Diskussionsbeiträge

Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie!

Ein Plädoyer für mehr Theorie in der Bibliotheksarbeit

Ulla Wimmer, Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft, Humboldt Universität zu Berlin

Zusammenfassung:

Der Beitrag beruht auf einem Kongressbeitrag im Rahmen des 104. Deutschen Bibliothekartags in Nürnberg 2015. Die Autorin beschreibt aus ihrer berufsbiografischen Perspektive das Verhältnis von Theorie, Forschung und Praxis als Generatoren für Innovationen im Bibliothekswesen. Sie plädiert für die Stärkung der theoretischen Reflexion im Bibliothekswesen und behandelt dabei Fragen wie das Verhältnis von Praxisgestaltung vs. Reflexion über gängige Praxis, von Grundlagenforschung vs. „Best Practice“ und von Praxisorientierung vs. Innovation.

Summary:

This paper is based on a talk given at the 104th German “Bibliothekartag” in Nuremberg, 2015. Based on her professional background as a librarian, consultant and recently as a researcher, the author describes, from a personal point of view, the relationship and value of theory, research and practice when creating innovation in libraries and in library and information science. She argues for a stronger use of theory and research in library practice and touches on subjects such as fitness for practice vs. key skills, best practice vs. basic research, support of current practices vs. innovation.

Zitierfähiger Link (DOI): http://dx.doi.org/10.5282/o-bib/2015H3S81-88

Autorenidentifikation: Wimmer, Ulla: GND 171435230

Mit diesem Vortrag1 möchte ich eine Lanze brechen für mehr Theorie und Wissenschaft in der Bibliotheksarbeit. Das Thema unserer Session lautet: Wie kommt das Neue in die Bibliothek? Ich bin der festen Überzeugung, dass gute Praxis nicht reicht, um Neues zu schaffen, sondern dass man dafür „praxisferne“ Theorien und Forschung braucht. Ich plädiere dafür, gute Alltagsarbeit und gute Theorie anzuerkennen als zwei Handlungsformen, die sich gegenseitig brauchen, wenn es darum geht, etwas Neues zu schaffen und innovativ zu sein.

Warum? Weil eine gute, womöglich neue, Erklärung für ein Alltagsproblem – für das, was gerade in der Praxis vor sich geht – schlagartig den Blick auf das Problem verändern kann, und damit die Tür öffnen kann für eine Lösung, die vorher überhaupt nicht im Bereich des Möglichen war. Oder weil sie dafür sorgt, dass das Problem sich in Luft auflöst, also gar keins mehr ist, sondern ein normaler Einflussfaktor, mit dem man umgehen muss und kann.

Sie werden jetzt sagen: Die Frau arbeitet an der Uni, die muss das sagen. Die muss Theorie, Wissenschaft und Forschung verteidigen, denn das ist ihr Broterwerb und ihr Daseinsgrund. Das stimmt – aber tatsächlich ist die Kausalität in meinem Fall umgekehrt: Nicht, weil ich an der Universität arbeite, finde ich Theorie und Forschung wichtig, sondern im Gegenteil – weil ich Theorien in meiner Praxis als so außerordentlich hilfreich erfahren habe, arbeite ich seit knapp drei Jahren an der Hochschule. Ich habe insgesamt 18 Jahre für Bibliotheken gearbeitet (also in Projektmanagement, Verbandsarbeit, Entwicklung, Fortbildung), drei Jahre in einer Bibliothek, und erst die letzten drei Jahre an der Universität. Und die eigentliche Idee, das Anliegen und der Impetus für diesen Vortrag, sind entstanden während der drei Jahre, in denen ich in einer Bibliothek gearbeitet habe, also in der Zeit, in der ich tatsächlich zu einhundert Prozent praktische Bibliotheks-Alltagsarbeit gemacht habe. Genau in dieser Zeit wurde mir klar, wie wichtig Theorie ist.

