Tagungsberichte

„Strategic Partnerships for Access and Discovery“

36. IATUL-Konferenz in Hannover

In einer Zeit immer schneller wachsender Informationsmengen ist es längst nicht trivial, die den eigenen Bedürfnissen entsprechenden Informationen zu identifizieren und darauf auch tatsächlich zugreifen zu können. Dabei stellt die Rezeption der Veröffentlichungen Anderer eine Grundvoraussetzung jedes wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses dar. Im Zuge der Veränderung wissenschaftlicher Kommunikationsprozesse werden auch wissenschaftliche Bibliotheken vor neue Herausforderungen gestellt. Die weltweite Vernetzung erfordert daher auch internationale Kooperationen im Hinblick auf die Bereitstellung und die Verfügbarkeit wissenschaftlich relevanter Informationen. Genau diese strategische Zusammenarbeit war Gegenstand der 36. IATUL-Konferenz1, die vom 5. bis zum 9. Juli in Hannover stattfand.

Die im Mai 1955 als International Association of Technological University Libraries (IATUL) gegründete Organisation hat sich im Laufe ihrer 60-jährigen Geschichte erfolgreich entwickelt. Der ursprüngliche Fokus auf technische Studiengänge wurde in Anbetracht des zunehmenden Ausbaus technischer Universitäten und der steigenden Interdisziplinarität von Forschungsprojekten schrittweise erweitert. Mittlerweile hat sich IATUL für das gesamte Fächerspektrum geöffnet und vereint seit 2014 als „International Association of University Libraries“ nunmehr 323 wissenschaftliche Bibliotheken aller Fachrichtungen unter einem Dach. Die jährlich stattfindenden Konferenzen sind dabei bewusst nicht als Massenveranstaltungen konzipiert. Die internationale Zusammensetzung der Konferenzteilnehmer/innen und Vortragenden in Verbindung mit einem hohen Anteil an Entscheidungsträger/inne/n – die Mitgliedsbibliotheken sind i.d.R. durch die jeweiligen Direktor/inn/en bzw. Abteilungsleiter/innen vertreten – eröffnet die Möglichkeit, Probleme des bibliothekarischen Alltags und der strategischen Steuerung gleichermaßen zu thematisieren.

Auditorium

Abb. 1: Auditorium, Foto von TIB/EUROMEDIAHOUSE, CC BY 4.0

Dabei profitieren die Teilnehmerinnen und Teilnehmer von der Heterogenität der eingebrachten Erfahrungen und Problemstellungen und haben gleichzeitig die Chance, Impulse für Veränderungen in ihrem jeweiligen Verantwortungsbereich direkt anzustoßen.

Auditorium II

Abb. 2: Auditorium II, Foto von TIB/EUROMEDIAHOUSE, CC BY 4.0

An der diesjährigen – durch die TIB Hannover ausgerichteten – 36. IATUL-Konferenz nahmen 200 Besucherinnen und Besucher aus 42 Ländern teil. Die damit einhergehende Teilnehmervielfalt spiegelte sich auch im breiten Spektrum der in den unterschiedlichen Sessions behandelten Themen wider: Die Bandbreite reichte von Open Science und neuen Formen der Wissenschaftskommunikation über Digitalisierung, Langzeitarchivierung und die Gestaltung (flexibler) Bibliotheksräume bis hin zum strategischen Management von Bibliotheken und Neuerungen im Bereich Informationskompetenz.2

Martin Hofmann-Apitius

Abb. 3: Martin Hofmann-Apitius, Foto von TIB/EUROMEDIAHOUSE, CC BY 4.0

Wie (lebens-)wichtig es sein kann, Informationen zu entdecken und nutzbar zu machen, zeigte z.B. Martin Hofmann-Apitius vom Fraunhofer-Institut für Algorithmen und Wissenschaftliches Rechnen SCAI in seinem Vortrag an einem Beispiel aus dem medizinischen Alltag: Für Krebspatient/inn/en ist der Therapieerfolg die einzige Chance zu überleben. Die Herausforderung besteht dabei darin, eine optimale Therapie zu finden. Da jede Krebserkrankung anders ist, kann die Genombestimmung der Krebszellen als Grundlage für eine maßgeschneiderte Krebstherapie genutzt werden. Die Erschließung und Analyse großer Datenmengen mit Methoden des Text- und Data-Mining ist in diesem Fall die einzige Möglichkeit, alle potentiell relevanten Informationen in die Diagnose einzubeziehen und auszuwerten. Auf diese Weise können die behandelnden Ärztinnen und Ärzte in ihrem Entscheidungsprozess bestmöglich unterstützt werden. Diese zielorientierte Analyse umfangreicher Text- und Datenmengen und der dahinter stehende Prozess der Wissensgenerierung stellt ein noch junges aber sehr dynamisches Forschungsfeld dar (siehe Abb. 4).

