-stuttgart.de/bi/forschung/iqo/ab (23.10.2015).

4 Grundlegend dazu: Swenson, Keith D.: Mastering the unpredictable. How adaptive case management will revolutionize the way that knowledge workers get things done. Tampa, Fla.: Meghan-Kiffer Press, 2010.