Mitte der 1990er Jahre kam im kommunalen Bereich das „New Public Management“ auf. Ich bin als Angestellte des DBI durch die Lande gereist und habe Kolleginnen und Kollegen in Öffentlichen Bibliotheken die Theorie des strategischen Controllings vermittelt: Ein Mission-Statement für die Bibliothek formulieren. Daraus langfristige Grobziele ableiten. Daraus messbare mittelfristige Ziele formulieren, z.B. für einen 5-Jahres-Zeitraum. An dieser Stelle: Belustigung der Kolleginnen und Kollegen in den „neuen Bundesländern“, gemeinsames Schmunzeln über das vermeintlich „neue“ Managementdenken. Immer wieder hatte ich das Gefühl, hier relativ abgehobene Theorie zu vermitteln angesichts der Umbrüche, mit denen die Kolleginnen und Kollegen zu dieser Zeit zu kämpfen hatten. Dann, einige Jahre später, gab es in „meiner“ Bibliothek, in der ich dann tätig war, folgende Situation: Ich habe relativ viele Auskunftsdienste gemacht. Jeden Tag, wenn ich an den Auskunftsplatz kam, habe ich den Monitor zur Seite geschoben und alles Material vom Auskunftsplatz entfernt, um die Nutzerinnen und Nutzer, die vor mir saßen, besser sehen zu können. Jedes Mal, wenn mich ein Kollege abgelöst hat, schob er den Monitor wieder zurück und baute das Auskunftsmaterial wieder auf. In meinen Auskunftsdiensten wurde die dreifache Menge an Bestellungen, Vormerkungen und Fernleihen getätigt wie in seinen. Ohne es anfangs zu merken, und ohne Absicht, haben wir täglich gegeneinander gearbeitet. Es stellte sich nach und nach Folgendes heraus: Ich habe während der Beratung „eben mal schnell“ eine Vormerkung oder Bestellung für die Nutzerinnen und Nutzer angelegt. Der Kollege hat sie (nach Erklärung) an den OPAC geschickt, um es selbst zu machen. Hier, bei dieser ganz alltäglichen Situation, gab es einen Konflikt, der darauf basierte, dass uns ein klar formuliertes Selbstverständnis (z.B. als Mission Statement) und Zielformulierungen gefehlt haben. Mein Selbstverständnis war: Wir sind Informationsvermittler mit Dienstleistungsanspruch und erledigen die Bestellung für die Nutzerinnen und Nutzer. Sein Selbstverständnis war: Wir sind Bildungseinrichtung mit pädagogischem Anspruch, und die Nutzerinnen und Nutzer sollen lernen, selbst eine Bestellung aufzugeben.

Mir wurden dabei zwei Dinge klar: Erstens, das, was ich Jahre zuvor mit etwas Zweifel als Theorie vermittelt hatte (Ziele und eine Mission definieren), war richtig. Es war genau das, was wir in der Praxis gebraucht hätten, um diesen Konflikt zu vermeiden. Die Theorie hat gestimmt, und die Praxis war falsch. Und zweitens: Eine implizite, theoretische Vorstellung davon, was die Bibliothek eigentlich sein soll oder will, beeinflusst bis ins Detail, wie wir unsere tägliche Arbeit gestalten – auch wenn wir uns dessen nicht immer bewusst sind. Theorien sind immer da – entweder wir wissen das und arbeiten bewusst mit ihnen, oder wir wissen es nicht – dann arbeiten die Theorien mit uns.

Theorie und Praxis

Was bedeuten die Begriffe „Theorie“ und „Praxis“ eigentlich? Hier nur eine sehr rudimentäre und grobe Begriffsklärung: Mit „Praxis“ bezeichne ich das Handeln in der Welt: Dinge schaffen, Aufgaben managen, Ziele erreichen, Maßnahmen durchführen – also alltäglich handeln, ohne zunächst unbedingt groß darüber zu reflektieren. „Theorie“ hieß ursprünglich: „sich die Welt anschauen, ohne zunächst einzugreifen, ohne handeln zu wollen. Und im weiteren Sinn heißt Theorie: über die Welt nachdenken, reflektieren. Im utilitaristischen Sinn bedeutet es auch: Erklärungen, Muster und Regeln suchen für das, was man beim Betrachten der Welt sieht. Hypothesen bilden, die womöglich Prognosen erlauben für eine Situation, die es im eigenen Alltag noch nicht gegeben hat, die „neu“ ist. Eine Theorie ist eine Erklärungsregel für die Welt. Ob eine Theorie taugt, zeigt sich (in dieser Denkrichtung) daran, ob sie die neue Situation, die Welt (auch die Praxis) befriedigend und korrekt erklären kann.