Text Mining

Abb. 4: Text Mining, Foto von TIB, CC BY 4.0

Grundlage dafür ist jedoch der offene Zugang bzw. die Verfügbarkeit von Forschungsergebnissen. Diese ist allerdings nur bei einer entsprechenden Öffnung von Wissenschaft und Forschung gegeben. Dabei sind die gegenwärtigen Open-Access-Bestrebungen für wissenschaftliche Publikationen in den unterschiedlichen Fachbereichen erst ein Anfang. Auch die Publikation und Nachnutzung von Forschungsdaten spielt eine immer größere Rolle. Wie diese Entwicklung wissenschaftspolitisch gefördert wird, zeigte José Cotta, Head of Unit for Digital Science der Europäischen Union, anhand des europäischen Rahmenprogramms zur Förderung von Open Science auf.

José Cotta

Abb. 5: José Cotta, Foto von TIB/EUROMEDIAHOUSE, CC BY 4.0

Eine solche Veränderung wissenschaft­licher Kommunikationsprozesse eröffnet den Bibliotheken die Chance, in einen stärkeren Dialog mit ihren Nutzerinnen und Nutzern zu treten und gleichzeitig ihre Erwerbungsstrategien zu überdenken (siehe Abb. 6).

Open Science

Abb. 6: Open Science, Foto von TIB, CC BY 4.0

Ein Schwerpunkt der Vorträge lag deshalb auf der Zusammenarbeit bzw. dem Kontakt wissenschaftlicher Bibliotheken mit den Produzent/inn/en und Nutzer/inne/n wissenschaftlicher Informationen. Dabei ging es um die Auffindbarkeit und Darstellung sowie die damit einhergehende Bewertung von Forschungsleistungen ebenso wie um die Entwicklung neuer Aufgaben für Bibliothekarinnen und Bibliothekare im Zusammenhang mit der Informationsbereitstellung und -vermittlung. So ersetzen an der Nanyang Technological University in Singapur mittlerweile Blogbeiträge der Studierenden die bisher üblichen Semesterarbeiten. Die dafür notwendige Infrastruktur wird von der New Media Group der Bibliothek entwickelt und bereitgestellt („Blogs as a Service“). Ebenso interessant ist der Ansatz, dass Bibliotheken technologische Neuerungen nicht nur reaktiv nachvollziehen, sondern ihren Nutzerinnen und Nutzern das Ausprobieren neuer Technologien in einem frühen Entwicklungsstadium proaktiv anbieten. Auf diese Weise können Bibliotheken den Kontakt zu ihren Nutzerinnen und Nutzern intensivieren und sich als innovative Dienstleister profilieren. So stellt z.B. die Radcliffe Science Library der Oxford University ihren Studierenden und wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einen 3D-Drucker inklusive Scanner zur Verfügung. Für die nahe Zukunft wird über den Einsatz von Augmented-Reality-Technologien nachgedacht.

Einen weiteren wichtigen Impuls setzte Prof. Wolf-Tilo Balke vom Institut für Informationssysteme der Technischen Universität Braunschweig in seiner Keynote-Lecture.

Wolf-Tilo Balke

Abb. 7: Wolf-Tilo Balke, Foto von TIB, CC BY 4.0

Der Computerwissenschaftler erläuterte wesentliche Aspekte zu Anfragen an Suchmaschinen, lernender Software und Indexierung von Daten. Darüber hinaus betonte er die Notwendigkeit der Zusammenarbeit und gemeinsamen Forschung von Bibliotheken und Informatiker/innen, um die anstehenden Herausforderungen zu meistern. In einer lebendigen Podiumsdiskussion wurden diese und andere Probleme der Informationsbereitstellung in Anbetracht der gegenwärtig zu beobachtenden vielfältigen gesellschaftlichen, politischen und technologischen Veränderungsprozesse intensiv erörtert.

