Themenschwerpunkt „Berufsbild wissenschaftliche/r Bibliothekar/in“

How to survive – Fachreferat in der funktionalen Einschichtigkeit oder die Form ist nur ein Teil des Ganzen

Claudia Martin-Konle, Universitätsbibliothek Gießen

Zusammenfassung:

Die Ablösung des zweischichtigen Bibliothekssystems hin zur funktionalen Einschichtigkeit führte in der Universitätsbibliothek Gießen auch zu einer Aktivierung des Fachreferates. Während die Erwerbung seit 2002 durch das exklusive Vorschlagsrecht der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geprägt ist und die Sacherschließung inklusive Aufstellungssystematik immer stärker fremddatenorientiert erfolgt, ist das Fachreferat im Bereich der Informationskompetenz-Angebote äußerst präsent. Die administrativen Gegebenheiten haben in Gießen die notwendigen Umstrukturierungen im „klassischen“ Fachreferat befördert. Aber freiwerdende Kapazitäten werden zukünftig bevorzugt projektbezogen in die Entwicklung von innovativen Dienstleistungen einfließen müssen.

Summary:

The transformation of the two-track library system into functional one-track at Giessen university library also had activating effects on the subject librarians. While the acquisition has been dominated by the scientists since 2002 and subject indexing is more and more often done by using external data, today the subject librarians are highly engaged in workshops and lessons regarding information literacy. The administrative conditions have promoted the necessary restructuring within this staff group. Freed-up capacities should be used in projects developing innovative services in the future.

Zitierfähiger Link (DOI): http://dx.doi.org/10.5282/o-bib/2015H3S4-7

Autorenidentifikation: Martin-Konle, Claudia: GND 1060214571

Das Gießener Modell der funktionalen Einschichtigkeit des universitären Bibliothekssystems – initiiert durch die Novellierung des Hessischen Hochschulgesetzes im Jahr 2000 – ist seit 13 Jahren Realität und wurde innerhalb der Justus-Liebig-Universität nach vorangegangener heftiger Diskussion überraschend rasch akzeptiert. In der bibliothekarischen Fachwelt hingegen ist nach wie vor der Passus zur Erwerbungskompetenz in der Gießener Bibliotheksordnung1, der ebenjene den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zuschreibt, eine Diskussion wert, stürzte er doch eine der drei Säulen des Fachreferats – Erwerbung, Erschließung, Vermittlung – nach 400 Jahren traditionsreicher Kultivierung nahezu beiläufig um. Dennoch führte dies bislang nicht zum Aussterben der Fachreferentinnen und Fachreferenten in Mittelhessen.

Zur Ausgangslage in 2002: Die administrative Reorganisation bestand in der Konzentration der zentralen Ressourcen (Budget, Personal, Räume) unter der Leitung der Direktion der Universitätsbibliothek.2 Es folgte die organisatorische und, soweit möglich, auch räumliche Integration der Standorte in Zweig- und Fachbibliotheken: 32% der dezentralen Bibliotheksstandorte wurden aufgelöst, 520.000 Bände integriert. Aktuell sind 3,7 Mio. Bände an 80 Standorten verzeichnet; aber 90% der Bestände befinden sind an neun Standorten konzentriert. 62 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf 40 Planstellen wurden in den Personalbestand der Universitätsbibliothek integriert, das Fachreferentenkollegium erweiterte sich um 4,5 Stellen.