Und dann hilft die Theorie, in der neuen Situation zu handeln – und zwar schneller und effektiver, als wenn man sie nicht hätte. Stellen Sie sich vor, Sie betreten einen Ihnen unbekannten Raum. Es ist stockdunkel. Sie brauchen Licht. Was tun Sie? Ohne Theorie müssten Sie systematisch den ganzen Raum absuchen. Sie tasten aber zunächst die Wand rechts und links vom Türrahmen ab – erst innen, dann außen. Warum tun Sie das? Sie haben eine auf der Basis früherer Erfahrung gebildete Theorie, die besagt: Lichtschalter sind in Griffhöhe neben dem Eingang angebracht. Hätten Sie diese Theorie nicht, gäbe es für Sie keinerlei Anhaltspunkt, wo in diesem dunklen Raum Sie anfangen sollten zu suchen. Theorien sind immer da, und sie wirken in der Praxis. Wenn sie gut sind, helfen sie beim Bewältigen einer unbekannten Situation.

Erst eine Theorie gibt einzelnen Aktivitäten Sinn, Zusammenhang und Bedeutung. Ein 3-D-Drucker in einer Bibliothek kann ein sinnfreies Gadget sein, wenn er nicht in ein Konzept eingebunden ist, in eine Theorie, die z.B. lauten kann: Bibliotheken bieten nicht mehr nur freien Zugang zu Information, sondern auch Zugang zu neuen Informationstechnologien und ermächtigen zum aktiven Interagieren mit ihnen. Das theoretische Konzept hinter dem 3D-Drucker macht den Unterschied zwischen Aktionismus und echter Innovation.

In unserem Berufsstand herrscht heute ein Primat der Praxis. „Praxiserprobt“, „praxistauglich“ oder schlicht „praktisch“ soll Fachliteratur, sollen Fortbildungen, Vorträge, Studiengänge und die ganze bibliotheksbezogene Ausbildung sein. „Praxisorientiert“ oder nicht – das ist ein zentrales Beurteilungskriterium. Was ist mit „praxisorientiert“ gemeint? Wenn Kolleginnen und Kollegen sagen: „Das (etwas) ist nicht praxisorientiert“, dann meinen sie oft: „Das passt nicht auf meinen Arbeitsalltag, das ist nicht das, was wir in unserer Bibliothek tun.“ „Das ist nicht das, was ich kenne“. Und vor allem: „Das ist nicht das, was ich umgehend – am besten gleich morgen früh – in meiner Bibliothek einsetzen kann.“

Es dürfte mehrere Gründe für die Praxisfixierung unseres Berufsstands geben. Ich spekuliere hier; erforscht ist das alles nicht: Der jüngste Grund könnte sein, dass der Berufsstand, zumindest im WB-Bereich, in der Leitungsebene bis vor nicht allzu langer Zeit einen sehr theorie- und geschichtslastigen Bias hatte. Bis vor wenigen Jahrzehnten referierten hier auf den Bibliothekartagen viele ältere Herren über die Geschichte einzelner Hofbibliotheken und die Erschließung der Sammlung XY. Gegen dieses Primat der „Wissenschaftler“, vor allem der Historiker bedeutete die Hinwendung zu Problemen des praktischen Bibliotheksalltags auch ein Stück „practical turn“ bzw. Selbstbehauptung der jüngeren, weiblichen Fach-Community, damals nicht immer in Leitungspositionen. Dass der Berufsstand unterhalb der Leitungsebenen immer weiblich war, spielt sicher ebenfalls eine Rolle, weil Frauen das „absichtslose Kontemplieren“ der Welt nicht gerade systematisch an- sondern eher abtrainiert wird. Und letztlich ist der Primat der Praxis, des „schnell Nützlichen“, nicht nur in unserem Berufstand, sondern in allen Lebensbereichen der kapitalistischen Gesellschaften gegeben, da machen wir keine Ausnahme.