Der mit 500 € dotierte Preis für das beste Poster ging nach Lettland, an die RTU Scientific Library, für die überzeugende Darstellung der Koordination wissenschaftlicher Bibliotheken in einem Land, dessen Forschungsinfrastruktur noch im Aufbau begriffen ist.3

Aija Janbicka

Abb. 8 Aija Janbicka, Foto von TIB, CC BY 4.0

Über die jährlich stattfindenden Konferenzen hinaus unterstützt IATUL die Kooperation und Vernetzung der Mitglieder untereinander im Rahmen von Reisestipendien und Zuwendungen für gemeinsame Projekte und durch die Vereinbarung von länderübergreifenden Partnerschaften.

In den Pausen gab es vielfältige Gelegenheiten zum Erfahrungsaustausch mit Kolleginnen und
Kollegen, Vertreterinnen und Vertretern von Fachorganisationen oder Verlagen sowie die Möglichkeit zu einem gemeinsamen Spaziergang durch den Stadtpark Hannover. Dabei zeigte sich, dass auch in einer hoch vernetzten, zunehmend virtuellen Welt der persönliche Kontakt eine entscheidende Rolle spielt.

HAB Wolfenbüttel

Abb. 9: HAB Wolfenbüttel, Foto von TIB, CC BY 4.0

Die Vernetzung bibliothekarischer Entscheidungsträger/innen über Themen und Landesgrenzen hinweg fand ihre Fortsetzung in einem gemeinsamen Ausflugstag, der die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in die Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel und in die VW-Autostadt Wolfsburg führte.

Die unmittelbare Begegnung mit bibliothekarischen Schätzen und den Anfängen ihrer Verzeichnung sowie die daran anschließende Führung durch die Produktionsstätte eines internationalen Automobilkonzerns boten differenzierte Einblicke in die Kultur und Industriestruktur des Gastgeberlandes. Gleichzeitig konnte die im VW-Werk so eindrucksvoll demonstrierte effiziente Ausgestaltung von Fertigungsprozessen als Modell für die auch im Bibliothekswesen immer stärker geforderte just-in-time-Bereitstellung von Informationen dienen. Darüber hinaus bot der Ausflugstag aber auch Gelegenheit, kulturelle Unterschiede – in der Aufnahme und Bewertung von Informationen sowie darüber hinaus – zu entdecken und anzunehmen.

Das Fazit nach fünf intensiven Konferenztagen zog IATUL-Präsident Reiner Kallenborn mit den Worten Henry Fords: „Coming together is a beginning; keeping together is progress; working together is success.”

In diesem Sinne ist allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der IATUL-Konferenz zu wünschen, dass die seit nunmehr 60 Jahren bestehenden Kontakte sich nicht nur auf den alljährlichen Erfahrungsaustausch beschränken, sondern in möglichst vielen weiteren gemeinsamen Projekten und Aktivitäten münden. Projektfortschritte oder mögliche Folgeprojekte könnten dann Gesprächsthemen der nächsten Konferenz sein, die im Juni 2016 in Halifax, Canada stattfinden wird.

Zum 60. Geburtstag gratulieren drei Referendarinnen, die diesen internationalen Erfahrungsaustausch erstmals live erleben konnten.

Dana Vosberg, Referendarin TIB/UB Hannover

Johannna Hickmann, Referendarin TU Braunschweig

Jana Mersmann, Referendarin TU Braunschweig

Zitierfähiger Link (DOI): http://dx.doi.org/10.5282/o-bib/2015H3S89-95

Fußnoten

1 http://www.iatulconference2015.org/ (07.09.2015).

2 Für einen ausführlichen Überblick über das Konferenzprogramm und die einzelnen Vortragsthemen inklusive Abstracts bzw. Folienpräsentationen siehe http://www.iatulconference2015.org/programme (01.09.2015).

3 Zu diesem und allen anderen vorgestellten Postern siehe
http://www.iatulconference2015.org/programme/list-of-posters (01.09.2015).