Erwerbung

Der Alltag in den Fachreferaten – 59 Fachreferate werden von 12 Fachreferentinnen und -referenten betreut – ist stark geprägt von der aktuellen Studierendensituation und den Ansprüchen an die Versorgung mit Lehr- und Studienliteratur und weniger stark durch die speziellen Bedarfe der Forschung. Die Erwerbungskompetenz liegt de facto bei der Wissenschaft und wird zufriedenstellend wahrgenommen. Begleitend und ergänzend wird durch das Fachreferat erworben – beispielsweise Studienliteratur in Mehrfachexemplaren oder Literatur zur Versorgung der Region. Handlungsfähigkeit gewährleistet die Budgetstruktur, die neben zentralen Budgets für elektronische Fachinformation auch Mittel für allgemeinwissenschaftliche Literatur vorsieht. Die regulären Literaturmittel werden jährlich zentral dem Bibliothekssystem zugewiesen und zunächst nach Lehreinheiten weiterverteilt. Die Lehreinheiten wählen ihrerseits eine Struktur zur Unterverteilung. So erhält z.B. jede Professur ein Literaturbudget, daneben gibt es ein gemeinsames Zeitschriftenbudget. Vereinbart wird in der Regel ein Fachreferatsbudget, das auch durch Vorschläge der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verausgabt werden kann. Außerhalb der regulären jährlichen Zuweisung eingehende Mittel für beispielsweise Studienliteratur liegen ebenso in der Verantwortung des Fachreferates. Die Verständigung über die Budgetstruktur und die Budgetkontrolle sind Aufgabe des Fachreferates. Sie bedingen eine enge Zusammenarbeit mit der/dem Bibliotheksbeauftragten der Lehreinheit. Mit dieser Person aus der Professorenschaft oder dem akademischen Mittelbau ist eine ständige Kommunikation erforderlich. Neben der jährlichen Budgetdiskussion sind etwa neue Anforderungen an die Literaturversorgung, Lizenzierungswünsche und Schulungsangebote zu besprechen. Im Idealfall ist das Fachreferat bezüglich Erwerbungsentscheidungen nahezu entlastet. Die Professuren wählen die aktuell benötigte Literatur für Forschung und Lehre aus, zur Sacherschließung kommen die Neuerwerbungen ins Fachreferat. Dort kann strikt am Bedarf orientiert ggf. nachjustiert werden. Instrumente wie Patron-Driven-Acquisition unterstützen zusätzlich die Bedarfsausrichtung.

Erschließung

Auch diese zweite Säule des klassischen Fachreferats ist kaum mehr tragend. Verbale Sacherschließung mittels RSWK wird noch für ausländische Publikationen geleistet, denen keine Schlagwörter mitgegeben sind. Neuansetzungen von Schlagwörtern werden in sehr seltenen Ausnahmefällen gemacht, die Sacherschließung bei retrospektiven Erfassungen entfällt in der Regel. Die Umstellung auf RVK für die Freihandbestände von UB und drei Zweigbibliotheken entlastet das Fachreferat zusätzlich. Durch die Fremddatenorientierung und -übernahme ist die Aufstellungssystematik nicht mehr nur vom Fachreferat allein zu bedienen. Wenngleich aufgrund der Befürchtung, den Bestand sonst aus den Augen zu verlieren, die bisherige Praxis „alles Neue übers Fachreferat“ noch beibehalten wird.

Vermittlung

Alle freigewordenen Kapazitäten des Fachreferates, wenn sie nicht durch Querschnittsaufgaben oder Projekte gebunden wurden, haben diese dritte Säule verstärkt. Die Reorganisation hat zu einer Mobilisierung des Fachreferates geführt. Die Beteiligung des höheren Dienstes an den Angeboten bezüglich Informationskompetenz (IK) ist überdurchschnittlich hoch: In 73% der Schulungen war 2013 das Fachreferat beteiligt. Das Fachreferat übernimmt eine aktive Rolle in der Kommunikation mit Tutoren, Mentoren, der Dozentenschaft und den Studierenden. Curriculare Verankerungen und ähnlich verbindliche Vereinbarungen mit vielen Lehreinheiten gehen auf dieses Engagement zurück. Der IK-Bereich wird zukünftig durch die virtuellen Angebote das Fachreferat weniger stark als bislang in Anspruch nehmen. Was auf jeden Fall bleibt, ist die konzeptuelle Verantwortung für IK-Angebote, die ständige inhaltliche und didaktische Weiterentwicklung und die individuelle Beratung auch über die bislang klassischen Dienstleistungen einer Bibliothek hinaus.