Ich will damit an dieser Stelle zunächst nicht einmal so weit gehen zu sagen, dass das Lösen von Problemen im täglichen Alltag nicht das Ziel unseres Handelns sein sollte. Ich will damit sagen, dass man durch das Reflektieren über den Alltag, durch das Suchen nach Erklärungen und Regeln, durch das Erforschen von einzelnen Aspekten dieses Alltags genauso viel zur Problemlösung beitragen kann wie dadurch, dass man jeden Tag diese Alltagsprobleme managt. Und manchmal sogar noch mehr.

Hier noch ein Beispiel dafür, wie Theorie ein praktisches Problem auflösen bzw. verwandeln kann. In einer kleineren Institutsbibliothek gab es Mitte der 1990er Jahre einen Lesesaal, der als traditioneller, „stiller“ Lesesaal ausgewiesen war. Er war vom Rest der Bibliothek abgeteilt mit verschließbarer Tür. Der Raum stand als „ruhiger“ Raum praktisch ständig leer, während in der Bibliothek darum ein täglicher Kampf zwischen Bibliothekar/inn/en und Nutzer/inne/n entbrannte um die Lautstärke, die durch die Studentengruppen entstand, die sich dort zum Arbeiten trafen. Eines Tages brachte ein neuer Leiter neue Forschungserkenntnisse ins Spiel: Die Arbeitsformen verändern sich, Studierende und Wissenschaftler/innen arbeiten stärker in Gruppen. Der Wunsch nach Kommunikation in der Bibliothek ist keine „Störung“ oder „Regelverletzung“, sondern ein berechtigtes Anliegen an einen Raum für wissenschaftliches Arbeiten. Diese neue Sichtweise ermöglichte auf einmal neue Handlungsoptionen: Der stille Lesesaal wurde in einen dezidierten Gruppenarbeitsraum umgewandelt. Tür zu – drinnen laut – draußen wieder leise. Zwei Probleme waren gelöst durch eine neue Sicht- und Denkweise, eine neue Theorie.

Das Erforschte, Reflektierte und die tägliche Praxis müssen allerdings zusammenfinden. Sonst können sie sich nicht gegenseitig befruchten. Theorie heißt nicht, dass man sich nicht für die Praxis interessiert. Im Gegenteil! Theorie heißt, „sich die Welt (also die Praxis) gut anschauen“! Für Menschen wie uns, die an Theorie (und Forschung) arbeiten, ist es essenziell, im Kontakt mit der Praxis zu bleiben, weil sie uns erkennen lässt, was aktuell relevante Probleme sind und was derzeit passiert. Deshalb ist es wichtig, dass wir Hochschulleute mit Menschen aus der Praxis zusammenarbeiten, Projekte durchführen, beraten usw. Aber sofern diese Projekte und Beratungen im Rahmen von Forschung und Lehre stattfinden und nicht darüber hinaus als konkrete Dienstleistung eingekauft werden, darf es der Sinn dieser Projekte nicht nur sein, „Bibliotheksmanagement mit anderen Mitteln“ zu machen. Die Projekte müssen auch dabei helfen, Theorien für die Praxis aufzustellen und relevante Fragen zu erforschen. Forschen und Theorien bilden und eine Bibliothek managen sind nicht dasselbe. Sie haben teilweise unterschiedliche Perspektiven, Ziele und Anliegen. Daraus entsteht eine Form von Arbeitsteilung zwischen der Hochschule und dem aktiven Leiten einer Bibliothek. Man kann darüber spekulieren, ob es gut ist, die Praxis (das Managen der Welt) und die Theorie (das Reflektieren über die Welt) arbeitsteilig zu trennen. Wahrscheinlich nicht. Aber besser, arbeitsteilig (an den Hochschulen) zu forschen als gar nicht! Und niemand sagt, dass in der täglichen, praktischen Bibliotheksarbeit nicht auch geforscht werden kann. Dazu später mehr.

Forschung und Praxis

Die einfachste und praktischste Definition von Wissenschaft, die ich kenne, kommt aus der Systemtheorie und lautet: „Wissenschaft ist, wenn man eine Meta-Ebene einzieht“. Also: wenn man nach der reinen Beschreibung der Welt (z.B. der Bibliotheksarbeit) einen Schritt zurücktritt, von ihr abstrahiert und versucht, in dem, was gerade beschrieben wurde, eine übergeordnete Regel, eine Struktur, ein Muster oder eine Gesetzmäßigkeit zu finden. Damit kommt man über das reine Beschreiben des Gegebenen hinaus und kann etwas Neues entdecken. Ich kann mir z.B. fünf institutionelle Repositorien anschauen und untersuchen, wie sie versuchen, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus ihren Einrichtungen zum Ablegen von Publikationen zu animieren. Ich kann die fünf Vorgehensweisen beschreiben. Das ist Ebene eins. Und ich kann dann versuchen, die Faktoren herauszufiltern, die erfolgreiche von nicht so erfolgreichen Repositorien unterscheiden. Das ist die Meta-Ebene, die ich über die fünf Beispiele einziehe. Forschung ist der Prozess, in dem man dies tut. Dazu gehört beides: Phänomene der Welt erfassen und beschreiben, und dann, indem man die Beispiele auswertet, die Meta-Ebene einziehen.

Wer behauptet, Forschung im eigenen Fach sei nutzlos (weil für die Praxis in der eigenen Bibliothek morgen früh nicht einsetzbar), setzt die Bedeutung seines Fachs herab und bestreitet den Wert seiner eigenen Arbeit. Wenn Sie morgen früh zu Ihrem Ihrer Hausärztin oder zu Ihrem Hausarzt gehen, hat das, was er mit Ihnen macht, Ihnen rät oder verschreibt, relativ wenig mit der aktuellen medizinischen Spitzenforschung zu tun. Die Hausärztin oder der Hausarzt um die Ecke und die Forschergruppe am Max-Planck-Institut – das sind zwei Welten. Trotzdem würden wir nie den Sinn der medizinischen Spitzenforschung in Frage stellen, weil wir sie langfristig für relevant halten. Es kann sein, dass die Forschergruppe am MPI gerade mit viel Steuergeld eine Sackgasse erforscht. Es kann aber auch sein, dass das, was dort gerade vor sich geht, in 15 oder 20 oder 50 Jahren jedem und jeder zugutekommt, der oder die diese Hausarztpraxis betritt – oder vielleicht nicht jeder und jedem, sondern nur dem einem Prozent der Menschen, die an einer seltenen Krankheit leiden. Das alles wissen wir nicht. Aber forschen müssen wir trotzdem. Und in unserem eigenen Fach, der Bibliotheks- und Informationswissenschaft, soll das nicht gelten? Da soll die Distanz zwischen den Kita-Führungen in einer Stadtbibliothek und dem Testen eines neuen Retrievalsystems das eine oder andere überflüssig machen? Oder der ethnologischen Erforschung von Nutzerverhalten der Sinn fehlen, weil sie nicht bei der bevorstehenden Systemmigration des Erwerbungsmoduls hilft? Nein, das wäre kurzsichtig!

Wenn ich sage, wir brauchen Forschung, die sich nicht am Gegebenen und Notwendigen orientiert – besteht da nicht die Gefahr, dass die Wissenschaft um sich selber kreist und „abdreht“? Das kann nicht passieren, sofern wir Theorie im ursprünglichen Sinne machen: „Die Welt anschauen, ohne einzugreifen“ – denn das bedeutet, sehr nahe an den aktuellen Entwicklungen zu bleiben. Gerade bei Studierenden ist der Wunsch, mit ihrer Master- oder Bachelorarbeit für die reale Arbeitswelt nützlich und relevant zu sein, sehr ausgeprägt. Wenn man „kurzfristig nützlich“ durch „langfristig relevant“ ersetzt, dann gewinnt man einen neuen Blick auf den Nutzen von Forschungsprojekten.