Und was sonst noch so ist

Der Reorganisationsprozess hat dem höheren Dienst teilweise eine nicht geahnte Aufgabenvielfalt beschert. Die Standortleitungen sind mit Fachreferentinnen und -referenten besetzt, die meist mehrere Fachreferate betreuen. Ein nicht immer zufriedenstellendes Multitasking prägt vielfach den Alltag eines ressourcenintensiven Standortmanagements.

Die Planungen zu weiteren räumlichen Konzentrationen sind auch aus Sicht der Fachreferate zu begrüßen. So wird die größte Zweigbibliothek ihren Standort aufgeben und in den geplanten Erweiterungsbau der UB integriert werden. Die Verantwortung für ein zweigeschossiges, sanierungsbedürftiges Gebäude und die infrastrukturelle Versorgung eines großen Außenpostens wird dadurch entfallen.

Und was sonst noch wird

Das Fachreferat im klassischen Sinn ist längst nicht mehr zukunftsfähig und die administrativen Gegebenheiten in Gießen haben eher beiläufig diesen Veränderungsprozess befördert. Innerhalb des Rahmens „funktionale Einschichtigkeit“ und durch die zunehmende Rationalisierung wird das Fachreferat weiter Gestaltungsspielraum gewinnen, der sich für Projekte und die Entwicklung von innovativen Dienstleistungen nutzen lässt. Parallel dazu ist die Umstrukturierung des höheren Dienstes längst Realität. Die digitale Revolution erfordert in den wissenschaftlichen Bibliotheken den Aufbau von spezieller IT-Kompetenz. Die Umwidmung von Fachreferatsstellen in IT-Stellen ist vielerorts die Folge, auch in Gießen. Die Gruppe der Fachreferentinnen und -referenten innerhalb des höheren Dienstes wird sich voraussichtlich weiter verkleinern, sie wird zukünftig jedoch stärker „Ideengeber, Netzwerker, Antragschreiber, Projektmanager“3 sein müssen. Der Legitimationsdruck scheint dieser Berufsgruppe immanent.

Literaturverzeichnis:

Fußnoten

1 In der „Ordnung für das Bibliothekssystem der Justus-Liebig-Universität Gießen vom 20. Februar 2002“ ist in §11 Abs. 1 festgehalten, dass die Erwerbung „nach den Vorschlägen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler“ erfolgt. https://www.uni-giessen.de/ub/ueber-uns/files/Ordnung%20Bibsys%20Staatsanzeiger (04.09.2015). In der jetzt gültigen Bibliotheksordnung vom 17.06.2015 in §10 ist dieser Passus erweitert und bildet die gängige Praxis ab: „Die Erwerbungen erfolgen nach den Vorschlägen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler oder der Fachreferentinnen und Fachreferenten der Universitätsbibliothek“. http://www.uni-giessen.de/cms/mug/2/pdf/2_70_00_1_BibOrd (04.09.2015).

2 Vgl. Reuter, Peter: Strategische Planung der funktionalen Einschichtigkeit. In: Konstanze Söllner, Wilfried Sühl-Strohmenger (Hg.): Handbuch Hochschulbibliothekssysteme, Berlin/Boston: de Gruyter Saur, 2014, S. 290-298.

3 Klein, Annette: Selbstorganisation, Eigenverantwortung, Organisationsentwicklung. Zur Rolle der Wissenschaftlichen Bibliothekare an der UB Mannheim. In: Irmgard Siebert, Thorsten Lemanski (Hg.): Bibliothekare zwischen Verwaltung und Wissenschaft, Frankfurt am Main: Klostermann, 2014, S.155, (ZfBB Sonderband 111).