Im Übrigen ist die Trennung zwischen hier „Praxis = Bibliothek“ und dort „Forschung = Hochschule“ ziemlich haltlos und führt nur zu falschen Stereotypen. Wir sitzen in Bezug auf den praktischen Alltag alle im selben Boot. Die Tätigkeit an einer Hochschule sieht heute z.B. so aus: Lehre vorbereiten. Beratungsgespräche führen. Einen Dienstplan machen. 75 Klausuren korrigieren. Das WLAN im Seminarraum einrichten. Kontrollieren, ob der Putzdienst die Toiletten gereinigt hat. Ein kaputtes Mikrofon nachbestellen. Das Protokoll des Institutsrats lesen. Und dann Forschen: oft eine extrem praktische Angelegenheit. Haben Sie schon einmal eine Besucherbefragung in einer Bibliothek durchgeführt? Wenn die Forschungsfrage steht und die Methodik entwickelt ist, umfasst das z.B.: einen Einsatzplan für 20 Befragende, einen Zeitplan für die Datenerfassung, Auswahl der richtigen Software, Erstellen von Infomaterial und gedruckten Fragebögen, Einwerben von Sponsoring und Incentives, Projektmanagement, Gestaltung und Redaktion des Forschungsberichts – alles durchaus vergleichbar mit der Einführung einer neuen Software oder der Durchführung eines Sommerleseclubs. Forschen und Lehren erfordern ausgeprägte Management- und praktische Organisationskompetenz. Es ist nur eine andere Praxis als in der Bibliothek. Auch an den Hochschulen muss man sich „absichtslose Kontemplation“ viel härter erkämpfen, als es gut ist. Was Hochschulpraxis und Bibliothekspraxis vereint, ist das Interesse an denselben Themen und Inhalten. Hier können sie gemeinsam Neues schaffen. Dafür stehen der Forschung eine Vielzahl von Methoden und Instrumenten zur Verfügung.

Best Practice

Eigentlich gibt es im bibliothekarischen Fachdiskurs zurzeit aber nur eine Methode, die sich wirklich durchgesetzt hat – das ist die sogenannte „Best Practice“. Best Practice heißt: Man beschreibt ein gut gelungenes Beispiel für ein Aktivität, Serviceleistung oder neue Entwicklung, sodass andere daraus etwas lernen können. Aus dem Prinzip der „Best Practice“ heraus entsteht eine große Menge an Praxis- und Arbeitsberichten, die die Vorträge auf dem Bibliothekartag und die Beiträge in Fachzeitschriften dominieren. Nichts gegen Best Practice – um sich einem neuen Arbeitsfeld im ersten Schritt zu nähern, ist dies eine sehr gute Methode. Ich habe oft davon profitiert und sie oft selbst genutzt. Aber sie hat zwei Nachteile.

Erstens: Best Practice kann nur beschreiben, was es schon gibt. Sie kann nichts beschreiben, was visionär, konzeptionell oder noch nicht umgesetzt ist. Das Potenzial, Neues in die Bibliothek zu bringen, ist bei Best Practice sehr begrenzt. Innovationspotenzial gibt es vor allem, wenn Best Practice von möglichst fernliegenden Beispielen genutzt wird, z.B. aus anderen Ländern oder anderen Bibliothekssparten oder gar anderen Bereichen wie Museen, Schulen oder Online-Diensten. In diesem Fall tritt dann aber fast automatisch das zweite Problem auf.

Zweitens: Ein Arbeitsbericht beschreibt immer eine konkrete, von bestimmten Rahmenbedingungen geprägte Situation. Das führt dazu, dass Bibliothek A von dem Projekt in Bibliothek B nicht mehr profitieren kann, wenn die Rahmensituation in A nur einigermaßen anders ist als in B. Der Nutzen ist dann also begrenzt, wenn man nicht aus den Beispielen noch eine Theorie entwickelt und das heißt ganz einfach: wenn man nicht nach der Beschreibung der Vorgänge („Dann haben wir das gemacht, dann haben wir das gemacht.“) noch auf allgemeinere Erkenntnisse und Muster aus dem Projekt abstrahiert – also „eine Meta-Ebene einziehen“. Leider fehlt dieser Schritt bei sehr vielen Projektberichten. So etwas ist zwar eine klassische Forschungsaufgabe, aber niemand sagt, dass Praktikerinnen und Praktiker dies nicht auch tun dürfen – und können! Den Schritt zurück, die Distanz vom eigenen Projekt, die Betrachtung und Erklärung dessen, was da gerade in der Praxis passiert, was gerade im Best-Practice-Bericht beschrieben wurde – das kann jede und jeder machen. Es hilft, wenn man dabei aktuelle Fach- und Theoriediskussionen kennt, denn dann braucht man nicht alle Erklärungen alleine zu entwickeln, sondern kann dort ggf. „andocken“.

Wie nützlich und praxisbezogen darf und kann gute Forschung sein? Wenn etwas Neues entstehen soll, dann darf das Neue am Anfang gar nicht praktisch sein. Es ist für echte Innovation nicht förderlich, Ideen, Konzepte, Fortbildungsinhalte – oder auch Bewerberinnen und Bewerber für eine Stelle – nur daran auszurichten, ob sie zur bestehenden Praxis passen und ob man sie „morgen früh“ in der eigenen Bibliothek einsetzen kann. Es führt dazu, dass man nur das mitnimmt, was zur bestehenden Praxis passt und sie verstärkt, anstatt sie weiterzuentwickeln.

Dieser Hang zum Ähnlichen zieht sich durch alle Bereiche. Wie wählen Sie z.B. Ihr Programm beim Bibliothekartag aus? Wahrscheinlich wie ich bis vor einiger Zeit: Ich ging in die Veranstaltungen, die mit den Themen zu tun hatten, mit denen ich mich in meinem Arbeitsalltag auseinandersetzen musste. Das ging lange Jahre so. Bis ich gemerkt habe, dass diese Strategie für den Input von neuen Ideen und Anschauungen eigentlich völlig kontraproduktiv ist. Denn sie führte dazu, dass ich über zwei der vier Vorträge einer „relevanten“ Session bereits Bescheid wusste, und von den anderen beiden vielleicht ein Drittel neu für mich war. Wirklich Neues, wirklich neue Ansätze und ggf. eine Idee, die ich für meine Arbeit (heute oder erst in zwei Jahren) brauchen kann, bekomme ich nur, wenn ich in Sessions gehe zu Themen, von denen ich keine Ahnung habe, bei denen ich vielleicht nicht einmal verstehe, warum man dazu überhaupt eine Bibliothekartagssession braucht. Hier ist der Netto-Wissens- und ggf. auch Innovationsgewinn viel höher. Deshalb mein Appell: Gehen Sie zu mindestens einer Session, die nichts, aber auch gar nichts, mit dem zu tun hat, was Sie gerade zu Hause tun! Nur so erweitern Sie Ihren Horizont.

Der Hang zum Ähnlichen, Praktischen, führt dazu, dass sinnvolle Innovation nicht wahrgenommen wird, weil sie nicht zum eigenen unmittelbaren Arbeitsalltag passt. Im Bibliothekswesen – ein und demselben Fachgebiet! – ist es manchmal sogar so, dass schon die Themen aus der anderen Bibliothekssparte („das ist doch ÖB“ – „das ist doch WB“) als zu fern von der eigenen Praxis ignoriert werden. Dabei gehen wertvolle Innovationsanstöße verloren. Z.B. gibt es im Bereich der öffentlichen Bibliotheken seit vielen Jahren Überlegungen zur interkulturellen Bibliotheksarbeit, die von wissenschaftlichen Bibliotheken (die teilweise einen Anteil von ausländischen Wissenschaftler/inne/n und Studierenden von bis zu 80 % versorgen) meines Wissens bis vor kurzer Zeit komplett unbeachtet geblieben sind. Während umgekehrt die öffentlichen Bibliotheken z.B. relevante Entwicklungen im Bereich von E-Medien bis vor kurzer Zeit gänzlich ausgeblendet haben.

Das geht weiter bei den Anforderungen an die Ausbildung. Muss die Absolventin oder der Absolvent wirklich genau das vor Ort eingesetzte Bibliothekssystem kennen – oder ist die Kenntnis eines anderen Systems (oder sogar abstrakt: von Kriterien für die Usability) nicht vielleicht genauso nützlich, weil sie Schwachstellen erkennt, die im Haus gar nicht (mehr) wahrgenommen werden? Muss der Bewerber oder die Bewerberin wirklich Erfahrungen mit der Organisation eines Sommerleseclubs haben – oder ist vielleicht das Wissen, wie Leseförderungsmaßnahmen wirken, nützlicher, um ein neues Veranstaltungsformat zu konzipieren? Der Vorwurf „die Studierenden werden nicht für die Praxis ausgebildet“ bedeutet leider oft nur: „Die Studierenden können nicht genau das, was wir hier auch können oder brauchen.“

Wir brauchen Theorie, sonst ersticken wir irgendwann in der Praxis! Und wir brauchen Forschung, die sich nicht (nur) am derzeit Notwendigen und Nützlichen orientiert, sondern die wirklich neue Ideen und Entwicklungen erforscht. Die Frage: „Was ist nützliche, was ,esoterische‘ Wissenschaft?“ stellt sich unter diesem Blickwinkel ganz anders. Innovationspotenzial hat die Forschung, die eben nicht möglichst nahe an aktuellen Problemen bleibt, sondern zunächst einmal „absichtslos“ Dinge ausprobiert und ihnen nachforscht. „Man muss das Unmögliche versuchen, um das Mögliche zu schaffen (Hermann Hesse)“ stand an der Wand der Bibliothek, in der ich gearbeitet habe. Man muss auch mal das (unmittelbar) Nutzlose oder eine Sache ohne hundertprozentige Erfolgsgarantie versuchen, um an echte Innovationen für die Praxis zu kommen. Mein Lieblingsbeispiel ist die Bayerische Staatsbibliothek, die mit ihrer Präsenz in Second Life Mitte der 2000er-Jahre erstmals die Präsenz der Bibliotheken in neuen, virtuellen Lebensräumen ausgetestet hat. Second Life spielt heute überhaupt keine Rolle mehr, und das Geld für den „Second Life“-Auftritt ist versenkt. Ist das schlimm? Nein! Im Gegenteil: Die Idee und der Mut zum Ausprobieren waren es auf jeden Fall wert. Das kann passieren, wenn man wirklich etwas Neues versucht. Da ist dann eben auch mal eine Sackgasse dabei. Aus der lernt man auch.

Bis vor vielleicht 50 Jahren galt die Praxis in unserem Fach nicht viel im Vergleich zur theoretischen Wissenschaft. Dagegen gab es eine Gegenbewegung, und das war gut so. Die Räume und Zeitfenster für „zweckfreie Kontemplation“ sind aber mittlerweile so klein geworden, dass man sich um die Wiederkehr einer Theorie-Hegemonie im Bibliothekswesen wirklich keine Sorgen zu machen braucht. Jetzt dürfen wir nicht denselben Fehler umgekehrt wieder machen und der Praxis ein eindeutiges Primat über Theorie und Wissenschaft einräumen. Beides muss sich ergänzen! Ob an der Hochschule oder in der Bibliothek. Und wenn’s dann eben in Arbeitsteilung sein muss zwischen Bibliotheksmanagement und Bibliotheksforschung, zwischen Beschreibung und Meta-Ebene, zwischen Reflexion und Handeln: dann müssen wir eben sehen, wie wir das Aufgeteilte wieder zusammenbringen, sodass wirklich etwas Neues in die Welt kommt.

Fußnoten

1 Dieser Beitrag ist als persönliche Meinungsäußerung und nicht als wissenschaftliches Paper zu verstehen. Biographische Referenzen, persönliche Perspektive und der Duktus des gesprochenen Wortes wurden absichtlich beibehalten.